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# taz.de -- Rechtsruck, Braindrain, Frust: Italien kann zur Hölle fahren
> Wie viele seiner akademisch gebildeten Landsleute hat unser Autor sein
> Heimatland verlassen. Was nun dort vorgeht, macht ihn fassungslos.
Bild: In Pisa darf man nicht mehr rumlungern. Hier regieren jetzt die Rechtsext…
Zwischen 2011 und 2014 habe ich für deutsche Medien über italienische
Politik berichtet. Es war eine aufregende Zeit: Ich schrieb über
Berlusconis Abgang, Montis Sparpolitik und den Aufstieg der
Fünf-Sterne-Bewegung.
Als Italiener, der erst vor Kurzem nach Deutschland übergesiedelt war,
versuchte ich so gut wie möglich den deutschen Lesern zu erklären, dass
hinter der wirtschaftlichen und politischen Krise viel mehr als die
sagenhafte Leichtsinnigkeit von Bella Italia steckte. Ich versuchte zu
erklären, dass die „vita“ in Italien seit Langem nicht mehr so „dolce“…
und dass nach fünf Jahren dauerhafter Wirtschafts- und Beschäftigungskrise
meine Mitbürger – genauso wie ich – frustriert und verzweifelt waren.
Obwohl ich seitdem nur selten über Italien schrieb, verfolgte ich weiterhin
die Entwicklungen südlich der Alpen – in den Medien und in Gesprächen mit
italienischen Kollegen. Und kann jetzt mit absoluter Sicherheit sagen: Ich
will meine Landsleute nicht mehr in Schutz nehmen – nicht wenn die Mehrheit
von ihnen eine unmenschliche und verantwortungslose Politik befürwortet.
Und ich würde nicht mit der Wimper zucken, wenn sie aus dem Euroraum oder
gar aus der EU fliegen würden. Denn es wäre ihre eigene Schuld.
Selbst zum Höhepunkt der Krise, als die [1][Arbeitslosigkeit über 13
Prozent lag], hatte ich das Gefühl, dass es Grundlagen gab, die nie infrage
stehen würden: eine verbreitete Weltoffenheit und Solidarität, eine
weitgehend wachsame und politisch aktive Zivilgesellschaft und eine gesunde
(Selbst-)Ironie.
## Fremd im eigenen Land
Als ich vor wenigen Tagen meine Heimatstadt Carrara im Norden der Toskana
besuchte – zum ersten Mal seitdem die Regierung aus Lega und
Fünf-Sterne-Bewegung an der Macht ist –, fühlte ich mich zum ersten Mal als
Fremder im eigenen Land. Im Café des Flughafens Pisa hörte ich zufällig,
wie ein Kellner sich im Gespräch mit einem Polizisten darüber beschwerte,
dass „die da“ jetzt sogar vor dem Flughafen ihren Unfug treiben. Eine
ältere Dame mischte sich ein: „Wen meinen Sie, die N****?“ Na klar – sag…
der Kellner – wen sonst? Und deutete zum Eingang hin, wo ein Paar
dunkelhäutiger Touristen mit ihren Trolleys standen.
Ein Zufall, denke ich. Um mich aufzumuntern, will ich im Zentrum von Pisa
ein Stück Pizza im Schatten der Bäume vor der Jura-Fakultät essen – wie ich
es schon tausendmal als Student gemacht habe. Ich habe es mir gerade
gemütlich gemacht, als ein junger Student, der aus der Fakultät kommt, mich
mit finsterer Miene auf ein Schild aufmerksam macht: „Es ist strengstens
untersagt, sich auf den Boden zu setzen und im öffentlichen Raum Nahrung
oder Getränke zu verzehren.“ Diese Stadt, in der seit den 1970ern fast alle
Bürgermeister aus den Reihen der Kommunisten kamen, [2][wird jetzt von Lega
und den rechtsextremen „Brüder Italiens“ regiert]. Und das merkt man.
Im Zug nach Carrara spricht mich ein älterer Mann an, der Die Zeit in
meinem Gepäck gesehen hat: „Tedesco?“, fragt er. Nein, antworte ich. „Ah!
Du bist also einer von denen?“ Er meint die „cervelli in fuga“, die
„Gehirne auf der Flucht“. Ja, sage ich. Dann solle ich bitte Merkel
ausrichten, dass jetzt Schluss damit ist, die Italiener zu schikanieren.
Das „Volk“ hat sein Schicksal in die Hand genommen, und „die da“ in Br�…
und Berlin sollen aufhören, uns rumzukommandieren, kapiert? Ich zucke mit
den Achseln: Ich kann gerne die Botschaft übermitteln, aber ich befürchte,
dass Merkel gerade andere Gedanken hat.
## Zwei unterschiedliche Italien-Realitäten
Carrara ist die Wiege des italienischen Anarchismus. Hier lernte man als
Kind solche Lieder wie „Nostra patria mondo intero“ – „Unsere Heimat ist
die ganze Welt“. Und trotzdem fühle ich mich auch hier heimatlos. In den
Bars und in den Cafés sitzen meine Freunde und Bekannte in klar getrennten
Gruppen: Die einen feiern die „Regierung der Veränderung“ und die anderen
beobachten die Party am Nachbartisch schweigend und kopfschüttelnd. Früher
waren sie alle zusammen auf Demos und politischen Veranstaltungen. Jetzt
sitzen sie in einem Raum und sehen vor sich zwei unterschiedlichen
Realitäten: In der einen ist Italien auf dem Weg nach oben. In der anderen
steuert es auf einen Abgrund zu.
Es gibt einen Ort in Carrara, zu dem ich immer gerne gehe, wenn ich nicht
mehr weiterweiß: die Wohnung meines Freundes Dario. Dario ist ein
rothaariger Koloss – ein Erbe der Kelten, die die Römer aus dieser Gegend
nie vertreiben konnten. Er ist 45, hat einen Master in Philosophie und
wohnt im Kellergeschoss seiner Eltern. Vor vielen Jahren hat er
beschlossen, lieber ein hungernder Künstler als ein verbitterter
Mindestlöhner zu sein. Seitdem ist seine schlecht beleuchtete Wohnung eine
stets mutierende Installation aus Büchern, Leinwänden, Modellen und
Musikinstrumenten in prekärer Balance.
## Rassistische Übergriffe
An der einen Wand hängt neuerdings ein großes Bild mit verschiedenen Fotos
von italienischen Prominenten – ich erkenne den Philosophen Antonio
Gramsci, den Regisseur und Buchautor Pier Paolo Pasolini, die
Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda, die Fußballlegende Dino Zoff.
Alle haben einen schwarzen Balken über den Augen, als wären sie Kriminelle
– oder blind.
Dario schenkt mir Kaffee aus einer nahezu schwarzen Kaffeemaschine ein. Wir
sitzen an einem kleinen wackeligen Holztisch voller überfüllter
Aschenbecher. Ich rede seit einer halben Stunde ununterbrochen – über die
Giftkampagne gegen die NGOs im Mittelmeer, über die vielen rassistischen
Übergriffe, über das geplante Gesetz gegen regierungskritische Medien, über
die fantasievolle Haushaltsplanung und die bevorstehenden Sanktionen der
EU. Dario nippt an seinem Kaffee und hält den Tisch, wenn er zu doll unter
der Wucht meiner Aufregung wackelt. Am Ende sage ich, dass es mir überhaupt
nicht leidtut, wenn Italien arm und isoliert ins Chaos stürzt.
An dieser Stelle reckt Dario seinen massiven Körper auf und sagt: „Komm,
ich zeige dir was.“ Er dirigiert mich zum großen Bild mit den Fotos und
stellt mich vor das letzte. Jetzt merke ich, dass es eine reflektierende
Fläche mit einem schwarzen Balken in der Mitte ist. „Jedes Jahr wandern
etwa 100.000 junge Leute aus Italien aus – etwa ein Drittel von ihnen haben
einen akademischen Titel“, sagt Dario. „Stell dir vor, die Fachleute eines
Unternehmens würden einer nach dem anderen gehen. Wie lange denkst du, dass
die Firma überleben würde?“
## Was hätte ich tun sollen? In Carrara bleiben?
Jetzt verstehe ich: Wo war ich, als 2012 mehr als eine Million Arbeiter
entlassen wurden? Wo war ich, als 2013 fast 50 Firmen am Tag insolvent
wurden? Wo war ich, als der aktuelle Innenminister Matteo Salvini in
Talkshows und Unterhaltungssendungen die Schuld für die Krise den
Zuwanderern zuschob? Wo war ich, als Presse und Politik aller Couleur
anfingen, Seenotretter zu kriminalisieren? Und wo werde ich sein, wenn die
aktuelle Regierung tatsächlich das Land ins Abseits manövriert? Wünsche ich
mir wirklich, dass meine Freunde und Familie in einer
nationalpopulistischen Dystopie leben?
Während ich mein Spiegelbild neben den anderen Fotos betrachte, wächst in
mir eine dumpfe Wut. Was hätte ich tun sollen? In Carrara bleiben? Die
Leute in den Bars und Cafés ansprechen und davon überzeugen, dass das Land
entgegen der Meinung der Populisten, dass Italien mehr Europa und mehr
Zuwanderung braucht, um die Krise zu überwinden?
„Als Arbeitsloser hätte ich Zeit dafür gehabt“, sage ich und rede mich in
Rage. Dario antwortet einsilbig. Am Ende lege ich eine Ein-Euro-Münze auf
den Tisch und sage: „Hier, für den Kaffee.“ Ich hätte erwartet, dass Dario
das Geld ablehnen würde. Stattdessen nimmt er die Münze, studiert sie mit
fachmännischer Aufmerksamkeit. „Ja“, sagt er, „das ist genau richtig.“…
steckt sie unter das Bein des Tisches.
Jetzt wackelt er nicht mehr.
2 Jan 2019
## LINKS
[1] /Kommentar-Haushaltsstreit-Italien/EU/!5540647
[2] /Kommentar-Rechtsruck-in-Italien/!5512581
## AUTOREN
Fabio Ghelli
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