# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Aufklärung erbeten | |
> Der Dresdner Kirchentag war im Hinblick auf den grünen Zeitgeist up to | |
> date. Aber weiß man, wohin der Geist der Kirchensteuerzahler weht? | |
Wenn es um den Kampf gegen Fehlentwicklungen in Staat und Gesellschaft | |
geht, will sich der Deutsche Evangelische Kirchentag von niemandem | |
übertreffen lassen. Nach dem Dresdner Kirchentag hatte die Direktorin der | |
Amadeu Antonio Stiftung, Annetta Kahane, in einer bitter klingenden Kolumne | |
der Berliner Zeitung moniert, dass zu einer Kirchentagsveranstaltung zum | |
deutschen Rechtsextremismus noch nicht einmal genug Menschen gekommen | |
waren, um eine entsprechende Resolution zu verabschieden. Auf der | |
Veranstaltung selbst hatte Kahane religionssoziologische Forschungen | |
präsentiert, nach denen rechtsextreme Haltungen unter Mitgliedern | |
religiöser Gemeinschaften häufiger verbreitet seien als unter | |
Konfessionslosen. Ihre weitere Bemerkung, dass in den Dresdner Kirchen eine | |
Gleichsetzung des "Opferstolzes" der Dresdner Bevölkerung mit dem | |
Opferbewusstsein Überlebender der Schoah vorgenommen werde, brachte das | |
Fass zum Überlaufen. | |
Nicht nur wandten sich die Präsidentin des DEKT, die grüne | |
Bundestagsabgeordnete Katrin Göring-Eckhardt, und ihre Generalsekretärin, | |
Ellen Überschär, in einem geharnischten Leserbrief an die Berliner Zeitung, | |
nein, dem Vernehmen nach - es handelt sich nur um ein unbestätigtes Gerücht | |
! - soll sich der zwar nicht evangelische, aber dem Kirchentag verbundene | |
Bundestagsvizepräsident Thierse bitter über Kahanes Kolumne beschwert und | |
behauptet haben, sie hätte mit ihrer Behauptung unzählige Christenmenschen | |
beleidigt. Si non e vero, e bene trovato! | |
Nun ist es gegenüber einem übermäßig protestantischen Schuldkomplex immer | |
richtig, darauf zu beharren, dass ein wenig Selbstgerechtigkeit besser ist | |
als Ungerechtigkeit. Gleichwohl wirkt es übertrieben, wenn das Gespann von | |
Kirchentagspräsidentin und Generalsekretärin in seinen Briefen darauf | |
hinweist, dass eine Kollekte des Kirchentages in Höhe von 132.000 Euro an | |
einen kirchlichen Arbeitskreis ging, der sich dem Kampf gegen den zumal in | |
Sachsen grassierenden Rechtsextremismus widmet. Diesen Einsatz wird niemand | |
schmälern wollen; gleichwohl geht der Hinweis auf ihn am Kern der Sache | |
vorbei. | |
## Irrende Schafe vom falschen Weg abbringen | |
Trifft es - wider Erwarten - zu, dass - in Deutschland - rechtskonservative | |
bis rechtsextreme Haltungen unter Mitgliedern der Kirchen deutlich stärker | |
ausgeprägt sind als unter Konfessionslosen? Und wenn es so wäre, hätte dann | |
Kahane nicht recht, wenn sie die politisch verantwortlichen Christen | |
auffordert, sich vor allgemeinen Stellungnahmen zu Gott und der Welt - von | |
Fukushima bis nach Kabul - zunächst um die irrenden Schafe, die Brüder und | |
Schwestern im Glauben zu wenden und vom falschen Weg abzubringen? | |
Die Antwort darauf ist keinesfalls eindeutig zu geben, ebenso wenig, wie | |
die behaupteten religionssoziologischen Aussagen widerspruchsfrei | |
hinzunehmen sind. Sie hätten es aber verdient, vor der Äußerung beleidigter | |
Abwehrreflexe und selbstgerechter Hinweise ernst genommen und überprüft zu | |
werden. | |
Da trifft es sich gut, dass die SPDnahe Friedrich-Ebert-Stiftung - sie hat | |
beste Beziehungen zu unterschiedlichen christlichen Kreisen - am 2. 8. zu | |
einem hochrangig besetzten Seminar (Margot Käßmann, Wolfgang Huber, | |
Wolfgang Thierse u. a.) zum Thema "Kirche und Rechtsextremismus" einlädt, | |
zu dem auch die Kritikerin des Kirchentages, Annetta Kahane, eingeladen ist | |
- man würde sich wünschen, an prominenter Stelle! | |
## Das janusköpfige Antlitz der evanglischen Kirche | |
Bei alledem geht es nicht nur um eine Petitesse am Rande eines religiösen | |
Festivals. Nach wie vor werden die Reformation und zumal die Gestalt Martin | |
Luthers als religiöses, als theologisches Phänomen wahrgenommen, während | |
sie doch vor allem ein politisch-revolutionäres Ereignis waren und Martin | |
Luther deshalb - im Guten wie im Schlechten - endlich als einer der | |
bedeutendsten politischen Denker der Neuzeit wahrzunehmen wäre: Das | |
deutsche Luthertum jedenfalls war aufgrund der inneren Modernität dieser | |
Religion dem jeweiligen Zeitgeist gegenüber stets übermäßig aufgeschlossen. | |
Als Ausdruck einer frühbürgerlichen Revolution, als "bekennende Kirche", | |
die in ihrer Masse während des Nationalsozialismus weniger für verfolgte | |
Juden tat, als immer gemeint wird; als nationalkonservative Ideologie, die | |
erst in den 1960er Jahren ein positives Verhältnis zu Demokratie und | |
Parlamentarismus fand, als schmiegsame "Kirche im Sozialismus" und | |
schließlich als Forum außerparlamentarischer, zivilgesellschaftlicher | |
Bewegungen zeigt die evangelische Kirche allemal ein janusköpfiges Antlitz. | |
Daher: Dass der Dresdner Kirchentag im Hinblick auf den grünen Zeitgeist up | |
to date war, kann und soll gar nicht bestritten werden. Indes: Weiß man | |
denn wirklich, welcher Geist über einer möglicherweise schweigenden | |
Mehrheit von Gemeindemitgliedern und Kirchensteuerzahlern weht? | |
5 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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