# taz.de -- Reaktion auf Wohnungsnot in Städten: Die Hausbesetzer sind zurück | |
> In deutschen Großstädten herrscht Mangel an Wohnungen. Alte Aktionsformen | |
> wie die Hausbesetzung kehren zurück – nicht nur in Berlin. | |
Bild: Eine Aktionsform, die ihre letzte Hochzeit nach dem Mauerfall hatte: Haus… | |
BERLIN taz | Ein abgerissener Zettel, handgeschrieben, klebt am | |
Klingelschild: #besetzen steht darauf. Die Klingel daneben gehört zu einer | |
Wohnung im ersten Obergeschoss des unsanierten Eckhauses in | |
Berlin-Kreuzberg. Drei Zimmer, Küche, Bad. Im Schlafzimmer liegen die | |
Matratzen eng nebeneinander, in einem hellen Eckzimmer stehen abgewetzte | |
Sessel, Holz- und Bürostühle um einen ovalen Tisch herum. Die Küche ist mit | |
Gemüsekisten und leeren Bierkisten zugestellt, sogar einen Kühlschrank gibt | |
es. Auch die Toilette und die Dusche funktionieren wieder – die Besetzer | |
haben sie repariert. | |
Fast vier Wochen sind vergangen, [1][seitdem AktivistInnen aus den Fenstern | |
in der Großbeerenstraße 17a, Ecke Obentrautstraße ganz im Westen von | |
Kreuzberg ihre Transparente hängten]. In zwei Wohnungen des überwiegend | |
leerstehenden Hauses waren sie eingedrungen. Die Polizei stand an jenem | |
Samstagabend schon in voller Montur bereit, um die „Berliner Linie“ | |
durchzusetzen – jene Maßgabe, wonach Besetzungen innerhalb von 24 Stunden | |
geräumt werden sollen. | |
Doch dann erklärte der Vertreter des Eigentümers, einem katholischen | |
Wohnungsunternehmen, keinen Räumungstitel zu stellen. Die Polizei zog sich | |
zurück. Die Unterstützer vor dem Haus und die AktivistInnen im Gebäude | |
jubelten. Bis zu einem vereinbarten Verhandlungsgespräch am 4. Oktober | |
erhielten die Besetzer die Nutzungserlaubnis für eine Wohnung, inklusive | |
zweier Schlüssel. Eine erfolgreiche Besetzung, zumindest vorerst, das hatte | |
es in Berlin schon lange nicht mehr gegeben. Erst am Vortag löste sich eine | |
Besetzung des zukünftigen „Google Campus“ in Kreuzberg auf, als Polizisten | |
kurz davor waren, in das Haus einzudringen. | |
Einen der Schlüssel für die G17a, wie die BesetzerInnen das Haus nennen, | |
hat Ulrich Möller, ein schlanker, hochgewachsener Mann, unauffällig in | |
Jeans und grauem Fleece-Pullover. Als er eine Woche vor dem Gespräch über | |
die zukünftige Nutzung die Tür aufschließt, ist niemand da. Die | |
BesetzerInnen, die die Nacht im Haus verbringen, kommen erst später. Möller | |
setzt sich in das große Eckzimmer, hinter ihm hängt eine Wandzeitung mit | |
Terminen, von Kiezversammlungen und Konzerten. | |
## Gegenspieler besetzte einst selbst | |
Möller, der in Wirklichkeit anders heißt, gehört zu jener Gruppe, die sich | |
die Wohnung genommen hat. Eine „Hausprojektgruppe“ sind sie, schon lange | |
erfolglos auf der Suche nach einem Objekt, in dem sie gemeinschaftlich | |
miteinander leben können. Selbst mit dem Miethäusersyndikat, einer | |
Struktur, die bei der Umsetzung des Hauskaufs hilft, sei auf dem Berliner | |
Immobilienmarkt nichts mehr zu machen, so Möller. „Die Preise im Kiez haben | |
sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht“, sagt er. Auch auf konkrete | |
Fragen zu ihrer Besetzung holt Möller aus, spricht über seinen Kiez | |
Kreuzberg 61, nennt Neubauprojekte, redet über Ferienwohnungen und | |
verfehlte Stadtpolitik. | |
Möller geht auf die 60 zu, auch seine Mitstreiter haben ihr 50. Lebensjahr | |
schon überschritten. Anfang der 1980er Jahre hat Möller angefangen Häuser | |
zu besetzen, in Westberlin war das damals in Mode. Bis er Mitte der 1990er | |
Jahre Vater wurde, lebte er in besetzten oder legalisierten Häusern, immer | |
in großen Wohnprojekten. Das will er jetzt wieder, raus aus seiner | |
Kreuzberger Zweizimmerwohnung: „Ich empfinde das als selbstbestimmter, | |
befriedigender, sozialer“, sagt er. Der Hausbesetzer Möller ist, anders als | |
viele seiner Mitkämpfer von damals, kein Hausbesitzer geworden, sondern | |
wieder Besetzer. | |
Benjamin Marx, gewissermaßen sein Gegenspieler, ist den anderen Weg | |
gegangen. 1977 hat er in Düsseldorf selbst ein Haus besetzt, das allerdings | |
noch am selben Tag geräumt wurde. Heute ist der 64-Jährige Projektleiter | |
der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft, die das | |
Kreuzberger Haus Ende 2014 gekauft hat: Insgesamt hat das Unternehmen mehr | |
als 20.000 Wohnungen im Portfolio. | |
[2][Bei einem Gespräch mit der taz in der Woche nach der Besetzung] erzählt | |
er, dass er während der Aktion im Theater saß. Als er herauskam, hatte er | |
Dutzende Anrufe auf der Mailbox, einige davon von der Polizei, die sein Go | |
für eine Räumung wollte. „Wir hatten nicht das Bedürfnis ,die Polizei | |
reinzuschicken“, sagt Marx dazu. Ob die Entscheidung mit seiner | |
Vergangenheit zu tun hat oder seinem schlechten Gewissen geschuldet ist, | |
weil das Gebäude schon so lange leersteht, verrät er nicht. Den Leerstand | |
erklärt er mit der Konzentration auf andere Projekte und | |
Abstimmungsproblemen mit dem Bezirk. Der lehnte es etwa ab, das | |
vierstöckige Haus um eine Etage aufzustocken; erst 2017 sei die Sanierung | |
der Wohnungen genehmigt worden. | |
## „Ergebnisoffenes Gespräch“ | |
Geht es nach Marx, soll nun alles ganz schnell gehen. In einem Teil sollen | |
Schutzwohnungen für wohnungslose Frauen entstehen, samt einer | |
Beratungsstelle und einer rund um die Uhr geöffneten Notübernachtung – den | |
Bezirkspolitikern hat er seine Pläne schon vorgestellt. Für den anderen | |
Teil über den er mit den BesetzerInnen verhandeln will, sagt er: „Wir | |
stehen dem Modell, alternative Wohnformen zu finden, offen gegenüber. Wenn | |
da eine gute Idee kommt, verschließen wir uns nicht.“ | |
Einen Anspruch der BesetzerInnen auf das Haus will Marx nicht gelten | |
lassen, aber er ist auch bemüht um sein Ansehen, erwähnt seine | |
Vorzeigeprojekte für Flüchtlinge und insbesondere für Roma. Nach dem | |
Gespräch schickt er eine SMS mit dem Link zu einem Artikel über ihn. Der | |
beginnt mit den Worten: „Es könnte sein, dass es einen besseren Mann gibt | |
als Benjamin Marx, aber nicht auf diesem Planeten.“ | |
Ob die Ideen von Möller und Marx zusammenpassen, wird sich zeigen, wenn sie | |
am heutigen Donnerstag erstmals persönlich aufeinandertreffen. Möllers Ziel | |
ist es, das Haus langfristig zu sichern, etwa über einen Erbpachtvertrag. | |
„Ich gehe davon aus, dass es ein ergebnisoffenes Gespräch geben wird“, sagt | |
er und fügt hinzu: „Ich erwarte nicht, dass ein Eigentümer sofort Ja sagt.�… | |
Dabei hofft er auch auf den Bezirk; der müsse schließlich genehmigen, was | |
immer Marx mit dem Haus machen wolle. | |
Die Hausprojektgruppe hatte sich vor anderthalb Jahren schon einmal an die | |
Eigentümer gewandt, damals wollten sie ausloten, ob sie das Haus kaufen | |
können. Der Kontakt brach schnell wieder ab. In Möllers Gruppe reifte die | |
Idee, anders an das Haus zu kommen. Ermutigt wurden sie, als an Pfingsten | |
das erste Mal seit Langem wieder in Berlin im großen Stil besetzt wurde. | |
#besetzen heißt die Kampagne, die die Aktion von Möllers Gruppe aktiv | |
unterstützt. | |
Ende August wurde der „Herbst der Besetzungen“ ausgerufen, seitdem wurden | |
drei Gebäude in Berlin und eines in Potsdam besetzt. Auch nach der bisher | |
letzten Aktion am vergangenen Samstag, als sich über mehre Stunden | |
Aktivistinnen in einer Wohnung in Friedrichshain verbarrikadierten, | |
erklärte das Presseteam der Kampagne: „Wir werden weiter besetzen, bis wir | |
es nicht mehr müssen.“ Es ist die Rückkehr einer Aktionsform, die ihre | |
letzte Hochzeit in Ostberlin nach dem Mauerfall hatte. | |
Der rot-rot-grüne Senat ist schon unter Druck geraten. Bereits nach | |
Pfingsten begannen Linke und Grüne, sich dafür einzusetzen, dass eine | |
Räumung nur noch dann erfolgen soll, wenn ein Eigentümer nachweisen kann, | |
dass er einen bestehenden Leerstand schnell beseitigt. Noch sperrt sich die | |
SPD, doch mit jeder Besetzung wird der Druck größer. Auch weil die | |
Sympathien in der Bevölkerung auf Seiten der AktivistInnen liegen. Eine | |
Umfrage fand heraus: Für 53 Prozent der BerlinerInnen sind Besetzungen ein | |
legitimes Mittel. In Kreuzberg haben Nachbarn Möbel, Küchengegenstände und | |
Geldspenden vorbeigebracht. Sie müssen ja nur klingeln. | |
3 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Hausbesetzung-in-Kreuzberg/!5531396 | |
[2] /Eigentuemer-ueber-besetztes-Haus/!5533377 | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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