# taz.de -- Judenboykott am 1. April 1933: „Sie prügelten sie zu Tode“ | |
> Die Nazis riefen: Kauft nicht bei Juden! Die meisten Deutschen folgten. | |
> Das Erbe der Geschichte verbietet es uns heute, Waren aus Israel zu | |
> boykottieren. | |
Bild: Der nationalsozialistische Boykott vom 1. April 1933 kam nicht plötzlich… | |
Am 1. April 1933, einem Samstag, standen in Deutschland SA-Männer vor | |
Geschäften und Praxen und zeigten Transparente, auf denen stand: „Deutsche! | |
Wehrt euch! Kauft nicht bei(m) Juden! – Die Juden sind unser Unglück! – | |
Meidet jüdische Ärzte! – Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten“. | |
Allerdings war der 1. April 1933, als SA-Männer die Schaufenster von | |
Geschäften jüdischer Inhaber beschmierten und Käufer am Eintreten | |
hinderten, kein Auftakt, sondern vor allem eine Fortsetzung. | |
Seit den für die NSDAP erfolgreichen Wahlen am 5. März 1933 hatten sich die | |
Übergriffe der SA auf Juden in der Hauptstadt wie in der Provinz immer | |
weiter gesteigert: Ende März etwa randalierten in Südwestdeutschland | |
Angehörige der SA. Sie brachen in Häuser ein, misshandelten und verhafteten | |
jüdische Männer und schlugen einige straffrei tot. | |
Der Tag des Boykotts galt dann keineswegs nur Geschäften und Kaufhäusern. | |
So verschleppten SA-Männer am 1. April 1933 in Berlin jüdische Ärzte aus | |
Praxen und Krankenhäusern in ein „wildes“ KZ. Ein jüdischer Chirurg | |
berichtete später: „Zufällig war einer unserer Bewacher ein ehemaliger | |
Patient von mir … Um sich mir erkenntlich zu zeigen, veranlaßte er, daß auf | |
der Rückseite meines Laufzettels handschriftlich vermerkt wurde: „Nicht | |
mißhandeln.“ | |
Als in der folgenden Nacht die SA-Wachmannschaft eine wilde Prügelorgie | |
veranstaltete, hielt ich denen meinen Laufzettel … entgegen. Darauf befahl | |
mir einer: „Hinlegen! und ich warf mich zu Boden und wurde verschont. | |
Rechts und links wurden einige Leute mit Knüppeln so lange geschlagen, bis | |
sie tot waren, es war entsetzlich. Wenn sie sie wenigstens erschossen | |
hätten, aber sie haben sie zu Tode geknüppelt.“ | |
Dem eintägigen Boykott folgten alsbald „juristische“ Maßnahmen. Der in | |
Gesetze gegossene Antisemitismus war gedeckt durch den Willen der Regierung | |
aus Deutschnationaler Volkspartei und NSDAP, die nach den Wahlen gebildet | |
worden war, ebenso wie durch das am 24. März verabschiedete | |
„Ermächtigungsgesetz“. | |
## Heuss stimmte zu | |
Diesem Gesetz hatten das katholische Zentrum und Liberale – angeführt vom | |
späteren ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss – zugestimmt. Allein die | |
SPD votierte dagegen. Die kommunistischen Abgeordneten waren damals schon | |
ausgeschlossen und in Konzentrationslagern inhaftiert. | |
Dann ging es Schlag auf Schlag: Am 7. April wurde das „Gesetz zur | |
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das die Entlassung aller | |
jüdischen Beamten und „politisch unzuverlässigen Personen“ verkündet. Am | |
11. April folgte das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“. Es | |
schloss jüdische Anwälte aus der Anwaltschaft aus. Jüdische Richter wurden | |
von Strafgerichten an Zivilkammern versetzt. Juden, die im Ersten Weltkrieg | |
im deutschen Heer gekämpft hatten, waren zunächst ausgenommen. | |
Die meisten Deutschen nahmen den Boykott gegen Juden gleichgültig zur | |
Kenntnis, nur eine kleine Minderheit betrat mutig und solidarisch die | |
boykottierten Geschäfte. Die die selbst ernannten Hüter der Moral hingegen | |
versagten: die evangelische Kirche ebenso wie die katholische oder die | |
Freikirchen. | |
Der Protestant Otto Dibelius, seit 1925 Generalsuperintendent in Berlin, | |
begrüßte nicht nur die Machtübernahme Hitlers. In Reaktion auf | |
Solidaritätserklärungen des US-amerikanischen Federal Council of Churches | |
zugunsten der deutschen Juden kommentierte Dibelius am 4. 4. 1933 auch: | |
„Die letzten fünfzehn Jahre haben in Deutschland den Einfluß des Judentums | |
außerordentlich verstärkt … Dagegen wendet sich die Stimmung eines Volkes, | |
das mit den Folgen der Revolution aufräumen will.“ | |
Am 9. 4. erklärte er: „Schließlich hat sich die Reichsregierung genötigt | |
gesehen, den Boykott jüdischer Geschäfte zu organisieren, in der richtigen | |
Erkenntnis, daß durch die internationalen Verbindungen des Judentums die | |
Auslandshetze dann am ehesten aufhören wird, wenn sie dem deutschen | |
Judentum wirtschaftlich gefährlich wird.“ | |
## Bekennende Kirche | |
Weil er sich gegen die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten stellte, | |
wurde Dibelius Mitte 1933 in den Ruhestand versetzt. Er schloss sich der | |
Bekennenden Kirche an. 1949 bis 1961 war er Ratsvorsitzender der | |
Evangelischen Kirche Deutschlands, 1954 wurde er sogar zu einem der | |
Präsidenten des Ökumenischen Rats der Kirchen gewählt. Noch 1965 gab | |
Dibelius zu Protokoll, Juden stets gemieden zu haben, „nicht in feindlicher | |
Gesinnung, aber doch so, daß man das Fremdartige ihres Wesens spürte.“ | |
Auch der katholischen Kirche – obwohl offiziell antirassistisch eingestellt | |
– fiel es schwer, den Boykott zu verurteilen. So bezeichnete der Breslauer | |
Kardinal Bertram den Boykott gegenüber dem Berliner Domkapitular | |
Lichtenberg, der sich für Juden einsetzte, als „einen wirtschaftlichen | |
Kampf in einem uns in kirchlicher Hinsicht nicht nahestehenden | |
Interessenkreis“. | |
Der spätere Papst Pius XII. – 1933 noch Kardinalstaatssekretär Eugenio | |
Pacelli – verschwieg seinem Vorgänger Pius XI. ein dringliches Schreiben | |
der zum Katholizismus konvertierten Jüdin Edith Stein. In ihrem Brief von | |
Anfang April 1933 hieß es: „Seit Wochen warten und hoffen nicht nur Juden, | |
sondern Tausende treuer Katholiken darauf, daß die Kirche Christi ihre | |
Stimme erhebe.“ Edith Stein wurde 1942 in Auschwitz ermordet. | |
Auch die Methodisten verteidigten den Boykott: In einem Appell an alle | |
methodistischen Kirchen der Welt wiesen die deutschen Glaubensbrüder | |
Berichte über „angebliche Judenverfolgungen und Greueltaten“ entschieden | |
zurück. Die Skandalisierung des Boykotts sei der „Versuch, die entsetzliche | |
Gräuelpropaganda des Weltkriegs, von der sich die Psyche der Völker kaum | |
befreit hat, neu aufleben zu lassen“. Dadurch werde eine „Verständigung | |
unter den Nationen aufs Schwerste gefährdet“. | |
Im Übrigen kam der nationalsozialistische Boykott vom 1. April 1933 nicht | |
wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Schon Jahre zuvor, im deutschen | |
Kaiserreich und in der Weimarer Republik, propagierten antisemitische | |
Agitatoren, aber auch national gesinnte evangelische Pfarrer diese | |
Maßnahme. Der Boykott stellte eine Etappe auf dem Weg der Vernichtung der | |
Juden bis in die Gaskammern von Birkenau und an die Erschießungsgräben der | |
Ukraine dar. | |
## Der Boykottappell ist moralisch nicht zu verantworten | |
Dies ist – achtzig Jahre nach dem 1. April 1933 – der historische | |
Hintergrund, vor dem der heute von verschiedenen Seiten erhobene Aufruf zu | |
sehen ist, Waren, die nicht nur im Westjordanland, sondern auch in Israel | |
hergestellt werden, zu boykottieren. Und vor eben diesem Hintergrund ist | |
der Boykottappell moralisch und historisch nicht zu verantworten – auch | |
wenn er mit dem Menschen- und dem Völkerrecht begründet wird. | |
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich einige jüdische | |
Intellektuelle, die sich einem prophetischen, universalistischen Judentum | |
verpflichtet sehen – genannt sei etwa die Philosophin Judith Butler – | |
dieser Bewegung angeschlossen haben. Der Boykott solle so lange gelten, bis | |
der den völlige Rückzug aus dem Westjordanland vollzogen, die völlige | |
rechtliche Gleichstellung aller nichtjüdischen israelischen Bürger | |
garantiert und das uneingeschränkte kollektive Rückkehrrecht der Nachfahren | |
der 1947 vertriebenen Palästinenser anerkannt ist. | |
Die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestment, Sanktionen), die der | |
Palästinenser Omar Barghouti begründet hat, ist in ihren Zielen weitgehend | |
identisch mit dem 2009 von palästinensischen Christen verfassten „Kairos | |
Dokument“, das auch die evangelische Kirche in Deutschland umtreibt. Darin | |
heißt es: „Die zivilen Organisationen der Palästinenser, aber auch die | |
internationalen Organisationen, die Nichtregierungsorganisationen wie auch | |
eine Reihe von religiösen Institutionen appellieren an Einzelne, | |
Gesellschaften und Staaten, sich für den Rückzug von Investitionen und für | |
Boykottmaßnahmen der Wirtschaft und des Handels gegen alle von den | |
Besetzern hergestellten Güter einzusetzen.“ | |
Das Dokument fällt durch gewollte Unschärfe auf: An keiner Stelle definiert | |
es, was „Besetzung“ heißt und um welches Territorium es genau geht. | |
Überzeugte Feinde des Staates Israel können unter „Besetzung“ durchaus | |
dessen gesamtes Territorium verstehen und nicht nur die 1967 besetzten | |
Gebiete. | |
Spätestens hier, wo das Ende des israelischen Staats angepeilt wird, | |
belastet die deutsche Geschichte das naive moralische Engagement. | |
Antisemiten, aber auch Kinder und Enkel antisemitischer Mitläufer oder | |
Massenmörder, könnten sich – wenn auch aus edelsten Motiven – von | |
derartigen Boykottaktionen gegen den Staat Israel hingezogen fühlen. | |
## Politisches Druckmittel | |
1933 begründeten die Nationalsozialisten ihren Boykott jüdischer Geschäfte | |
unter anderem damit, dass „jüdische Kreise“ Deutschland boykottieren | |
wollten. Der heute als politisches Druckmittel gegen Israel geplante | |
Boykott repräsentiert offenkundig im historischen Unbewussten vieler | |
Deutscher nur eine Wiederholung der Geschichte. Derlei unbewusste | |
Gleichsetzungen aber sind strikt zu vermeiden. | |
Vorbedingung zu einem begründeten moralischen Urteil und vernünftigen | |
politischen Handeln kann nur die nüchterne, das heißt, differenzierte | |
Erkenntnis sozialer Fakten sein kann. Pointiert gesagt: Die deutschen Juden | |
wären froh gewesen, hätten sie im April 1933 jene politischen Spielräume | |
gehabt, über welche die israelischen Staatsbürger arabischer Nationalität | |
heute verfügen. | |
Auf jeden Fall bereitet die Erblast der christlichen, der protestantischen, | |
der nationalsozialistischen Geschichte des Boykotts von Juden bis heute | |
auch christlichen Solidaritätsgruppen mit Palästina Schwierigkeiten, über | |
die sie nicht einfach hinweggehen können. | |
Nach wie vor nämlich schwebt nämlich Martin Luthers unheilvolles Erbe über | |
allen derartigen Aktivitäten. Hatte der Reformator doch 1543 in seiner | |
Schrift „Von den Jüden und ihren Lügen“ unter anderem gefordert, den Juden | |
den „Wucher zu verbieten und nehme ihnen alle barschaft und kleinod an | |
Silber und Gold und lege es beiseite zu verwahren …“ Der 1. April 1933 hat | |
– jedenfalls in Deutschland – die Voraussetzung für einen naiven Boykott | |
israelischer Waren ein für allemal zerstört. Verantwortlich dafür sind | |
„unsere Mütter, unsere Väter“. | |
1 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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