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# taz.de -- Radrennen in der Toskana: Helden auf Vintage-Rädern
> Straßenfahren ist Ihnen zu öde, Mountainbiking zu krass? Dann gehen Sie
> auf Schotterpisten beim Rennen L’Eroica in der Toskana.
Bild: Am frühen Morgen bei Castello di Brollio
Nur nicht absteigen. Das sage ich mir jetzt wohl schon zum zehnten Mal. Und
doch bin ich kurz davor. Meine Beine brennen. Mein Puls ist sicher bei 200.
Ich quäle mich auf einem antiquierten Rennrad. Das Ambiente: einen nicht
enden wollenden Feldweg hinauf – und das bei gefühlt 20 Prozent Steigung.
Unter mir: der schönste Schotter Italiens. Dieser verflixte Anstieg muss
doch endlich mal vorbei sein! Ist er nicht. Seit 20 Minuten schleiche ich
im Wiegetritt hier hoch. Die meisten Mitstreiter haben bereits aufgegeben,
schieben ihr Rad den Berg hoch. An der nächsten Kehre taucht eine Gruppe
Zuschauer auf. „Avanti! Viva l’Eroica!“, rufen sie uns zu.
Es lebe die Heldenhafte! So gar nicht heldenhaft, sondern komisch muss es
aussehen, wie ich kurz vor dem Kollaps mit ungefähr sechs Kilometern die
Stunde kaum merklich schneller an den schiebenden Leidensgenossen
vorbeischnaufe. Eine Ausfahrt mit Vintagefahrrädern durch die Toskana hatte
ich mir entspannter vorgestellt.
Die Eroica startet immer am ersten Oktoberwochenende in dem Bergdorf Gaiole
im Chianti und führt die beiden aktuellen Rennradtrends zusammen:
Gravel-Racing und Vintage-Bikes. Mit alten Rennrädern (Baujahr 1987 oder
früher, Nachbauten sind erlaubt) geht es auf Schotterwegen – den berühmten
strade bianche (weiße Straßen) – durch die Hügel der Toskana, eines der
schönsten Bike-Reviere Europas. (Es gibt die [1][Eroica auch in den
Niederlanden].)
Gravel-Racing gibt es hier schon ewig. Bereits Radsportlegende Gino Bartali
hat in den 1940ern seine Runden auf Schotter gedreht. Seit 1997
veranstaltet der Italiener Giancarlo Brocci die Eroica, immer im Oktober.
Das Besondere: Es gibt keine Zeitmessung, es geht hier nicht darum, Erster
zu werden. Mitfahren und durchhalten ist alles. Man bekommt eine
altertümliche Faltkarte, die an den festgelegten Streckenpunkten
abgestempelt wird. Klickpedale sind genauso verpönt wie GPS-Computer und
Pulsmesser. Die Räder haben Stahlrahmen, Unterrohrschalthebel und im besten
Fall Pedalhaken, um die Füße zu fixieren.
## Wolle statt Lycra
Die Klamotten sollten ebenfalls vintage sein – heißt: Wolle statt Lycra.
Wer sich nicht daran hält, der wird disqualifiziert. Helme sind erlaubt,
aber nicht Pflicht. Klingt nach einer Kostümparty. Ist es aber nicht, sagt
Gründer Brocci immer wieder: „Es geht darum, das Radfahren wie die
Champions von einst zu erleben, den alten Geist des Sports zu spüren.“
Diesen Geist spüre ich schon, als ich mir mein Leihrad am Vortag des
Rennens abhole. In Gaiole herrscht Jahrmarktstimmung, das kleine Bergdorf
platzt aus allen Nähten. Überall bunte Wolltrikots mit den Schriftzügen
legendärer Rennradmarken. Schnauzbartträger mit abgewetzten Lederschuhen
schieben ihre Stahlrenner durch die Gassen. Willkommen im größten
Open-Air-Museum des Radrennsports!
Waren es 1997 gerade mal 92 Retrobiker, sind es beim 20. Jubiläum 2016
knapp 7.000 Radbegeisterte, die sich der Herausforderung stellen. Wer
selbst kein Vintagebike besitzt, kann sich vor Ort eines leihen. Allerdings
sollte man dies wegen der großen Nachfrage Monate im Voraus erledigt haben.
So habe auch ich es gemacht und bekomme ein schickes, blau-weißes Atala aus
dem Jahre 1984 ausgehändigt. „Ist perfekt für Sprints“, witzelt mein
Mitfahrer Bregan Koenigseker über meine minimalistische Fünffachkassette
hinten. Er weiß genau, wie wenig mir die bei Anstiegen helfen wird. Ich bin
trotzdem zufrieden, mein Leihbike ist gut in Schuss. Auf dem relativ neuen
Ledersattel sitzt es sich allerdings wie auf einem Ziegelstein. Das kann ja
heiter werden!
## Stolzgeschwellte Brust
Eigentlich geht es hier um nichts. Trotzdem bin ich nervös. Alle fünf
Streckenalternativen (zwischen 46 und 205 Kilometer lang) haben es in sich.
Ich habe mich für die 75 Kilometer entschieden, was mir in diesem
Augenblick wenig heldenhaft vorkommt. Doch Bregan ist da anderer Meinung:
Die 75 sind echt hart. Ernsthaft.“ Im Dorf sind die Gassen voller Radfahrer
mit Karosocken, Schiebermützen und Fliegerbrillen, die ihre Museumsrenner
mit stolzgeschwellter Brust zum Start rollen. Dann geht’s los.
Der erste Stempel ist im Buch, die Aufregung verflogen. Ich trete in die
Pedale. Broccis Worte zur Eroica fallen mir wieder ein: „Es geht um die
Schönheit des totalen Sichverausgabens.“ Was das heißt, werde ich bald
erfahren, und zwar bei der ersten richtigen Bergwertung kurz vor dem
Castello di Brolio. Eine steile, enge, von Zypressen gesäumte
Schotterstraße führt zu der malerischen Festung. Der Weg ist mit Fackeln
beleuchtet, was im morgendlichen Nebel mystisch wirkt.
Es ist sehr voll, sämtliche Routen führen hier durch. Oben angekommen ist
mein kratzendes Wolltrikot triefnass. Mir wird schlagartig klar: Das hier
ist keine Spazierfahrt. Dann stimmt hinter mir eine Gruppe Italiener ein
aufmunterndes Liedchen an. Das ist er wohl, der Geist des Radsports.
Wir preschen mit ungefähr 50 Sachen eine steile Rampe hinunter. Bin ich
eigentlich total bescheuert, dass ich das hier riskiere? Auf dem Kopf nur
ein Stofffetzen, unterm Hintern ein ächzendes Stahlross, das schon mal
bessere Zeiten gesehen hat. Tatsächlich ist dieses Rennen nicht
ungefährlich: der ungewöhnliche Untergrund, die ungewohnte Handhabung der
Räder – und möglicherweise auch das eine oder andere Glas Wein, der an den
Essensstationen wie Isodrinks ausgegeben wird.
## Es fühlt sich gut an
Den Luftdruck habe ich vorsorglich am Morgen vor dem Rennen etwas
reduziert. Das gibt mehr Grip auf dem lockeren Untergrund. Nur leider wird
mir das bei dem längsten und schwierigsten Anstieg kaum helfen. Die Strecke
führt durch eine enge Gasse im kleinen Bergdorf Panzano. Dort verteilt der
ansässige Schlachter an die Teilnehmer großzügig Schmalzbrote und
Salamischeiben auf die Hand.
Kurz darauf startet die steile Tortur. Nach 30 Minuten bin ich mir sicher:
Ich kann nicht mehr! Als ich meine Oberschenkel schon gar nicht mehr spüre,
habe ich das erste Erfolgserlebnis: Ein Typ auf einem Singlespeed, der mich
vor ein paar Stunden forsch überholt hat, ist abgestiegen. Ich rolle an ihm
vorbei. Dann die Rufe: „Viva l’Eroica!“ Der Weg wird flacher.
Den Rest nehme ich wie benebelt wahr: Zypressenalleen auf dem Weg zurück
nach Gaiole, jubelnde Zuschauer. In einer Gruppe rolle ich über die
Ziellinie. Als ich an der Medaillenausgabe anstehe, tauchen die ersten
abgekämpften Bezwinger der 205-Kilometer-Strecke auf: Nach 12 bis 15
Stunden im Sattel sind das für mich die wahren Helden.
Aber ich glaube, den Gedanken hinter all den Retroreglements verstanden zu
haben: es sich im Leben nicht immer nur möglichst leicht zu machen. Das
fühlt sich richtig gut an. Als ich abends todmüde und überglücklich ins
Bett falle, verstehe ich, was Brocci mit der Schönheit des totalen
Sichverausgabens gemeint hat. Das ist ein herrliches Gefühl!
30 Sep 2017
## LINKS
[1] /Retro-Radrennen-in-den-Niederlanden/!5321969
## AUTOREN
Marco Demuth
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Spektrum der TeilnehmerInnen ist so divers wie die Gefährte.
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