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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Vom Mantra zum Dogma
> Deutschlands Außenpolitiker plappern brav nach, dass nur direkte
> Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern den Frieden bringen
> können. Ein Irrglaube.
Die jüngste Ankündigung der israelischen Regierung, den Bau weiterer 1.100
Wohneinheiten in Ostjerusalem zu erlauben, hat die US-amerikanische
Außenministerin erbost. Dabei ist mit der israelischen Erklärung nur
beglaubigt worden, was alle wissen: Die Regierung Netanjahu will weder
Frieden noch einen palästinensischen Staat, sondern glaubt, die Sache noch
zehn bis fünfzehn Jahre lang aussitzen zu können und irreversible Fakten zu
schaffen.
Auch die USA sind am Stillstand beteiligt: In der paranoiden Überzeugung,
dass eine Minderheit angeblich gut organisierter jüdischer Wähler die
Präsidentschaftswahlen entscheidet, hat Barack Obama alle auch nur halbwegs
weiterführenden Überlegungen zu einer neuen Nahostpolitik preisgegeben. Die
vermeintlich präzisen Vorgaben des "Nahostquartetts" sind nicht mehr wert
als das Papier, auf dem sie stehen. Bis zur amerikanischen
Präsidentschaftswahl wird sich im zu Unrecht so genannten Friedensprozess
nichts tun; ein ums andere Mal werden Israelis oder Palästinenser Gründe
finden, nicht miteinander zu sprechen.
Sollte ein republikanischer Bewerber gewählt werden, wird sich keine
israelische Regierung auch nur einen Millimeter bewegen, sollte Obama
wiedergewählt werden, hätte er eine letzte Chance, sich der
Vorschusslorbeeren des Friedensnobelpreises als würdig zu erweisen.
Und Europa? Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, ihre Kanzlerin
und ihr Außenminister? Sie plappern brav das ewige Mantra vor sich her,
dass nur direkte Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern den
Frieden bringen können.
Wäre es nicht sinnvoll, dieses Mantra auf seine Wahrheit hin zu überprüfen?
Gewiss, Vergleiche hinken immer. Hätte man aber in den
Nachfolgebürgerkriegen des zerfallenden Jugoslawien immer wieder beteuert,
dass nur direkte Gespräche zwischen Serben, Kroaten, Bosniern und Kosovaren
Frieden bringen könnten – der Krieg dauerte noch heute an. Tatsächlich war
es ein unterschiedlich instrumentiertes Diktat auswärtiger Mächte mit ihren
je eigenen Interessen, das die Waffen zum Schweigen brachte.
Wären die außenpolitischen Experten der Bundesrepublik Deutschland nicht so
ungebildet, so wüssten sie, dass Benjamin Netanjahu einem politischen
Milieu entstammt, das den jüdischen Staat auf beiden Seiten des Jordans
etablieren wollte und für das schon der Verzicht auf Jordanien schmerzlich
genug ist. Hätten diese deutschen Experten auch nur einen Blick in die
Theologie der nationalreligiösen Partei und ihrer verschiedenen
Anhängerschaften einschließlich der radikalen Siedler geworfen, so könnten
sie wissen, dass die Eroberung Ostjerusalems und des Westjordanlands, von
"Jehuda und Schomron", in ihren Augen ein göttliches Zeichen, der Anfang
der Erlösung ist.
Nimmt man zudem zur Kenntnis, dass die einst hochprofessionelle israelische
Armee mit mehr als 40 Prozent religiöser Männer im Offizierskorps, die im
Zweifelsfall ihren Rabbinern eher gehorcht als der politischen Führung, zu
einer "Pasdaran"-Armee mutiert, wie sie im Iran existiert, so wird
verständlich, warum diese Gruppen nicht den geringsten Anlass haben,
irgendwelche Kompromisse einzugehen. Schließt man über Gottes Verheißungen
Kompromisse? Gibt man das in der Bibel verheißene Land Israel wieder auf?
Genauso viel oder genauso wenig wie aufrechte serbische Nationalisten das
Amselfeld preisgeben würden!
Fortschritt in Richtung eines vorerst auch nur kalten Friedens kann es nur
geben, wenn das zum Dogma gewordene Mantra der direkten Gespräche
aufgegeben wird und sich die Europäer dazu aufraffen, Israelis und
Palästinenser vor harte Alternativen zu stellen. Von der israelischen
Regierung ist um den Preis des am 1. 6. 2000 geschlossenen
Assoziierungsabkommens mit der EU zu fordern, dass sie den Siedlungsbau
einstellt und erste Schritte zur Rückführung der Siedler unternimmt, von
den Palästinensern aber – Hamas hin, Iran her –, dass sie nach dem schweren
Schritt der Anerkennung Israels als Staat nun auch förmlich auf ihr
"Rückkehrrecht" verzichten – bei Strafe des Entzugs finanzieller
Zuwendungen aus der EU.
Dann könnte Europa – zumal Deutschland – Israel und Palästina nicht nur
einen EU-Beitritt in Aussicht stellen, sondern sich auch an einer würdigen
Präsentation des Krieges von 1948 beteiligen, während dessen tatsächlich
etwa 700.000 Palästinenser vertrieben wurden. Ein Unrecht, das zwar nicht
rückgängig gemacht, dessen aber in Würde gedacht werden kann.
4 Oct 2011
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Israel
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