Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Pasolini in der Deutschen Oper Berlin: Der wahre Kern der Seele
> Ein Abgesang auf die Bourgeoisie: Komponist Giorgio Battistelli und das
> Regiekollektiv Dead Centre bringen Pasolinis Film „Teorema“ auf die
> Bühne.
Bild: Das bürgerliche Anwesen wird in „Teorema“ zur Guckkastenbühne
Am Anfang steht ein Experiment. Fünf Wissenschaftler in weißen
Schutzanzügen betrachten riesige Kameraaufnahmen ihrer Versuchsobjekte:
Eine wohlhabende Familie, bestehend aus Vater Paolo, Mutter Lucia, Tochter
Odetta, Sohn Pietro und der Hausangestellten Emilia. Die Arbeitshypothese:
„The soul of man has been replaced by conscience.“
Diese Worte flimmern zur Premiere von „Teorema“ als Videoprojektion über
einen durchsichtigen Gazevorhang. Sie sind ebenso rätselhaft wie [1][Pier
Paolo Pasolinis] gleichnamiger Film von 1968 über den Verfall einer
bürgerlichen Familie. Komponist Giorgio Battistelli und das
britisch-irische Regiekollektiv Dead Centre haben den Stoff für die
Opernbühne bearbeitet und am Freitag an der Deutschen Oper in Berlin
uraufgeführt.
Battistelli und die Regisseure Ben Kidd und Bush Moukarzel untersuchen
gemeinsam, was von einem Menschen übrig bleibt, wenn man ihn seiner
Rollenzuschreibungen entledigt. Katalysator des Versuchs ist ein
geheimnisvoller Gast, der die geordneten Verhältnisse des Hauses auf den
Kopf stellt. Nacheinander erliegen alle Familienmitglieder der sexuellen
Anziehungskraft des schönen Fremden. Sexuell befreit, aber identitär
verwirrt, können sie ihre bisherigen Rollen nicht mehr erfüllen und lassen
ihr altes Leben hinter sich.
Den Prozess der Selbstwerdung zeichnet die Inszenierung durch einen
wirkungsvollen Kunstgriff nach: Bis zur Ankunft des Gastes ist die Familie
sprachlos. Wortlos bewegen sich fünf Schauspieler durch Garten, Wohn-,
Schlafzimmer und Küche, die wie kleine Guckkästen aus der Leinwand
herausragen (Bühne: Nina Wetzel). Erst nach der schicksalhaften Begegnung
mit dem fremden Liebhaber finden die Akteure ihre Stimme wieder.
## Den Fesseln der Konvention entkommen
Zu den Klängen einer sphärischen Himmelsmusik aus Geige und Glockenspiel
legen die Forscher, die bisher stellvertretend für die Familienmitglieder
vom Bühnenrand aus gesungen haben, ihre weißen Anzüge ab und schlüpfen in
die Rollen von Emilia, Lucia, Odetta, Pietro und Paolo. So werden aus
vormals stummen Darstellern singende Protagonisten, die endlich miteinander
sprechen – wenn auch nur über Banales wie: „Emilia, hast du das Maßband?�…
„Ja, natürlich!“ Laut verstärkte Atemgeräusche machen klar: Wir leben.
Der Orchesterklang wird dichter und rhythmischer: Während im ersten Teil
die gedämpften Liegetöne statisch wirkender Klangflächen innere Leere
offenbaren, illustrieren nun drängende Crescendi die neu gefundene
Lebendigkeit der einst blutleeren Philister. Souverän und farbenreich
wechselt das Sängerensemble zwischen gesprochenem Wort und deklamatorischem
Gesang hin und her. Es ist eine hübsche Ironie, dass die Charaktere
ausgerechnet durch das höchst bürgerliche Ausdrucksmittel des Operngesangs
den Fesseln der Konvention entkommen.
Wie die Frage nach dem authentischen Ich zieht sich das Spiel mit der
Grenze zwischen Fiktion und Realität als roter Faden durch den Abend. Durch
die parallele Vergrößerung des Bühnengeschehens mit Live-Kamera und die
doppelten Darsteller muss sich das Publikum fragen: „Was ist eigentlich
echt?“
Auch die Videoprojektionen von Sébastian Dupouey greifen surreale Elemente
auf: Mit einem Mal fangen die psychedelisch anmutenden 70ies-Muster auf der
Tapete an zu oszillieren und lösen sich schließlich in Bilder von
Sturmwolken auf.
Vor diesem Hintergrund findet sich das Personal von „Teorema“ schließlich
zu einem zünftigen Abgesang auf die Bourgeoise zusammen und resümiert: „Sie
stirbt von eigener Hand.“ Ansonsten bleibt die antibürgerliche Dimension
jedoch eher im Hintergrund – anders als bei Pasolini, der seiner Version
von „Teorema“ ein klares politisches Framing verpasste und den
Familienvater am Ende seine Fabrik den Arbeitern schenken ließ.
An die Stelle des bourgeoisen Schreckgespenstes der 68er ist nach Ansicht
des Komponisten Giorgio Battistelli längst etwas anderes getreten. In einem
Gespräch mit Dramaturg Jörg Königsdorf erklärt er: „Der Konsum ist eine
neue Form des Faschismus.“ Hat man 68 vielleicht gefragt: Was ist der
Mensch außerhalb seiner designierten Rolle in der patriarchalen Familie?,
könnte man heute fragen: Was ist der Mensch in einer Welt, in der er nicht
grenzenlos klicken und kaufen kann? Erwartet ihn dort gähnende Leere oder
grenzenlose Freiheit?
So steht im Zentrum der musiktheatralischen Neuinterpretation von Pasolinis
„Teorema“ die zeitlose Frage nach dem wahren Kern der menschlichen Seele.
Die Deutsche Oper bietet dazu eine interessante und fantasievolle
Auseinandersetzung.
13 Jun 2023
## LINKS
[1] /100-Geburtstag-von-Pier-Paolo-Pasolini/!5836923
## AUTOREN
Anna Schors
## TAGS
Bühne
Oper
Deutsche Oper
Berlin Kultur
Pier Paolo Pasolini
Pier Paolo Pasolini
Oper
Theater
Theaterfestival
wochentaz
Kino
## ARTIKEL ZUM THEMA
Stück über Pasolini in Mülheim: Stimme aus dem Totenreich
Starb Pier Paolo Pasolini, weil er zu viel wusste? Roberto Ciulli setzt ihm
in „Pasolini. Io so“ am Theater an der Ruhr in Mülheim ein Denkmal.
Sopranistin Maria Callas: Königin der Tragödie
Maria Callas wäre am 2. Dezember 100 Jahre alt geworden. Wie keine andere
schaffte sie es, menschliche Abgründe ohne Angst, aber präzise
offenzulegen.
Theaterstück über Klassismus: Lieber nicht darüber reden
„Juices“ am Nationaltheater Mannheim ist ein imposanter Text über
Klassismus. Er offenbart das menschliche Gesicht hinter dem Politischen.
Theaterfestival „Figure It Out“: Berliner Zombies
Beim Theaterfestival „Figure It Out“ in der Schaubude gibt es echte Puppen
als Untote – und ganz viel Musik.
Mutterschaft im Theaterbetrieb: Der Bauch wächst, der Vorhang fällt
Beruf und Familie sind rund um den Bühnenbetrieb besonders schwer
vereinbar. Der Verein Bühnenmütter fordert deshalb strukturelle
Verbesserungen.
100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini: Vorliebe für Unpoliertes
Am 5. März wäre Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt geworden. Heute befremdet
der italienische Filmemacher noch mehr als zu Lebzeiten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.