# taz.de -- Ressentiment ist keine Kritik: Das Gerücht über Israel | |
> Was tut Bremen gegen Antisemitismus? – erkundigt sich Rot-Grün beim | |
> Senat. Damit riskiert die Koalition Ärger in den eigenen Milieus | |
Bild: Herbst 2015: Auf Verdacht hin prangern selbsternannte Inspekteure Waren i… | |
BREMEN taz | Was nicht auftaucht in der Parlamentsdrucksache 19/652 ist der | |
Name des Vegesacker Pastors, der eine Mail an einen israelischen | |
Journalisten spaßeshalber mit der Berufsbezeichnung Antisemit signiert | |
hatte (taz berichtete). Dennoch spielt der Eklat eine Rolle: Er war der | |
Auslöser für die Große Anfrage, mit der sich SPD und Grüne erkundigen, | |
[1][wie der Senat Antisemitismus bekämpft]. | |
Dazu verpflichtet ist er durch mehrere Resolutionen. Erhebungen der | |
Europäischen Grundrechte-Agentur (FRA) geben Anlass zur Sorge: Drei Viertel | |
der von ihr Befragten, die sich selbst als Juden verstehen, hatten eine | |
Zunahme des Antisemitismus in ihrem Heimatland erlebt. „Europaweit nimmt | |
Antisemitismus neue Formen an“, erläutert Henrike Müller (Grüne). „Das | |
macht auch vor Bremen nicht halt.“ Dringend benötigt würden „neue | |
Strategien gegen antisemitische Strömungen“. Die Anfrage solle in Bremen | |
„aufzeigen, wo es Handlungsbedarf gibt“. | |
Wer blind ist, sieht nichts. Daher erkundigt sich die Koalition auch, ob | |
die Forderung, Polizei-, Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendienste | |
„effektiv für das Thema Antisemitismus zu sensibilisieren“, umgesetzt wird. | |
Daran gibt es Zweifel. So erwähnen Bremens Verfassungsschützer | |
Antisemitismus nur als Problem einer rechtsextremen Splittergruppe. Dafür, | |
dass es auch islamistischen Judenhass gibt, fehlt dem Lokalgeheimdienst | |
offenbar jedes Gespür. So erwähnt der Vorjahresbericht zwar eine Demo, die | |
mit Parolen wie „Kindermörder Israel“, „Israel – Terroristen“ und | |
„Zionisten sind Faschisten“ durchs Viertel marschierte. Nach Einschätzung | |
Joachim von Wachters und seiner Jungs drückten diese Sprüche indes | |
„Solidarität mit den Palästinensern“ aus. Kritisch beobachtet haben die | |
Verfassungsschützer deshalb nur die Gegendemo: Die sei „von | |
linksextremistischen Gruppierungen“ aus der „autonomen linken Szene“ | |
unterstützt worden, raunt der Rapport, von einem gewissen „Bremer Bündnis | |
gegen Antisemitismus“. | |
So könnte die Frage nach den Erkenntnissen des Senats über aktuelle | |
antisemitische Strömungen und Aktivitäten in Bremen möglicherweise nichts | |
zutage bringen – weil nichts erkannt wird. Ähnlich hatte die jüngst | |
vorgestellte Leipziger „enthemmte Mitte“-Studie einen vermeintlichen | |
Rückgang des Antisemitismus in Deutschland suggeriert. Ursache dafür war | |
eine methodische Beschränkung: [2][Die Untersuchung hatte diesmal stark auf | |
Islamhass fokussiert] und das Antisemitismus-Thema dafür | |
[3][zurückgefahren]. „Die Leipziger Kollegen stellen nur drei Fragen zum | |
Antisemitismus – und die sind allesamt Items, die nur die knallharten | |
Antisemiten messen“, kritisiert der Göttinger Antisemitismus-Forscher | |
Samuel Salzborn: „Wer den drei Fragen zustimmt, vertritt letztlich | |
Nazi-Positionen.“ | |
Die zentralen Formen des Antisemitismus in Deutschland seien aber | |
Schuldabwehr- und antiisraelischer Antisemitismus, die man so gerade nicht | |
erfasse. Entsprechend sei es „Unsinn“, zu behaupten, „dass der | |
Antisemitismus in Deutschland weniger wird“. | |
Um Definitionen wird in der Forschung gerungen: So verortet der Soziologe | |
Peter Ullrich vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung vieles von | |
dem, was Salzborn als antiisraelischen Antisemitismus rubriziert, in einer | |
„Grauzone“ in der sich Motive der Kritik und des Ressentiments mischen. | |
In der siedelt Ullrich grundsätzlich auch die Kampagne Boykott, | |
Desinvestition und Sanktionen (BDS) an, die den Handel mit Waren aus | |
besetzten Gebieten anprangert. Für Salzborn ein [4][Fall von | |
„Kollektivhaftung“]: „Damit vollstreckt die BDS-Kampagne das Menschen- und | |
Weltbild des Nationalsozialismus“, schreibt er in einem Aufsatz. Ullrich | |
dagegen [5][empfiehlt], den Antisemismusgrad „nicht an einem Wesenszug des | |
Boykotts, sondern aus dem Kontext zu bestimmen“. Allerdings: „Der deutsche | |
Kontext erhöht die Wahrscheinlichkeit einer antisemitischen | |
Interpretation.“ | |
Im deutschen Kontext trat die BDS-Kampagne erstmals 2011 auf – in Bremen. | |
Sie hat im linken Milieu viele SympathisantInnen. Im Herbst 2015 wurden | |
erneut Läden in der City geentert, und Waren mit Fähnchen markiert, von | |
denen die AktivistInnen glaubten, sie würden in Gaza oder der Westbank | |
produziert. „Wir gehen nach Verdacht vor“, hatte Organisator Claus | |
Walischewski gegenüber der taz gesagt, der in Bremen auch als Sprecher von | |
amnesty international fungiert. | |
SPD und Grüne riskieren mit ihrer Anfrage auch in den eigenen Reihen Unmut. | |
Zumal gerade in der Frage, wie der Senat die BDS-Aktivitäten bewertet, die | |
Antwort schon feststeht: Carsten Sieling (SPD) hat jüngst dem [6][Simon | |
Wiesenthal-Zentrum New York] schriftlich gegeben, Bremen sei nicht die | |
deutsche Hauptstadt der Kampagne. Die BDS-Aktivitäten seien „bei den | |
politisch Verantwortlichen immer auf Ablehnung und Widerstand gestoßen“. | |
Und das werde auch so bleiben. | |
Das tabuisiert Israelkritik keineswegs. Aber, immer „wenn die Politik | |
Israels dämonisiert wird, die Ablehnung Israels mit dem Ziel vorgetragen | |
wird, den jüdischen Staat zu delegitimieren oder doppelte Standards bei der | |
politischen oder moralischen Bewertung des Staates Israel und anderer | |
Akteure, angelegt werden, haben wir es nicht mit Kritik, sondern mit | |
Antisemitismus zu tun“, erklärt Salzborn, wo die Grenze verläuft zwischen | |
Kritik und Ressentiment. | |
So entwirft der in Bremen bekannte Publizist Arn Strohmeyer finstere | |
Israel-Bilder, in denen es als „höchst aggressiver Militärstaat“ erschein… | |
„der mit Menschenrechten und Völkerrecht aber auch gar nichts im Sinn“ | |
[7][hätte]. Dagegen bescheinigen die Länder-Indices [8][diverser] | |
Nichtregierungsorganisationen von [9][Freedom-House] über den | |
[10][Internationalen Gewerkschaftsbund] bis [11][Reporter ohne Grenzen], | |
Israel, das freieste Land des Nahen Osten zu sein. | |
Es hat trotz Dauer-Terrorismus einen höheren Grad der Pressefreiheit selbst | |
als EU-Staaten wie Bulgarien. Und im Demokratie-Ranking von The Economist | |
[12][belegt es] Platz 36. Boykottaktionen gegen die 131 im Index schlechter | |
platzierten Länder gibt es kaum. Weil man zu denen nicht, wie zu Israel | |
eine besondere „emotionale Beziehung“ habe, hatte eine Bremer | |
BDS-Sprecherin der taz erklärt. | |
Gegen negative Gefühle hilft Aufklärung. Die Anfrage setze da Impulse, lobt | |
Salzborn. Er halte es nämlich „für dringend geboten, dass die politischen | |
Parteien den Antisemitismus viel mehr als zu bekämpfendes Problem | |
wahrnehmen“. Besonders wichtig sei „Bildungsangebote über antiisraelischen | |
Antisemitismus und islamistisch motivierten Antisemitismus breit zu | |
etablieren“. | |
22 Jun 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.bremische-buergerschaft.de/drs_abo/2016-06-16_Drs-19-652_088a5.p… | |
[2] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Mittestudie_Uni_L… | |
[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/mitte-studie-der-uni-leipzig-sterben-die… | |
[4] http://www.salzborn.de/txt/2013_Kirche-und-Israel.pdf | |
[5] https://www.akweb.de/ak_s/ak616/24.htm | |
[6] http://www.wiesenthal.com/site/pp.asp?c=lsKWLbPJLnF&b=4441297#.V2piSUZ9… | |
[7] http://www.palaestina-portal.eu/Stimmen_deutsch/Strohmeyer_Arn_Jetzt%20muss… | |
[8] http://www.democracybarometer.org/links_de.html | |
[9] https://freedomhouse.org/reports | |
[10] http://www.ituc-csi.org/globaler-rechtsindex-des-igb-die | |
[11] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/2015/ueberblick/ | |
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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