# taz.de -- Buch-Neuerscheinung zu Israel: Hinterm Sternentor von Tel Aviv | |
> Diana Pinto, Vorkämpferin einer selbstbewussten jüdisch-europäischen | |
> Identität, bereist Israel und stellt fest: "Israel ist umgezogen". | |
Bild: Ein Sumatra-Tiger, Bewohner eines Tierparks bei Tel Aviv, wird - ganz asi… | |
Die Politik des jüdischen Staates Israel erregt einmal mehr die Gemüter in | |
Deutschland: Diesmal hat es die Grünen, aber auch die Bundesregierung | |
getroffen: Ist es zulässig, Waren, die von Israelis in der | |
völkerrechtswidrig besetzten Westbank produziert werden, als solche zu | |
kennzeichnen und damit eine souveräne Konsumentenentscheidung zu | |
ermöglichen? Grenzt es nicht an Antisemitismus, diese israelischen Waren zu | |
kennzeichnen, von Chinesen in Tibet produzierte Einfuhren jedoch nicht zu | |
stigmatisieren? Das sind deutsche Befindlichkeiten, die indes mit dem Land, | |
um das es ja gehen soll, nichts zu tun haben. | |
Wem ernsthaft daran gelegen ist, zu verstehen, bevor sie oder er urteilt, | |
kann nun zu einem Buch greifen, das in zweierlei Hinsichten seinesgleichen | |
sucht: Diana Pintos soeben erschienener Reisebericht „Israel ist | |
umgezogen“, von Jürgen Schröder geschmeidig und funkelnd aus dem | |
Französischen ins Deutsche übersetzt, knüpft an eine Gattung an, die ihren | |
Glanz bis ins 19. Jahrhundert entfaltete, um dann zu verkümmern: den | |
philosophisch inspirierten Reisebericht, eine literarische Form, die – | |
vermeintlich oberflächlich – analytisch tiefer dringt als systematische | |
Stoffhuberei. | |
Der hier anzuzeigende Reisebericht jedenfalls besticht nicht nur durch | |
große stilistische Eleganz, sondern auch durch einen Blick, der eine | |
Realität sichtbar macht, die uns bisher entgangen ist. | |
## Grundstürzend verändert | |
Diana Pinto, seit Jahren Vorkämpferin einer selbstbewussten, zutiefst | |
westlich geprägten jüdisch-europäischen Identität, selbst nie Zionistin, | |
aber voller Sympathie für Land und Leute, muss erkennen, dass dieses Land | |
und seine Gesellschaft mit den üblichen Kategorien der politischen | |
Geografie nicht mehr zu fassen ist. | |
Bei ihren Spaziergängen in der Altstadt von Jerusalem und am Strand von Tel | |
Aviv, ihrem Aufenthalt auf dem Ben-Gurion Airport sowie ihren intensiven | |
Debatten mit israelischen Intellektuellen von rechts bis links musste sie | |
feststellen, dass sich dieses Land grundstürzend verändert hat: „Israel ist | |
umgezogen“, und zwar von Europa nach Asien. | |
Das heißt in diesem Zusammenhang, dass Israel, diese scheinbar so | |
europäische Gesellschaft inmitten einer brodelnden arabischen Zivilisation | |
besser zu verstehen ist, wenn man sie wie Schanghai, Singapur oder auch die | |
hochproduktiven Hightech-Enklaven Indiens betrachtet. Alle Gesellschaften | |
dieses Typs sind durch ein ungewöhnlich hohes Niveau technischer | |
Entwicklung bei gleichzeitigem Neuentstehen ältester kulturell-religiöser | |
Traditionen gekennzeichnet. | |
## Tor zum Weltraum | |
Der Flughafen von Tel Aviv fungiert daher in Pintos Erfahrung wie ein Tor | |
zum Weltraum, eine der Science-Fiction entlehnte Sternenschleuse, die von | |
einem Universum (Europa) in ein ganz anderes (das neue Asien) führt – und | |
zwar plötzlich, in kürzester Zeit. Der aus Europa stammenden Reisenden | |
fehlen für diese neue Erfahrung soziologische Kategorien, weshalb sie sich | |
unbekümmert poetischen Begriffen anvertraut, die am Ende mehr erschließen | |
als die inzwischen nur noch modischen Theoreme des „Postkolonialismus“. | |
Israel und seine Gesellschaft mit all ihren so verschiedenen Menschen und | |
Gruppen: ultraorthodoxen Juden, säkularen Arabern, aus der Sowjetunion | |
stammenden Nationalisten, aus den USA eingewanderten religiösen Ideologen, | |
afrikanischen Flüchtlingen und südasiatischen Pflegekräften schießen ihr zu | |
drei Bildern zusammen. Israel als „Aquarium“, als „Blase“ und als „Ze… | |
Das Bild des „Aquariums“ – hier geht es besonders um Jerusalem – | |
verdeutlicht nicht nur die bunte Vielfalt, die große Transparenz und | |
gleichwohl hermetische Abgeschlossenheit dieser Gesellschaft, sondern auch | |
ihr Medium: den „Sauerstoff amerikanischen und europäischen Geldes“. Das | |
Bild der „Blase“ dagegen erschließt die „Mentalität eines Volkes, das w… | |
weg von jeglichem regionalen Wirrwarr und jeglicher lokalen Interaktion | |
leben möchte.“ | |
## Aquarium und Blase | |
Freilich sind Aquarium und Blase durch Interkontinentalflüge jederzeit | |
erreichbar: Jüdinnen und Juden – einmal durch das Sternentor des Flughafens | |
von Tel Aviv angekommen – finden sich in einem überdimensionierten „Zelt“ | |
wieder: in einer Heimat und Geborgenheit verheißenden, gleichwohl | |
unsicheren und flüchtigen, nach allen Seiten offenen Form des Wohnens, das | |
keine Stetigkeit und keine Zukunft mehr verheißt – nur noch Gegenwart, | |
Abschied und Aufbruch. | |
Pinto ergänzt ihre Raummetaphern durch eine Assoziation zur vergehenden und | |
zur stehenden Zeit. Sie will dem Umstand, dass Israel nicht nur das Land | |
der – freilich schwindenden – Erinnerung an die Schoah ist, sondern auch | |
jenes Land, in dem wie in keinem anderen die Technologie des „Memory Chip“ | |
weiterentwickelt wird, eine tiefere, geschichtsphilosophische Bedeutung | |
zumessen. | |
Indem Juden in den Staat Israel, dieses für sie offene Zelt, in diese | |
Blase, in dieses Aquarium ein- und ausreisen, werden sie zu Zeugen einer | |
Vergangenheit, der ansonsten die Überwältigung durch eine technische | |
Gegenwart droht: „Sollte etwa“, so fragt sie, sich selbst einschließend, | |
„die Rolle der Juden in der ganzen Welt darin bestehen, dieses ’andere | |
Speichermedium‘ für ein Israel zu sein, dem beim Verlassen des Westens der | |
Sinn für Geschichte und die Fähigkeit, mit anderen zu interagieren, | |
abhanden gekommen sind?“ | |
## Unverantwortliche Sorglosigkeit | |
Mit dieser Überlegung reiht sich Pintos Reisebericht in die große Tradition | |
einer die Juden betreffenden Geschichtsphilosophie ein, die von Hegel aus | |
zu Franz Rosenzweig führte, der die Juden in den 1920er Jahren – gegen jede | |
übliche Tradition – für das geschichtslose Volk par excellence hielt. Diese | |
Geschichtslosigkeit aber sei heute auf die unverantwortliche Sorglosigkeit | |
einer israelischen Gesellschaft übergegangen, die sich um ihre Zukunft | |
nicht mehr sorgt. | |
Auf dem Platz einer Synagoge in Jerusalem schießt es der Reisenden in einer | |
Erinnerung an den frühen Zionismus und sein heutiges Ergebnis, den Staat | |
Israel mitsamt seinem Militär und seinem Besatzungsregime, durch den Kopf: | |
„Überschwänglichkeit der frühen Jugend, Überheblichkeit eines jungen | |
Erwachsenen, greisenhafte Blindheit …“ | |
Am Ende wünscht sich die reisende Europäerin, dass das jüdische Israel zu | |
seiner alten Bescheidenheit, der Bescheidenheit der Pioniertage | |
zurückfinden möge. Sie weiß freilich, dass diese Hoffnung nicht sehr | |
begründet ist. | |
Diana Pinto: „Israel ist umgezogen“. Aus dem Französischen von Jürgen | |
Schröder. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 238 Seiten, | |
21,95 Euro. | |
17 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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