Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abbiegeassistenten für Lkw: Im toten Winkel
> Obwohl Abbiegeassistenten das Leben von Radfahrern retten könnten, werden
> sie nicht verpflichtend in Lkws eingebaut. Warum?
Bild: Ein weißes Rad gedenkt einer 37-Jährigen, die in Berlin von einem abbie…
Berlin taz | Jeden Morgen um sechs Uhr rückt Mathias Brinkmann mit seinem
Laster aus. „Auf der Straße bin ich wie ein fahrender Panzer“, sagt der
53-Jährige. Der kräftige Mann in der blauen Arbeitshose fährt einen
Hochdruckspülwagen der Berliner Wasserbetriebe. Hinter Brinkmanns
Fahrerkabine befindet sich ein riesiger Tank, der benötigt wird, um Wasser
durch die Kanalisation zu pumpen und sie von Verstopfungen zu befreien.
Ende vergangenen Jahres wurde Brinkmanns Laster technisch nachgerüstet: mit
dem Abbiegeassistenten „Mobileye Shield+“. Dieses Gerät soll dafür sorgen,
dass der Fahrer auf Personen im toten Winkel aufmerksam wird. Es könnte
Leben retten.
Laut dem Statistischen Bundesamt sind deutschlandweit von Januar bis
November vergangenen Jahres 418 Radfahrer*innen im Straßenverkehr getötet
worden, das waren 50 mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. In Berlin
stehen an vielen Stellen in der Stadt weiß bemalte Fahrräder. Diese
„Geisterräder“ stellt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) für alle
getöteten Radfahrer auf.
Das neueste Geisterrad steht an der Kreuzung
Karl-Marx-Allee/Otto-Braun-Straße, unweit des Alexanderplatzes. Jemand hat
mit Edding darauf geschrieben: „Flieg davon, meine Schöne“. Hier starb am
20. Februar eine 37-jährige Frau. Ein Lkw-Fahrer war nach rechts abgebogen
und hatte die Radfahrerin nicht gesehen.
Am Unfallort liegen Blumen, Kerzen, ein Herz aus Pappe. Alter und
Todesdatum stehen auf einem Schild, von einem Foto daneben lächelt die
Getötete. Ein Junge, etwa 13, bleibt stehen. Wer die Frau war, fragt er. So
jung, wie traurig. Die meisten Passant*innen laufen an den Kerzen aber
vorbei, schauen kaum hin. Es gibt viele dieser Fahrräder. Eine Kreuzung
weiter steht das nächste.
## Ständige Bedrohung
Für Radfahrer*innen sind Laster eine ständige Bedrohung. Geräte wie das an
Brinkmanns Hochdruckspülwagen könnten diese Bedrohung deutlich reduzieren.
„Lkw-Abbiegeassistenten können 60 Prozent der tödlichen Abbiegeunfälle mit
Radfahrern verhindern“, sagt Stephanie Krone vom ADFC. Doch weniger als 5
Prozent der in Deutschland gemeldeten Lkws sind bisher mit den Geräten
ausgestattet, schätzt der ADFC.
Brinkmanns Lastwagen hat an den hinteren Seiten nun Sensoren, die den toten
Winkel überwachen. Vom Fahrersitz aus blickt Brinkmann auf einen kleinen
Bildschirm neben der Beifahrertür. Erfasst der Sensor eine Person, leuchtet
es hier auf: orange, wenn sich jemand in der Gefahrenzone befindet, rot,
wenn er nur noch eine Handbreit vom Auto entfernt ist. Darauf muss der
Fahrer rechtzeitig reagieren, von allein stoppt der Assistent den Wagen
nicht.
„Das Gerät gibt einem etwas mehr Sicherheit“, sagt Brinkmann. Seinen Laster
muss er häufig durch Wohngegenden lenken. „Oft fahre ich auch an Schulen
vorbei, wo viele Kinder rumlaufen“, sagt er. „Da guckt und guckt man – und
trotzdem kommt mal jemand aus der Seitenstraße.“
Die Berliner Wasserbetriebe rüsten bis zum Sommer 250 von 400 Lkws mit
einem Abbiegeassistenten aus. Werden neue Lkws angeschafft, haben sie das
Warngerät von Anfang an eingebaut.
Aber warum werden diese Geräte nicht gesetzlich vorgeschrieben? Warum nimmt
man den Tod von Radfahrer*innen weiter in Kauf, als könne man da gar
nichts tun?
Berlin ist die erste deutsche Großstadt, [1][die nun prüfen lässt], ob sie
Lkws und Busse ohne Abbiegeassistent die Einfahrt in die Innenstadt
verbieten kann. Den Impuls für diesen Vorstoß bekam die parteilose
Verkehrssenatorin Regine Günther durch ein Rechtsgutachten, das die grüne
Bundestagsfraktion in Auftrag gegeben hat. Dem Gutachten zufolge können
Kommunen verfügen, dass nur sichere Lkws in die Städte fahren dürfen. Sie
könnten festlegen, dass nur Laster, die den Abbiegeassistenten haben, als
sicher gelten.
Für die rot-rot-grüne Landesregierung wäre das eine Option. „Die
juristische Prüfung läuft aktuell unter Hochdruck“, sagt eine Sprecherin
der Verkehrssenatorin. Sollte das tatsächlich möglich sein, würde die
Polizei kontrollieren, ob Lkws mit dem System ausgerüstet sind.
Städte müssen auf solche Mittel zurückgreifen, weil es keine
deutschlandweite Pflicht zur Benutzung von Abbiegeassistenten gibt. Zwar
steht im Koalitionsvertrag von Union und SPD: „Wir werden
Fahrerassistenzsysteme wie nicht abschaltbare Notbremssysteme oder
Abbiegeassistenten für Lkw und Busse verbindlich vorschreiben und eine
Nachrüstpflicht für Lkw-Abstandswarnsysteme prüfen.“ Aber die
Bundesregierung vertritt den Standpunkt, dass eine verpflichtende
Einführung nur europaweit möglich sei. Denn nur so sind gleiche Regeln für
in- und ausländische Spediteur*innen durchsetzbar. Würde die Pflicht nur
für Unternehmen aus der Bundesrepublik gelten, könnten diese wegen
Inlandsdiskriminierung dagegen klagen.
Auf EU-Ebene wird über die Einführung [2][beraten]. Laut
Bundesverkehrsministerium sehen die Entwürfe für die Überarbeitung der
entsprechenden Vorschriften vor, dass voraussichtlich ab 2022 für neue
Fahrzeugtypen und ab 2024 für neue Fahrzeuge die Abbiegeassistenten
vorgeschrieben werden. Ob es aber tatsächlich dazu kommt, ist derzeit noch
offen.
Stefan Gelbhaar, Bundestagsabgeordneter der Grünen, dauert das alles zu
lange. „Seit zehn Jahren sprechen wir über das Thema Abbiegeassistent“,
sagt er. Lange haben Politik, Logistikbranche und Lkw-Hersteller*innen das
Thema ignoriert. Das geht nicht mehr. „Jeder weiß, dass es Einparkhilfen
für Pkws gibt, da kann man sich dem Thema Abbiegeassistenten nicht mehr so
leicht entziehen“, sagt Gelbhaar.
Um Schwung in die Sache zu bringen, hat er das Rechtsgutachten angestoßen,
laut dem Kommunen Laster und Busse ohne Tote-Winkel-Warner aussperren
dürfen. Dieser Weg hätte einen großen Vorteil, sagt Gelbhaar. Denn viele
Unternehmen müssten nicht ihre gesamten Fahrzeugflotten mit den Geräten
ausstatten. Sie könnten gezielt die Laster ausrüsten, die auch in Städte
fahren – und jene, die nur auf Autobahnen und in Industriegebieten
unterwegs sind, vorerst so lassen. Denn die Ausrüstung ist auch eine Frage
des Geldes. Laut Gelbhaar kosten die Geräte zwischen 800 und 3.000 Euro pro
Fahrzeug.
Das richtige Gerät zu finden, ist nicht leicht. Die Berliner Wasserbetriebe
haben vier verschiedene Systeme erprobt. „Zwei Modelle piepsten ständig“,
sagt Sprecher Stephan Natz. „Die konnten Straßenlaternen nicht von
Fußgängern unterscheiden.“
Das Wasser im Tank bringt Brinkmanns Lkw jetzt zum Schaukeln. Er biegt
rechts ab, als eine ältere Dame mit Hund die Straße überquert. „Jetzt
piepst es sicher gleich“, sagt er. Aber der Assistent gibt keinen Ton von
sich. Brinkmann hat die Fußgängerin aber vom Fenster aus im Blick. Keine
Gefahr für die Frau.
## Smartes Gerät
Mobileye Shield+ ist ein smartes Gerät. Es kann Straßenschilder lesen.
Außerdem kennt es die Geschwindigkeitsbegrenzung in der jeweiligen Gegend.
Brinkmann fährt an einem Schild mit Tempo 30 vorbei, gibt etwas Gas – der
Assistent bleibt ruhig, wider Erwarten. Brinkmann fährt um drei
Häuserblocks, ohne dass Mobileye sich meldet. „Normalerweise macht er sich
vier- oder fünfmal pro Tag bemerkbar“, sagt Brinkmann. „In einigen
Situationen bin ich so früh gewarnt worden, dass es eigentlich gar nicht
brenzlig wurde.“
Der Lkw fährt weiter, auf dem Bildschirm leuchtet ein orangefarbenes Symbol
auf, das aussieht wie ein Ampelmännchen. Kein Piepton, obwohl nur etwa
einen halben Meter vom Wagen entfernt eine Person steht und aus dem Fenster
nicht mehr sichtbar ist. Der Piepton kommt erst bei Gefahrenstufe Rot dazu,
er ist hoch wie ein fieser Weckerton. „Am lautesten ist der
Kollisionswarner, der macht richtig Lärm.“ Brinkmann zeigt auf eine kleine
Taste, auf der ein Pkw abgebildet ist, der gegen einen Lkw stößt.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer von der CSU ist dafür, eine
Abbiegeassistenten-Pflicht schneller einzuführen, als die EU es vorsieht.
Dem Bundesverkehrsministerium seien die EU-Pläne „nicht ambitioniert
genug“, teilt ein Sprecher mit. Es setze sich für eine verpflichtende
Einführung dieser Systeme für neue Fahrzeuge und Fahrzeugtypen ab 2020 ein.
Unabhängig davon arbeitet Scheuer an der freiwilligen Verbreitung der
Systeme. Deshalb hat er das Programm „Aktion Abbiegeassistent“ aufgelegt.
Daran beteiligen sich 44 Unternehmen, die sich dazu verpflichten, die
Geräte an ihre Laster anzubringen. Darunter sind große
Einzelhandelsketten wie Aldi, Edeka oder Lidl. Teil der Aktion ist die
finanzielle Förderung von Abbiegeassistenten.
Insgesamt hat das Bundesverkehrsministerium dafür 5 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt. Die Mittel wurden ab Mitte Januar im Windhundverfahren
vergeben: Wer zuerst kommt, bekommt Geld. Die Nachfrage war enorm,
innerhalb von vier Tagen waren die Fördermittel ausgeschöpft. „Wir wollen
das Förderprogramm ‚Abbiegeassistenzsysteme‘ fortsetzen“, teilt das
Verkehrsministerium auf taz-Anfrage mit. „Am Geld soll es nicht scheitern.“
Allerdings: Noch hakt es bei den schon bewilligten Mitteln. Das Programm
kann nicht starten. Wenn Unternehmen den Bewilligungsbescheid über die
Förderung bekommen haben, müssen sie innerhalb von drei Monaten mit der
Umrüstung beginnen. Aber gefördert werden nur Systeme, die bestimmte
Mindestvoraussetzungen erfüllen – nämlich nur jene, denen das
Kraftfahrtbundesamt (KBA) seinen Segen gegeben hat. Doch diesem lag bis zur
vergangenen Woche kein einziger vollständiger Antrag vor, sagt Markus
Olligschläger vom Bundesverband Spedition und Logistik. „Der Ball liegt
jetzt im Feld der Hersteller.“ Das KBA und das Bundesverkehrsministerium
äußerten sich auf Nachfrage dazu nicht.
Die große Nachfrage nach Förderung zeigt die Offenheit der Spediteure für
die Montage – sofern sie bezuschusst wird. Die Logistikbranche leidet unter
Fahrermangel. Mehr Sicherheit bedeute auch, den Beruf attraktiver zu
machen, sagt Olligschläger. „Wie für einen Lokführer ist es für einen
Fahrer ein grausames Schicksal, wenn er einen Menschen überfährt.“
Während sich auf Bundesebene wenig bewegt, geht es im grün-schwarz
regierten Baden-Württemberg voran. Gemeinsam mit dem Landesverband
Spediteure und Logistik hat die Landesregierung einen Feldversuch mit dem
Abbiegeassistenten initiiert. Es ist der bundesweit erste Test, bei dem
verschiedene Techniken erprobt werden. Insgesamt sollen 500 Lkws zwei Jahre
wissenschaftlich begleitet werden. Zur Wahl stehen die digitale
Bildunterstützung, Ultraschall, ein Kameramonitorsystem mit Radar, eine
intelligente Kamera mit wahlweise einer oder zwei Kameras mit optischer und
akustischer Warnung. Das Stuttgarter Verkehrsministerium finanziert das
Projekt mit 500.000 Euro, die beteiligten Unternehmen zahlen für die
Nachrüstung knapp 330 Euro.
Zurück in Brinkmanns Lkw. Sein Assistent meldet sich nur, wenn sich etwas
bewegt. Er kann sich nicht blind darauf verlassen. Trotzdem, betont er, sei
es gut, dass er ihn habe. Brinkmann sitzt so hoch, dass ein Passant, der
direkt vor ihm läuft, durch die Windschutzscheibe kaum sichtbar ist. „Hier
gibt es keine Kamera, aber der Spiegel reicht“, sagt Brinkmann. Wie er es
schafft, alle Spiegel, die Rückfahrkamera und auch noch den
Abbiegeassistenten im Auge zu behalten? „Übung“, sagt er.
5 Mar 2019
## LINKS
[1] /Abbiegeassistenten-fuer-Lkw/!5570878
[2] /EU-Plaene-zu-Verkehrssicherheit/!5507005
## AUTOREN
Jolinde Huechtker
Anja Krüger
## TAGS
Lkw-Abbiegeassistenten
Fahrrad
Straßenverkehr
Unfälle
Verkehr
Schuld
Lkw-Abbiegeassistenten
Fahrrad
Lkw-Abbiegeassistenten
Radverkehr
Abbiegeassistent
Fahrrad
Abbiegeassistent
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verkehrssicherheit für Fahrradfahrer: Leider ohne Mut
Ein gemeinsames Positionspapier von Fahrrad- und Logistikbranche will mehr
Sicherheit auf den Straßen. Der Mut für echte Reformen fehlt dabei.
Häme in Kommentarspalten: Die Schuldfrage
Oft wird Opfern die Schuld an einem Verbrechen oder Vergehen zugewiesen.
„Selber Schuld“ heißt es dann. Woher kommt das Victim blaming?
Verkehrssenatorin über Abbiegeassistent: Nur für einzelne Kreuzungen möglich
Ein generelles Verbot für Lkws ohne Abbiegewarnsystem lässt sich in den
Kommunen zurzeit nicht realisieren, sagt Berlins parteilose
Verkehrssenatorin Regine Günther.
Verkehrspolitik am Beispiel Aachen: Rad ab
Wie eine Stadt mit dem Verkehrsinfarkt umgeht: Inkompetent, feige – und
selbst bei Rad-Vorrang-Routen immer dem Götzen Auto zu Diensten.
Abbiegeassistenten für Lastwagen: Ein bisschen mehr Sicherheit
In Hamburg in werden in stadteigene LKW Abbiegeassistenten getestet. Ist
das Projekt erfolgreich, sollen weitere Fahrzeuge folgen.
Abbiegeassistenten für LKW: It’s the Radfahrer, stupid!
Wenn es um LKW-Abbiegeassistenten geht, hat Verkehrsminister Scheuer ein
Rad ab. Er verlangt mehr Rücksicht von Radlern und Fußgängern.
Abbiegeassistenten für Lkw: Sicher um die Ecke
Immer wieder werden Fußgänger und Radfahrer von Lastwagen überfahren. Die
Berliner Grünen wollen Warnsysteme nun zur Pflicht machen.
Fahrradfahren in der Stadt: Dass ich überhaupt noch lebe!
Der Verkehr in den Großstädten ist für Autos gemacht, nicht für Fahrräder.
Wer trotzdem Fahrrad fährt, lebt in Angst.
Schutz für Radfahrer und Fußgänger: Lastwagen bald aus Berlin verbannt?
Laut einem Gutachten könnte Berlin Lkws in der Innenstadt verbieten, wenn
sie nicht einen Abbiegeassistenten haben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.