| # taz.de -- Kommentar Steinmeier in der Türkei: Bald nur noch 'ne Luftnummer | |
| > Erstmals seit langem besucht ein deutscher Minister die Türkei. Wir | |
| > müssen uns fragen: Was ist uns eine demokratische Zukunft des Landes | |
| > wert? | |
| Bild: Samstag auf der Kölner Rheinwiese: Erdoğan-Gegner protestieren gegen de… | |
| Mit Frank-Walter Steinmeier ist erstmals seit dem Putschversuch vom 15. | |
| Juli wieder ein hochrangiger deutscher Politiker zu Gesprächen in die | |
| Türkei gereist. Als der Außenminister zuletzt am Bosporus aufkreuzte, im | |
| Juni 2014, hieß der türkische Außenminister noch Ahmet Davutoğluund Recep | |
| Tayyip Erdoğanwar noch Ministerpräsident. Verglichen mit Juni 2014 ist die | |
| Türkei heute ein gänzlich anderes Land. | |
| Damals konnte man noch auf einen Friedensschluss mit der kurdischen | |
| PKK-Guerilla hoffen und einige Optimisten glaubten, wenn Erdoğanbei der im | |
| August anstehenden Wahl zum Präsidenten erfolgreich wäre, würde er sich auf | |
| die Rolle des Landesvaters zurückziehen und anderen das politische | |
| Tagesgeschäft überlassen. Es sah gar nicht so schlecht aus für die Zukunft | |
| der Türkei, und Steinmeier kündigte deshalb auch an, er werde sich dafür | |
| einsetzen, dass die Beitrittsverhandlungen mit der EU wieder in Gang kommen | |
| würden. | |
| [1][Der voraussichtlich nächste deutsche Bundespräsident] trifft am | |
| Dienstag auf eine Politikerriege, die mit aller Härte dabei ist, das Land | |
| in ein Freiluftgefängnis zu verwandeln, und zielgerichtet eine dann | |
| „verfassungskonforme“ Diktatur von Präsident Recep Tayyip | |
| Erdoğanvorbereitet. In wenigen Tagen soll der Entwurf einer neuen | |
| Verfassung ins Parlament eingebracht werden, im Frühjahr per | |
| Volksabstimmung bestätigt werden. | |
| Das wird dann wohl für lange Zeit das letzte Mal sein, dass die türkischen | |
| Wähler noch eine Wahl haben. Theoretisch könnten sie Nein sagen zu einem | |
| mit allen exekutiven Befugnissen ausgestatteten Superpräsidenten, doch | |
| Erdoğanund seine AKP haben längst alle Vorkehrungen getroffen, damit das | |
| nicht passieren wird. Eine Wahlschlappe wie im Juni 2015, als die AKP ihre | |
| absolute Mehrheit verlor, wird sich nicht wiederholen. | |
| Dafür sorgen der von Erdoğangeführte Krieg gegen die Kurden im Südosten des | |
| Landes, eine mittlerweile nahezu gleichgeschaltete Medienlandschaft und | |
| eine parlamentarische Opposition, die entweder, wie die kurdisch-linke HDP, | |
| bereits zu Teilen im Gefängnis sitzt oder wie die | |
| sozialdemokratisch-kemalistische CHP völlig eingeschüchtert ist, weil | |
| Regierung und Medien sie bei jedem kritischen Wort sofort als | |
| „Terrorkomplizen“ denunzieren. | |
| ## Steinmeier setzt auf Gespräche | |
| Steinmeier trifft auf ein Land im Ausnahmezustand, in dem die | |
| Pressefreiheit nicht mehr bedroht, sondern weitestgehend abgeschafft ist, | |
| rechtsstaatliche Verfahren zur Farce geworden sind und die demokratische | |
| Kontrolle der Regierung nicht einmal mehr auf dem Papier steht. | |
| Obwohl Steinmeier lange nicht mehr in der Türkei war, ist er darüber | |
| natürlich genau informiert. Trotzdem hat die Bundesregierung gerade die | |
| Verlängerung der Bundeswehrstationierung im türkischen Incirlik durch den | |
| Bundestag gedrückt und das Mandat für die von einem anderen türkischen | |
| Flughafen aus startenden Awacs noch dazugepackt. Immer noch soll über einen | |
| möglichen EU-Beitritt der Türkei geredet werden, obwohl der jährliche | |
| EU-Fortschrittsbericht, der gerade erst veröffentlicht wurde, nur den | |
| Schluss zulässt, dass die Türkei permanent gegen die demokratischen und | |
| freiheitlichen Grundsätze der EU verstößt. | |
| Frank-Walter Steinmeier will den Gesprächsfaden dennoch nicht abreißen | |
| lassen. Würde man die Beitrittsgespräche beenden, hätte dieEU überhaupt | |
| keine Einflussmöglichkeiten mehr in Ankara. Und gerade jetzt könne man die | |
| westlich orientierten, auf Unterstützung hoffenden Bürger des Landes doch | |
| nicht im Stich lassen, indem man sich völlig zurückzieht. | |
| Das hört sich gut an, ist aber „Bullshit“, und jeder weiß es. Mit ihrem | |
| „konstruktiven Dialog“, ihrer „strategischen Partnerschaft“, wahlweise … | |
| „privilegierten Partnerschaft“ und wie die Worthülsen sonst noch heißen | |
| mögen, hat die EU längst schon keinen Einfluss in Ankara mehr. Erdoğanlacht | |
| darüber und führt Kritiker aus der EU gegenüber seinen Wählern als zahnlose | |
| Plüschtiger vor. Seht her, ich sage öffentlich, dass mich die Geräusche aus | |
| Brüssel nicht mehr interessieren. Unsere roten Linien ziehen wir selbst, | |
| sagte unlängst Ministerpräsident BinaliYılıdırım gegenüber dem Präsiden… | |
| des Europäischen Parlaments, Martin Schulz. | |
| Wenn die Beitrittsverhandlungen erst einmal auf Eis gelegt werden, wird es | |
| keine Chance mehr geben, sie wiederaufzunehmen, wenigstens so lange nicht, | |
| wie Erdoğanan der Macht ist, sagen die Dialogvertreter der Bundesregierung | |
| und der EU-Kommission. Das ist richtig, und so lange auch nur eine kleine | |
| Chance bestand, Erdoğanan noch einmal in Richtung der europäischen | |
| Grundwerte zu drängen, war diese Haltung auch richtig. Doch das ist | |
| endgültig vorbei. | |
| ## EU-Gelder notfalls streichen | |
| Die EU hat durchaus Druckmittel gegen Erdoğan,sie muss sie nur einsetzen. | |
| Nicht mit der Illusion, Erdoğandurch Sanktionen auf den Pfad der Demokratie | |
| zurückzubringen, sondern zum Schutz der Verfolgten. Das Druckmittel heißt | |
| hier wie überall: Geld. Zunächst würden bei Einstellung der | |
| Beitrittsverhandlungen 4,5 Milliarden Euro, die im EU-Haushalt für die | |
| kommenden Jahre als Unterstützung für den Beitritt vorgesehen sind, | |
| entfallen. | |
| Damit es wirklich wehtut, müssen notfalls Handelsbeschränkungen eingesetzt | |
| werden. Die EU ist mit Abstand der wichtigste Wirtschaftsraum für die | |
| Türkei. Erdoğanwerden Hohn und Spott schnell vergehen, wenn Im- und Exporte | |
| in die EU Schritt für Schnitt eingeschränkt werden und aus dem EU-Raum | |
| keine Investitionen und keine Touristen mehr kommen. Wie das geht, hat der | |
| russische Präsident Wladimir Putin im letzten Jahr vorgemacht. | |
| Aber alles hat seinen Preis. Erdoğanwäre wohl nicht mehr bereit, | |
| Flüchtlinge von den Grenzen der EU fernzuhalten, und deutsche und andere | |
| europäische Firmen, die in der Türkei engagiert sind, würden einen Teil | |
| ihrer Profite verlieren. Die Frage ist: Was sind uns die Demokraten in der | |
| Türkei und die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft des Landes innerhalb | |
| des europäischen Wertesystems wert? Es ist richtig, Kritik klar zu | |
| formulieren. Doch wenn man nicht bereit ist, auch Konsequenzen daraus zu | |
| ziehen, läuft man eben Gefahr, sich selbst zur Luftnummer zu machen. | |
| Frank-Walter Steinmeier ist gerade auf dem Weg dazu. | |
| 15 Nov 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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