# taz.de -- Ermittlung gegen NS-Verbrechen: Lebende Täter gesucht | |
> Die meisten KZ-Wachleute blieben unbehelligt. Jetzt wird es möglich, sie | |
> wegen Beihilfe zum Mord anzuklagen. Juristen suchen auch in | |
> Lateinamerika. | |
Bild: Fotos einiger Gefangener in Ausschwitz. | |
BERLIN taz | Kurt Schrimm ist sich sicher: „Das ist nicht das Ende, das ist | |
erst der Anfang“, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt. Viele Deutsche, auch | |
manche Historiker, hatten geglaubt, fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten | |
Weltkrieges könnten Nazi-Verbrechen kaum noch verfolgt werden. | |
Doch jetzt hat der Chef der Zentralen Stelle zur Aufklärung von | |
NS-Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg einen bemerkenswerten | |
Fahndungserfolg verkündet: Seine Behörde will in den nächsten Wochen gegen | |
exakt 50 ehemalige SS-Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz | |
Vorermittlungen einleiten, sagte Schrimm der taz. „Uns liegt eine Liste | |
aller in Auschwitz tätigen Aufseher vor. Wir haben überprüft, wer von denen | |
noch am Leben ist.“ Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zum Mord. | |
Alle 50 leben in Deutschland und sind heute um die 90 Jahre alt. Ihre Namen | |
waren zwar schon lange Zeit bekannt, aber die Ermittler hatten bisher keine | |
Handhabe gegen sie. Der Grund: Jedem einzelnen SS-Aufseher musste die | |
konkrete Beteiligung an einem Mordtat nachgewiesen werden. Weil die meisten | |
Opfer nicht überlebten, fehlte es immer wieder an den notwendigen Beweisen. | |
Und: „Kein einziger“, sagt Schrimm, habe ihm gegenüber jemals eine Tat | |
zugegeben. | |
Jetzt hat sich die rechtliche Lage verändert. Seit dem Urteil gegen John | |
Demjanjuk im Mai 2011 ist der individuelle Beweis einer Mordbeteiligung | |
nicht mehr zwingend notwendig. Das Landgericht München verurteilte den | |
ukrainischstämmigen Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor vor zwei Jahren | |
allein aufgrund seiner Anwesenheit in dem Lager, das einzig zur Ermordung | |
von Juden errichtet worden war. | |
## Der Dienstausweis als Beweisstück | |
Zentrales Beweisstück dafür war ein Dienstausweis, der Demjanjuk | |
überführte, am 27. März 1943 nach Sobibor abkommandiert worden zu sein. Das | |
Gericht sprach Demjanjuk der Beihilfe zum Mord in 28.060 Fällen schuldig | |
und verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft. Er starb im März 2012 in einem | |
oberbayerischen Pflegeheim. | |
Die nun anstehenden Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Auschwitz-Täter | |
erinnern an ein anderes Verfahren, das vor genau 50 Jahren seinen Anfang | |
nahm: Am 16. April 1963 wurde Anklage gegen 20 Männer erhoben. Dazu | |
gehörten Wilhelm Boger von der Lager-Gestapo, der Apotheker Victor Capesius | |
und der Rapportführer Oswald Kaduk. Keiner von ihnen gestand seine Schuld. | |
Das Verfahren endete mit lebenslangen und langen Haftstrafen. Drei | |
Angeklagte wurden damals freigesprochen. Auch jener erste Prozess markierte | |
eine Wende in der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen. | |
Die angekündigten Vorermittlungen im Fall der Auschwitz-Wachmänner bedeuten | |
indes keineswegs, dass die mutmaßlichen Täter auch verurteilt werden – | |
selbst wenn der konkrete Beweis ihrer Anwesenheit im größten | |
Vernichtungslager der Nazis erbracht worden ist. Die 1958 gegründete | |
Zentrale Stelle hat, wie ihr Behördenleiter Schrimm bedauert, keine eigene | |
Anklagekompetenz. | |
Die Fälle müssen also an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben | |
werden. Diese lassen sich mit ihren Ermittlungen gerne auch mal länger | |
Zeit. Angesichts des Alters der Verdächtigen steht zu befürchten, dass | |
viele von ihnen sterben, bevor es zu einer Anklage kommt. Und selbst wenn | |
diese dann noch am Leben sind, muss zunächst überprüft werden, ob die | |
Greise noch verhandlungsfähig sind. | |
## Die Haftstrafe ist nicht das Ziel | |
Doch um eine hohe Haftstrafe geht es Kurt Schrimm nicht unbedingt. „Ob ein | |
94-Jähriger heute noch ins Gefängnis kommt, kann nicht Hauptziel unserer | |
Aufgabe sein“, sagt er. Es gehe um die Aufklärung historischer Prozesse. | |
Schrimm: „Solange es noch Überlebende gibt, solange noch Opfer leben, | |
dürfen wir nicht sagen, dass uns das Ganze nichts mehr angeht.“ | |
Die Zentrale Stelle plant auch, die Personaldaten aus sämtlichen deutschen | |
Vernichtungslagern daraufhin zu untersuchen, wer unter den damals | |
eingesetzten Männern noch am Leben ist. Und das ist längst nicht alles: | |
Erst kürzlich ist Schrimm von einer Dienstreise aus Brasilien | |
zurückgekehrt, wo nun alle Einwandererakten im Internet einsehbar sind. | |
Jeder habe gewusst, dass viele Nazi-Verbrecher nach Südamerika ausgewandert | |
sind. | |
Schrimm: „Es kam aber früher niemand auf die Idee, das dort systematisch zu | |
ergründen.“ Die Ludwigsburger wollen künftig auch in den Einwandererakten | |
Brasiliens, Chiles und Argentiniens nach möglichen NS-Verbrechern suchen. | |
Zugleich durchforsten Schrimms Mitarbeiter in osteuropäischen Archiven | |
Gerichtsakten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es geht um deutsche | |
Kollaborateure und Kriegsgefangene. Schrimm: „Häufig wissen wir bei | |
Mordaktionen sehr genau, wer verantwortlich war, aber wir kennen die | |
Schützen nicht. Jetzt suchen wir nach Aussagen von Leuten, die damals | |
bezeugt haben, sie hätten den Müller oder den Maier bei der Tat gesehen.“ | |
Eigentlich war vorgesehen, die Zentrale Stelle zur Verfolgung von | |
NS-Verbrechen mit der Pensionierung ihres Chefs nächstes Jahr zu schließen. | |
Schrimm: „Die Umstände haben sich geändert. Ich meine, die Zentrale Stelle | |
wird über das Jahr 2014 bestehen bleiben.“ | |
7 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
Klaus Hillenbrand | |
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