# taz.de -- Bundeswehr im Einsatz gegen den IS: Die Schuldfrage | |
> 700 Mal starteten deutsche Tornados vom türkischen Incirlik aus. Wie | |
> viele Zivilisten auf Basis ihrer Daten getötet wurden, weiß die Regierung | |
> nicht. | |
Bild: Die tun nix, die machen nur Fotos: deutscher Tornado in Incirlik | |
BERLIN taz | Wie viele Unschuldige in der Nacht auf den 19. Juli 2016 | |
tatsächlich starben, ist umstritten. Bis zu 24, sagt die US-geführte | |
Militärkoalition. Mindestens 73, sagt Amnesty International. Mindestens | |
124, sagt ein Reporter der Nachrichtenseite Syria Direct. Zu viele, so oder | |
so. | |
Eigentlich sollten die Raketen in dieser Julinacht nur die rund hundert | |
Kämpfer des IS treffen, die sich mit ihren Fahrzeugen im nordsyrischen | |
Tokhar verschanzt hatten. Die Einsatzplaner gingen davon aus, dass längst | |
alle Einwohner des Dorfes nahe der Stadt Manbidsch geflohen waren. Das war | |
aber ein Irrtum, und so töteten die Piloten der westlichen Kampfjets in | |
dieser Nacht nicht nur die Dschihadisten, sondern auch Dutzende Zivilisten. | |
Mit deutscher Hilfe? | |
Seit genau einem Jahr fliegen sechs Tornados der Bundeswehr inzwischen | |
Aufklärungseinsätze über Syrien und dem Irak. 698 Mal sind die Flugzeuge | |
mittlerweile von der Luftwaffenbasis im türkischen Incirlik gestartet, um | |
mit ihren Infrarotkameras Gebiete des IS abzufilmen. Mit Hilfe der Bilder | |
bereitet die internationale Koalition der „Operation Inherent Resolve“ | |
(deutsch: Operation Innere Entschlossenheit) ihre Luftangriffe auf | |
IS-Stellungen vor. Bereits seit Ende 2015 unterstützt die Bundeswehr die | |
Allianz zudem mit einem Tankflugzeug. | |
## Deutschland hat zum Erfolg gegen den IS beigetragen | |
Mit dem bisherigen Ergebnis der Operation ist die Bundesregierung | |
zufrieden. „Die Terrororganisation IS hat seit Dezember 2015 bereits | |
deutliche Gebietsverluste in Syrien und im Irak hinnehmen müssen. Zu diesem | |
Erfolg der internationalen Allianz gegen die Terrororganisation IS haben | |
auch die durch Deutschland bereitgestellten Aufklärungs- und | |
Luftbetankungsflüge beigetragen“, sagt ein Sprecher des | |
Verteidigungsministeriums. | |
Was die Bundesregierung allerdings nicht sagen kann: Wie viele Luftangriffe | |
die alliierten Staaten auf Basis der deutschen Aufklärungsdaten | |
durchgeführt haben, wie viele IS-Kämpfer sie dabei trafen – und wie viele | |
Zivilisten. | |
Laut US-Angaben warf die Militärkoalition im Jahr 2016 insgesamt 30.743 | |
Bomben und Raketen über dem Einsatzgebiet ab. Die Angriffe sind präziser | |
als die der russischen Luftwaffe. Das Onlineprojekt Airwars.org, dessen | |
Mitarbeiter regelmäßig Meldungen über Fehlschläge auswerten, zählte allein | |
für Januar 2016 mindestens 713 zivile Opfer der Russen, dagegen nur 52 des | |
Westens. | |
Dennoch zielt auch die Militärkoalition regelmäßig daneben, über das ganze | |
Jahr gesehen liegt die Zahl ziviler Opfer bei mindestens 142 (offizielle | |
Angaben) oder gar bei 1.237 und mehr (Airwars). | |
Bei wie vielen davon die deutschen Luftbilder eine Rolle spielten? Man | |
führe „keine über die durch die Operation Inherent Resolve veröffentlichten | |
Zahlen hinausgehenden eigenen Statistiken“, heißt es auf diese Frage aus | |
dem Verteidigungsministerium. Die Bundeswehr liefere zwar die | |
Aufklärungsdaten, sei aber nicht beteiligt, wenn die Alliierten die | |
konkreten Angriffsziele auswählen. Sprich: Was genau mit den deutschen | |
Daten passiert, weiß die Regierung nicht. | |
„Die wollen das auch gar nicht wissen, damit sie sich die Hände nicht | |
schmutzig machen und Diskussionen in Deutschland vermeiden“, glaubt der | |
Linken-Abgeordnete Alexander Neu. Die Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger | |
sagt: „Ich hätte zumindest erwartet, dass die Regierung sicherstellt, auch | |
nach Abgabe der Bilder in die Entscheidungsprozesse und die Evaluation | |
eingebunden zu sein. Immerhin trägt die Bundeswehr in relevantem Umfang zur | |
Operation bei.“ | |
Konkret sieht der deutsche Beitrag so aus: Ein deutscher Offizier sitzt im | |
Luftwaffenhauptquartier der Militärkoalition in Katar und hört sich an, von | |
welchen Orten und Regionen die Allianz in der folgenden Woche Luftbilder | |
benötigen. Sollte ein Aufklärungswunsch dem Mandat des Bundestags | |
widersprechen, weil sich im Zielgebiet beispielsweise keinerlei IS-Truppen | |
bewegen, sondern nur kurdische Kämpfer, legt er ein Veto ein. Ansonsten | |
geht der Auftrag nach Incirlik. | |
Von dort aus fliegen die Tornadopiloten die gewünschten Gebiete nach und | |
nach ab. Die Kameras am Rumpf der Flugzeuge schießen hochauflösende Bilder, | |
zurück in Incirlik werden diese von speziell geschulten Bildauswertern der | |
Bundeswehr bearbeitet. Sie markieren unter anderem, an welchen Stellen sie | |
IS-Kämpfer vermuten und an welchen Stellen zivile Einrichtungen wie Schulen | |
oder Kirchen. Am Ende prüft ein Offizier noch einmal, ob die Bilder mit dem | |
Mandat kompatibel sind. Dann schickt er sie ins Hauptquartier nach Katar. | |
## Lage am Boden kann sich schnell verändern | |
Dort planen Militärs der Partnerstaaten dann die eigentlichen Luftangriffe | |
– eben ohne die Deutschen. Die Soldaten nutzen dafür nicht nur die | |
Bundeswehrdaten sondern auch Aufklärungsbilder weiterer Nationen, | |
Geheimdienstinformationen oder Berichte verbündeter Kämpfer auf dem Boden. | |
Je mehr Informationen, so ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, desto | |
präziser die Zielplanung: Gerade die deutschen Bilder dienten dazu, „zivile | |
Infrastruktur von militärischen Zielen zu unterscheiden, um so mögliche | |
Kollateralschäden zu begrenzen“. | |
Die Grünen-Abgeordnete Brugger bezeichnet das als „halbe Wahrheit“. Gute | |
Aufklärung könne die Opferzahl zwar reduzieren. Andererseits sei | |
„Aufklärung die Grundlage aller Bombardements und natürlich kommt es bei | |
Bombardements auch zu zivilen Toten.“ Der Linken-Politiker Neu weist auf | |
den Zeitfaktor hin: „Bis die Aufklärungsbilder der Tornados in der | |
Datenbank sind, vergehen Stunden. Die Lage am Boden kann sich in der | |
Zwischenzeit verändert haben.“ | |
Was das bedeuten kann, zeigt ein Beispiel aus dem März 2015. Die deutschen | |
Tornados waren damals noch nicht im Einsatz, die Bundeswehr trifft also | |
keine Verantwortung. Der Fall ist aber aufschlussreich, da die US-Luftwaffe | |
danach ausnahmsweise einen 59-seitigen Untersuchungsbericht | |
veröffentlichte. | |
Demnach schickte eine Frau aus Mossul im April 2015 eine E-Mail an die | |
US-Armee: Damit ihr Auto, ein schwarzer Kia Sorrento (Baujahr 2011) nicht | |
vom IS konfisziert würde, wollte sie diesen am 13. März nach Bagdad | |
überstellen lassen. Dort sei der Wagen aber nie angekommen: Auf halbem Weg | |
sei er an einem IS-Checkpoint von der Rakete eines ausländischen | |
Kampfflugzeugs getroffen worden. Die fünf Passagiere seien verbrannt, für | |
das zerstörte Auto bitte sie um Entschädigung. | |
Tatsächlich bombardierten zwei US-Flugzeuge an besagtem Tag einen | |
Checkpoint in der Region Hatra (siehe Karte). Die Einsatzplaner hatten | |
zuvor aus nicht näher genannten Quellen erfahren, dass der IS eine antike | |
Ruinenanlage in unmittelbarer Nähe als Ausbildungsstätte nutzt. Deshalb | |
schickten sie die zwei Maschinen in Richtung des Kontrollpunkts. | |
Vor dem Angriff kreisten die Piloten eine Stunde lang über ihrem Ziel. Über | |
ihre Bordkamera registrierten sie nach einer Weile ein schwarzes Auto, das | |
den Checkpoint aber nicht passierte, sondern direkt davor am Straßenrand | |
hielt. Der Wagen gehöre wohl zum IS, funkte einer der Piloten deshalb nach | |
vierzig Minuten ins Hauptquartier nach Katar. Feuer frei, antwortete die | |
Zentrale. | |
Nach der E-Mail aus Mossul schaut sich ein US-Offizier die Aufnahmen der | |
Bordkamera noch einmal an, vergrößert und in Zeitlupe. Er sieht, wie | |
Sekunden vor dem Raketeneinschlag mindestens drei Personen aus dem Auto | |
stürmten. Eine davon hatte einen auffallend kurzen Schatten. Vermutlich war | |
dieser Mensch noch ein Kind. | |
## Alle haben sich an die Vorschriften gehalten | |
Das offizielle Untersuchungsergebnis: Wahrscheinlich habe die Rakete | |
tatsächlich Zivilisten getroffen. Den Piloten sei aber nichts vorzuwerfen, | |
den Planern auch nicht. Sie hätten sich an geltende Vorschriften gehalten. | |
So ist das im Luftkrieg: Fehlschläge lassen sich reduzieren, aber nie ganz | |
vermeiden, auch nicht durch strenge Regeln. Und in diesem Luftkrieg gelten | |
strenge Regeln, zumindest auf dem Papier. US-Präsident Barack Obama hat | |
einer Luftwaffe, die den Großteil der Koalitionsangriffe ausführt, von | |
Anfang an besondere Zurückhaltung angeordnet. Für den Einsatz über Syrien | |
und dem Irak erwähnt der Untersuchungsbericht die Zielvorgabe „non-combat | |
victims (NCV) = 0“ – möglichst keine unbeteiligten Opfer machen. Zuletzt | |
schrieb Obama im vergangenen Sommer in einer Präsidialverordnung: „Niedrige | |
Zahlen ziviler Opfer tragen dazu bei, die Unterstützung von | |
Partnerregierungen und Bevölkerungen zu erhalten.“ | |
Ob sein designierter Nachfolger an dieser Verordnung festhält? Im Wahlkampf | |
kündigte Donald Trump immer wieder an, er werde „die Scheiße aus dem IS | |
herausbomben“. Macht er dieses Versprechen wahr, könnte auch die Zahl der | |
zivilen Toten bald nach oben springen. Trotz der deutschen | |
Aufklärungsbilder – oder mit deren Hilfe. | |
9 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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