# taz.de -- Theaterstück über Klassismus: Lieber nicht darüber reden | |
> „Juices“ am Nationaltheater Mannheim ist ein imposanter Text über | |
> Klassismus. Er offenbart das menschliche Gesicht hinter dem Politischen. | |
Bild: Rahel Weiss ist eine von drei Schauspielerinnen, die in „Juices“ das … | |
Hängen und immer wieder hängen, direkt über dem freien Fall – mit diesen | |
Ängsten muss das Ich in Ewe Benbeneks neuem Stück „Juices“ leben. Denn we… | |
es einmal hinabstürzt, wird es von keinem Netz aufgefangen. Es kennt nur | |
das „Unten, wo dann nichts ist“, von früher – als es mit seinen Eltern v… | |
Polen nach Deutschland kam und die Mutter putzen ging. | |
Tief sitzen daher die Erfahrungen als Gastarbeiterkind, so tief, dass | |
selbst die Sprache noch davon Wunden trägt. Wendungen wie „Tut sich ein | |
Fenster aufmachen tun“, „ganz manchmal“ oder „es drückt der Druck“ | |
dokumentieren: Trotz Aufstieg zeigen sich die unleugbaren Spuren der | |
nichtdeutschen Herkunft. Sich davon zu lösen, von der [1][Scham der Armut], | |
scheint unmöglich. Wir kreisen unentwegt um Anfänge und Erinnerungen, | |
dieselben Worte und Halbsätze. | |
Da es in dieser Welt keinen sicheren Anker gibt, hat die Regisseurin der | |
Uraufführung am Nationaltheater Mannheim auf ein klar konturiertes Subjekt | |
verzichtet. Stattdessen teilt Kamila Polívková die Rede auf drei | |
Frauenfiguren (Maria Munkert, Antoinette Ullrich, Rahel Weiss) auf. Sie | |
sind auf der Suche, nach der Vergangenheit wie nach sich selbst. Dem Raum, | |
in dem sie sich befinden, lässt sich nämlich zunächst noch keine Geschichte | |
abringen. Wir blicken auf eine graue Leinwand auf einem schwarzen, von | |
Streben gehaltenen Bretterboden. | |
Alles ist in dieser Leere fern, aber auch möglich. So zum Beispiel eine | |
Badeorgie, dargestellt mit einem Eimer, in dessen Wasser die | |
Protagonistinnen massenweise Reinigungsmittel kippen. Gespielt wird mit dem | |
Schaumbad als Luxus-Happening. Während man sich ihn nun leisten kann, | |
musste die Mutter früher die Bäder der Wohlstandsschicht reinigen. Und so | |
mutet es nur konsequent an, dass diese Momentaufnahme von der Euphorie in | |
die Melancholie kippt. | |
Schaumbad als Luxus-Happening | |
Von den Kurzzeitekstatikerinnen bleibt eine den Boden schrubbende Putzkraft | |
übrig. Deren trister, von ökonomischer Ausbeutung geprägter Kosmos begegnet | |
uns auch in einer zweiten Szene wieder. Nun spielt sich das Geschehen | |
unterhalb des Parketts ab. Gebückt filmt dort eine Schauspielerin | |
Gegenstände eines Großraumbüros. | |
Derweil berichtet eine andere von den Tagen, als die Mutter ihre Tochter | |
zum Putzen zu jenen Nicht-Orten mitnahm. Spätestens mit dieser Anordnung | |
wird die Zweiteilung des Daseins erkennbar. Oben residieren die | |
Gutsituierten, unten darben die Abgehängten. Trotz dieser klaren Ordnung | |
taumelt das Ich noch immer. Im Hintergrund vernimmt es nur Tropfgeräusche | |
aus einer Höhle, ohne Licht und Ausgang. | |
Mit derlei Bildern setzt die Regie präzise Akzente, verhilft dem Text zu | |
einer wuchtigen Präsenz, dessen mitreißender Fluss aus Traumata, Hoffnungen | |
und Illusionen ansonsten kaum einen Halt zulässt. Er hat seinen Ursprung im | |
derzeit mehr und mehr die deutschen Bühnen erfassenden Diskurs um | |
Klassismus und soziale Ungerechtigkeit, reiht sich ein neben [2][Christian | |
Barons „Ein Mann seiner Klasse“] oder Anna Gschnitzers „Einfache Leute“. | |
## Nichts Didaktisches | |
Obwohl in diesen Beispielen inklusive Benbeneks Entwurf viel Autobiografie | |
steckt, ragt Letzterer doch aus dieser Riege hervor, eben ob seiner enormen | |
sprachästhetischen Gewalt, die die 1985 geborene Dramatikerin bereits in | |
ihrem ebenfalls den familiären Migrationshintergrund beleuchtenden Stück | |
„Tragödienbastard“ an den Tag legt. Zu Recht wurde sie dafür 2021 mit dem | |
Mülheimer Theaterpreis prämiert. | |
Eine Ausnahmeerscheinung? In den Künsten durchaus. Im sozialen Sinne | |
hingegen ein von Zahlreichen geteiltes Schicksal. Insbesondere diese | |
Beobachtung kennzeichnet den sehr politischen Schluss des Abends. Zunächst | |
setzen sich die drei Akteurinnen direkt vor das Publikum und erzählen, | |
worüber „sie nicht so gern [spricht], die BRD“. | |
Etwa von all den Ungehörten aus dem Osten Europas, die einst ihren Anteil | |
an der Entstehung des deutschen Wirtschaftswunders einbrachten. Die Kritik | |
an der verdrängenden Mehrheitsgesellschaft scheint im Schatten eines | |
kontrovers diskutierten, europäischen Flüchtlings- und Asylabkommens | |
virulenter denn je. Dass die jüngsten Beschlüsse vermeintlich im Nebulösen | |
verhandelnder Politiker uns alle und im Speziellen unzählige Menschen | |
hinter sterilen Statistiken betreffen, machen die Protagonistinnen am Ende | |
deutlich, indem sie die Bühne verlassen und sich ins Publikum setzen. | |
Diesem Move haftet nichts Didaktisches an, er geht organisch aus einem | |
Werdegang hervor. Die Abstraktion von Für und Wider von Migration | |
verdichtet sich hier in einer konkreten Autorinnenexistenz zwischen | |
Entwurzelung und schließlich beachtlicher Emanzipation. Um diese | |
Entwicklung in Kunst zu übersetzen, ohne die Wirklichkeit aus den Augen zu | |
verlieren, bedarf es eines genauen Gespürs. Das Nationaltheater stellt es | |
unter Beweis, mit einem Vibrato, das zutiefst bewegt! | |
21 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Björn Hayer | |
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