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# taz.de -- EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik: Merkels Stunde der Wahrheit
> Werden sich die EU-Länder am Donnerstag auf eine Verteilung der
> Flüchtlinge in der Union einigen? Ein Überblick über die Positionen der
> Staaten.
Bild: Die Drahtzäune liegen schon bereit.
Wir müssen zusammenhalten – koste es, was es wolle! Das ist die Devise der
Berufseuropäer in Brüssel. Kurz vor dem EU-Sondergipfel am Donnerstag
warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk davor, Griechenland in der
Flüchtlingspolitik auszugrenzen oder gar aus dem Schengen-Raum zu drängen.
„Griechenland hat die Flüchtlingskrise nicht heraufbeschworen“, sagte Tusk
bei einem Treffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras
in der griechischen Hauptstadt Athen. Ein Auschluss des Landes würde kein
einziges Problem lösen.
Tusk stemmt sich damit gegen den „Plan B“ von Polen, Ungarn, Tschechien.
Danach soll die so genannte Balkanroute für Flüchtlinge geschlossen werden.
Damit einher ginge eine Isolierung Griechenlands. Dagegen sprach sich auch
die EU-Kommission aus. Eine neue Mauer quer durch Europa müsse verhindert
werden. Allerdings sei gegen etwas mehr Druck auf Griechenland nichts
einzuwenden, damit es seine Grenzen besser absichere.
Bei dem zweitägigen EU-Gipfel soll die Flüchtlingskrise nur ein Thema unter
mehreren sein. Im Mittelpunkt stehen neue Zugeständnisse an Großbritannien,
mit denen ein EU-Austritt – der sogenannte Brexit – verhindert werden soll.
Premier David Cameron fordert unter anderem eine „Notbremse“ gegen
unerwünschte Migration aus Europa.
Vor dem eigentlichen Gipfeltreffen soll es wieder ein Stelldichein der
„Koalition der Willigen“ um Kanzlerin Angela Merkel geben. Gastgeber ist
erneut der österreichische Kanzler Werner Faymann; auch Frankreichs
Staatschef François Hollande will erstmals teilnehmen. Vor allem deutsche
Diplomaten hoffen, dass Hollande das Nein seines Premierminister Manuel
Valls zu neuen Flüchtlingskontingenten relativieren könnte.
Ohne Frankreich kann Merkel ihre Pläne für eine europäische Lösung der
Flüchtlingskrise nicht mehr umsetzen. Auf dem EU-Gipfel könnte sich deshalb
auch ihr politisches Schicksal entscheiden. (Eric Bonse)
## Großbritannien sperrt sich
Am vorgesehenen Quotensystem der EU für Flüchtlinge beteiligt sich
Großbritannien nicht. Bisher leben rund 130.000 Flüchtlinge im Land – das
sind 0,19 Prozent der Bevölkerung. Im Jahr 2015 wurden rund 25.000
Asylanträge gestellt, davon wurden 41 Prozent bewilligt. Auf die
Bevölkerungszahl umgerechnet hat GB die wenigsten Asylanträge in der EU.
Großbritannien hat seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 rund 5.000
Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Bis 2020 sollen weitere 20.000
hinzukommen – allerdings nicht aus anderen EU-Ländern, sondern aus Lagern
nahe der syrischen Grenze. Vor allem sollen Waisen und Flüchtlinge, die
Opfer von Folter oder sexueller Gewalt geworden sind, aufgenommen werden.
(Ralf Sotschek)
## Schweden für die Flüchtlingsverteilung
Schweden, Finnland und die baltischen Staaten hatten die Aufnahme von
Flüchtlingen im Rahmen des letzten Verteilschlüssels der EU akzeptiert. Was
eine Quotenregelung für jetzt Ankommende angeht, hat sich bislang Schweden
positiv, Finnland skeptisch und Lettland ablehnend geäußert.
Dänemark steht wegen der dem Land eingeräumten Ausnahmen außerhalb der
gemeinsamen EU-Asyl-und-Flüchtlings-Politik. Eine freiwillige Beteiligung
hat Kopenhagen abgelehnt. In Dänemark und Schweden gibt es Kontrollen an
den Grenzen. Die Regierungen aller skandinavischen und baltischen
EU-Staaten betonen die Notwendigkeit einer besseren „Kontrolle“ der
EU-Außengrenzen – ohne konkreter zu werden. (Reinhard Wolff)
## Deutschland für europäische Lösung
Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangt eine Verteilung der Flüchtlinge auf
alle EU-Mitgliedsstaaten – je nach Größe, Bevölkerungszahl und
Wirtschaftskraft. Merkel hat dafür ein Abkommen mit der Türkei befürwortet,
das federführend von Deutschland ausgehandelt wurde. Danach riegelt die
Türkei die EU-Außengrenze zu Griechenland ab, nimmt Flüchtlinge zurück, die
über die Türkei in die EU eingereist sind, und erhält 3 Milliarden Euro
Unterstützung von der EU.
Über Kontingente werden Flüchtlinge dann in die EU verteilt, ähnlich wie es
mit 160.000 Flüchtlingen aus sogenannten Hotspots in Griechenland geplant
ist – aber nicht funktioniert. Deutschland befürwortet den Einsatz von
Frontex an den EU-Außengrenzen und will Schiffe der Bundeswehr in die Ägäis
schicken. Greifen diese Maßnahmen, würden deutlich weniger Flüchtlinge nach
Deutschland kommen – das ist das Ziel der Bundesregierung. (Christina
Schmidt)
## Spanien fast ohne Flüchtlinge
Die Schließung der Binnengrenzen in Europa ist in Spanien kein Thema.
Spaniens Südgrenze ist EU-Außengrenze. Radar und Wärmeüberwachung schützen
die Meerenge von Gibraltar, Grenzzäune die Exklaven Ceuta und Melilla.
Nirgends ist die Frontex so aktiv wie hier. Wer die gut gesicherte
EU-Südgrenze dennoch überwindet, will meist nicht bleiben. Ihn zieht es ins
reichere Mittel- und Nordeuropa.
Spanien kennt so gut wie keine Flüchtlingspolitik. Im ganzen Land gibt es
nur 900 Plätze in Flüchtlingsunterkünften. Im September hat sich die
Regierung nach langer Weigerung gegenüber Brüssel dazu bereit erklärt,
insgesamt 17.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Das liegt weit unter dem, was
Spanien proportional als Quote zukommen würde. Über die Frage einer
Aufnahme weiterer Flüchtlinge hat sich die Regierung nicht festgelegt.
(Reiner Wandler)
## Frankreich: Nicht zu uns!
Premierminister Manuel Valls hat deutlich gemacht, dass Frankreich neue
Quoten zur Verteilung der Flüchtlinge in den Mitgliedsstaaten ablehnt. Sein
Land würde, wie im letzten Jahr in der EU versprochen, zwar bis zu 30.000
Flüchtlinge übernehmen -- aber nicht mehr. Darüber hinaus wünscht die
französische Regierung, dass vor allem die äußeren Grenzen des
Schengen-Raums schärfer kontrolliert werden und dass zur Registrierung der
Asylsuchenden in diesen Außenposten so genannte Hotspots eingerichtet
werden.
Paris würde es in Kauf nehmen, Mitgliedsstaaten, die ihre Kontrollaufgabe
nicht ernst genug nehmen, provisorisch aus der Schengen-Gemeinschaft
auszuschließen. Die Regierung möchte aber vermeiden, dass durch permanente
Grenzkontrollen die Freizügigkeit mit den Nachbarländern generell
rückgängig wird. Diese eigenen Grenzen werden jedoch zur
Terrorismusbekämpfung bereits heute punktuell überwacht. (Rudolf Balmer)
## Italien: Abgeben erwünscht
„Wer Schengen zerstören will, will Europa zerstören, und das werden wir
nicht zulassen.“ Drastische Worte findet Italiens Ministerpräsident Matteo,
wenn es um die offenen Grenzen geht. Italien fürchtet die Schlagbäume, weil
es zu den Hauptankunftsländern für die übers Mittelmeer kommenden
Flüchtlinge zählt. Das in Rom ausgemalte Szenario: Die Balkanroute wird
blockiert, und Hunderttausende Flüchtlinge nehmen den Weg über Albanien und
die Adria Richtung Apulien.
Schon hat Österreich angekündigt, binnen Wochen solle die Grenze am Brenner
dicht gemacht werden. Italien begrüßt eine Flüchtlingsverteilung und geht
dabei davon aus, selbst Asylbewerber in andere EU-Staaten abgeben zu
können. (Michael Braun)
## Griechenland fürchtet Stau
Eine Schließung der Binnengrenzen lehnt Griechenland ab. Bei Aufhebung der
Schengen-Regeln käme es aus Athener Sicht zum Rückführungsstau; außerdem
säßen Neuankömmlinge im Land fest. 2015 gelangten über 750.000 Flüchtlinge
nach Hellas. Forderungen aus Brüssel, die EU-Außengrenze dicht zu machen,
finden Zuspruch.
Da die Flüchtlinge über die Türkei einreisen, macht Premier Tsipras
allerdings das Nachbarland für die Grenzsicherung verantwortlich.
Gemeinsame griechisch-türkische Patrouillen werden abgelehnt. Derzeit
gehört das Mittelmeerland zu den Befürwortern einer EU-Verteilerquote und
will selbst zunächst 50.000 Flüchtlinge aufnehmen. (Jannis Papadimitriou)
## Ost-Mitglieder: Macht die Grenzen zu Hellas dicht
Die Regierungschefs Ungarns, Polens, der Slowakei und Tschechiens haben ein
gemeinsames Ziel. Die Mitglieder der sogenannten Visegrád-Gruppe lehnen die
Migration von Flüchtlingen ab. Zudem verweigern sie sich einer
Quotenregelung für neu ankommende Flüchtlinge. Die Slowakei will zudem auf
keinen Fall muslimische Migranten ins Land lassen und klagt gegen die
bereits vereinbarte, aber nicht umgesetzte Verteilung von Flüchtlingen.
„Wir werden nicht untätig zusehen, wie Tausende von Migranten zu uns
kommen“, erklärte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico am Montag
in Prag.
In einem gemeinsamen Memorandum, sekundiert von Bulgarien und Mazedonien,
verlangen die Staaten einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen.
Andernfalls „könnten die Grundlagen der Europäischen Union in Zweifel
gezogen werden“, heißt es. In ihrem „Plan B“ ist vorgesehen, die
mazedonisch-griechische Grenze für Flüchtlinge zu schließen. Schon jetzt
unterstützen die Visegrád-Länder Mazedonien bei der Grenzsicherung. „Ich
bin überzeugt, dass Griechenland nicht fähig ist, seine Verpflichtungen zu
erfüllen, wenn es um den Schutz der Schengen-Grenzen gilt“, sagte Fico.
(Alexandra Mostyn)
16 Feb 2016
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