# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Auf düsteren Straßen | |
> Warum die CDU in Berlin manchmal einfach richtig liegt. Und warum sich | |
> die Touristenikone Berlin New York annähern sollte. | |
Bild: Auch digital eine Schande: Treitschkestraße in Berlin. | |
Berlin ist ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch: Tausende von Gedenktafeln, | |
Hunderte von „Stolpersteinen“, viele Museen erinnern an Höhe- und | |
Tiefpunkte deutscher Geschichte. | |
Das zeigt sich zumal an Straßenbenennungen: Während eine schwarz-grüne | |
Koalition im Berliner Bezirk Steglitz selbstgerecht dafür steht, eine nach | |
dem Antisemiten Heinrich von Treitschke („Die Juden sind unser Unglück!“) | |
benannte Straße weiter so heißen zu lassen, trat diese CDU in | |
Charlottenburg dafür ein, einen städtebaulich unerheblichen „Wendehammer“ | |
nach Rabbi Menachem Mendel Schneerson zu benennen; ein Antrag, der von | |
Linken, SPD und Grünen nicht nur mit dem Argument abgelehnt wurde, dass die | |
Frauenquote bei Straßenbenennungen nicht erfüllt, sondern auch damit, dass | |
das orthodoxe Judentum eine frauenfeindliche Religion sei. | |
Der 1994 in Brooklyn verstorbene Schneerson war das geistige Oberhaupt der | |
Lubawitscher Chassidim, die heute erfolgreich versuchen, dem Judentum | |
entfremdete JüdInnen zu ihren spirituellen Quellen zurückzubringen. An | |
Pikanterie mochte es grenzen, dass als Sachverständige neben dem Autor | |
dieser Zeilen ausgerechnet eine postkommunistische jüdische Intellektuelle | |
mit DDR-Vergangenheit den Antrag der CDU im Bezirk unterstützte. | |
Wer verstehen will, warum, sollte zum jüngsten Buch der Autorin greifen, | |
das unter dem barocken Titel „Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem | |
Berlin fand oder Reisen Ankommen Leben“ (Kulturmaschinen 2012) erschienen | |
ist. Warum in aller Welt kommt eine säkulare Intellektuelle, die sich in | |
den letzten Jahren der DDR nicht nur für eine Renaissance jüdischen | |
Kulturlebens, sondern auch für eine Reform im Geiste Gorbatschows | |
eingesetzt hatte, eine Intellektuelle, die nicht verschweigt, in ihrer | |
studentischen Jugend mit der Stasi erst kooperiert, dann gebrochen zu | |
haben, dazu, für eine religiöse Bewegung einzutreten, die nach Auffassung | |
vieler als „fundamentalistisch“ zu gelten hat? | |
## New York ist für Juden unbelastet | |
Wer „Wie ich im jüdischen Manhattan …“ gelesen hat, wird das besser | |
verstehen. Mit diesem sehr persönlich gehaltenen Buch liegt ein Stück | |
„Asphaltliteratur“ im besten Sinne vor: Offenen Sinnes durchmustert die | |
1940 als Tochter eines emigrierten deutschen Kommunisten in New York | |
geborene Irene Runge die Stadt ihrer Sehnsucht; eine Stadt, die sie – an | |
keiner Stelle unkritisch gegenüber den Härten und Ungerechtigkeiten dieses | |
modernen Babylons – mit einer Hingabe liebt, mit der sie keineswegs alleine | |
steht. | |
New York steht auch für andere jüdische AutorInnen dieser Generation in | |
Deutschland für einen Ort, wo es sich unbelastet von Herkunft und | |
traumatischen Nachwirkungen des Nationalsozialismus, ohne permanenten | |
Druck, sich bekennen und Stellung nehmen zu müssen, als Jüdin oder Jude | |
leben lässt: rechts oder links, religiös oder säkular, proisraelisch oder | |
israelkritisch, für die Republikaner oder für Occupy. Szenen vom höchsten | |
jüdischen Feiertag, dem Versöhnungstag, beeindrucken: Jüdinnen und Juden | |
solidarisieren sich in Gottesdiensten in den Parks von Manhattan mit der | |
gegen Wall Street gerichteten Bewegung. „Occupy Judaism!“ | |
New York erweist sich für Runge als Chiffre für Rasanz, Pluralität und eine | |
Grundeinstellung, die niemanden ob seiner Fremdheit diskriminiert, weil | |
hier – allerdings nur zunächst – alle fremd sind. Die missionierenden | |
Chassidim aber begeistern die Autorin, weil sie an die Generation ihrer | |
Eltern erinnern: setzen sich doch die Lubawitscher Chassidim ebenso | |
selbstlos für eine Utopie ein, wie das die der Komintern verpflichtete | |
Generation ihrer Eltern tat. | |
Über den religionssoziologischen Gehalt dieser Annahme wäre zu debattieren, | |
indes geht es um anderes: Wird sich die global gehypte, fiebrige | |
Touristenikone Berlin in dieser Hinsicht New York annähern? Gibt es doch | |
etwa in Dahlem noch immer die Pacelliallee, nach dem bürgerlichen Namen von | |
Papst Pius XII. benannt, der den Holocaust widerspruchslos geschehen ließ, | |
und auch eine Dibeliusstraße in Charlottenburg. | |
Otto Dibelius, Mitglied der Bekennenden Kirche, überzeugter Antikommunist | |
und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche nach 1945, begrüßte am 1. | |
April 1933 – bald sind es 80 Jahre her, Dibelius war 53 Jahre alt – | |
feierlich den Judenboykott der NSDAP. Dire Streets in Berlin, der Rest ist | |
Party … | |
5 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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