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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Grenzen abschaffen und laufenlassen
> Staatsgrenzen sind in Europa noch nicht lange normal. Sie sollten
> geöffnet werden und Geflüchtete neue Städte bauen. Ein Entwurf.
Bild: Realistisch bleibt der EU nur die Öffnung.
Staatsgrenzen sind Realität – und für die meisten Menschen etwas
Selbstverständliches und geradezu Notwendiges. Aber wie normal sind Grenzen
wirklich? In der politischen Psychologie ist sogar die Schizophrenie
normal: Ist der Bürger zu Hause, will er die Grenzen seines Staates bestens
geschützt und schärfstens kontrolliert wissen. Begibt er sich aber auf
Reisen, sollen die Grenzen möglichst durchlässig, ja am besten unsichtbar
sein. Er will an Grenzen nicht aufgehalten werden, aber er will, dass
andere, die in sein Land kommen, an Grenzen aufgehalten und möglichst
zurückgewiesen werden. Das Fremde will er am Zielort seiner Reise als
„interessante andere Kultur“ erleben, aber zu Hause empfindet er das Andere
als Bedrohung „seiner Kultur“.
Der Bürger kann euphorisch werden, wenn Grenzen plötzlich verschwinden, wie
es etwa beim Fall der Berliner Mauer war, überhaupt beim Fall des Eisernen
Vorhangs, aber er will die Grenze wieder zurück, wenn Menschen von „drüben�…
womöglich herüberwollen, auf seinen Arbeitsmarkt. Er selbst fährt
„hinüber“, wenn er drüben billiger konsumieren kann, aber er versteht
nicht, dass Menschen „herüber“wollen, um hier besser zu verdienen. Der
besorgte Bürger kann, wenn es um seine Menschenrechte geht, fehlerfrei
zitieren, dass sie „universal“ seien, gegenüber anderen aber will er sie
als bloßes nationales Recht verteidigen.
Das ist gegenwärtige „Normalität“.
Historisch allerdings sind politische Grenzen alles andere als normal. Im
Gegenteil: Das System der politischen Grenzen, die heute mehrheitlich als
normal angesehen und wieder errichtet und verteidigt werden, ist die
historische Ausnahme und wird in absehbarer Zeit auch wieder als kurzer
historischer Sonderfall gesehen werden.
Die sogenannten vier Freiheiten (Personenfreizügigkeit sowie Freizügigkeit
für Waren, Dienstleistungen und Kapital) sind die größte Errungenschaft des
europäischen Einigungsprojekts nach dem Krieg, aber sie sind kein Novum in
der europäischen Geschichte, sondern bloß ein Schritt zur Wiederherstellung
historischer Normalität: Denn Grenzenlosigkeit gab es in Europa die längste
Zeit, vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.
## Keine Reisegrenzen in Zeiten deutscher Kleinstaaterei
Selbst in den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei: Da gab es in der Regel
Zollgrenzen, aber keine Reisegrenzen. In seinem Stück „Leonce und Lena“
machte sich Georg Büchner darüber lustig, wie viele Grenzen man in
deutschen Landen bei einem Nachmittagsspaziergang überqueren konnte, ohne
es zu merken.
Im Mittelalter wanderte der deutsche Reichstag und versammelte die
deutschen Kurfürsten in verschiedenen europäischen Städten von Luxemburg
bis Prag, die heute nicht alle unbedingt innerhalb der Grenzen der heutigen
Bundesrepublik liegen. Die mittelalterlichen Studierenden zogen ihren
Lehrern hinterher von Rotterdam bis Bologna. Allenfalls Kultur-, Küchen-,
Sprach-, Religions- oder geografische Grenzen, nicht aber nationale Grenzen
waren in Europa wichtig und augenfällig, aber diese kulturellen Grenzen
trennten nicht; im Gegenteil, sie verbanden Europa.
Selbst topografische Grenzen wie Flüsse oder Berge schafften es nicht,
einheitliche Kulturräume zu trennen: Die Basken leben südlich und nördlich
der Pyrenäen; die Tiroler südlich und nördlich des Brenners. Der Rhein
wiederum entwickelte sich nie zur nationalen Grenze Frankreichs. Sprach-
und Religionsgrenzen teilten und teilen Deutschland, ohne je zu politischen
Grenzen zu werden. Gleichzeitig konnte man auf Schienen, die Hunderte von
Kilometer lang grenzenlos waren, vom Habsburger Herzland durch Böhmen und
Mähren nach Galizien fahren.
Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach
Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln, wie Stefan Zweig
schrieb. Man musste damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und
nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn…
die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest
haltmachte. „Ausland“, schrieb Heinrich Mann, „war vor 1914 bloß eine
Redensart.“ Und man konnte ohne Visum von Moskau aus in die Sommerfrische
nach Baden-Baden oder Nizza reisen; oder von Berlin an die Kurische
Nehrung. Oder auch von Belgrad nach Sofia. Und für alle, die heute ihren
Pass für etwas völlig Normales und Notwendiges halten: Das, was wir heute
unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920.
Damals definierte der Völkerbund, wie ein „Passport“ ausgestattet und
beschaffen sein müsse, um von den Staaten der Welt als Reise- und
Grenzübertrittsdokument anerkannt zu werden. Interessant (und leider
vergessen) ist die [1][Präambel, die der Völkerbund der Definition eines
international anerkannten Passes voranstellte], nämlich dass die Einführung
des Passes nur vorläufige Gültigkeit habe, bis zum „complete return to
pre-war conditions which the conference hopes to see gradually
re-established in the near future“.
## Globales Nomadentum nicht nur für Konzerne
Die heutige grenzenlose „Schengen-Zone“ als historische Einmaligkeit, als
geradezu revolutionäre Errungenschaft der jüngeren europäischen
Integrationsgeschichte zu sehen, ist darum irreführend. Im Gegenteil: Die
Erinnerung daran, dass jahrhundertelang europäische Grenzenlosigkeit
selbstverständliche Normalität war, ist wichtig, um überhaupt diskutieren
zu können, was dieser europäische Raum heute sein soll, nämlich was er
immer schon war: ein Palimpsest aus Grenzen, die aber keine sind, sondern
die lediglich die Kulturräume definierten, die aus der kulturellen Vielfalt
in Europa immer den einen europäischen Raum gemacht haben.
Sich daran zu erinnern, ist auch wichtig, um diskutieren zu können, wie
dieser europäische Raum mit der Flüchtlingsfrage umgehen kann – und sollte.
Würden die Europäer die europäische Geschichte kennen und nicht bloß das,
was sie kennen, für normal halten, dann hätten sie selbstverständlich
diesen Wunsch: den jahrhundertelangen historischen Normalzustand von
Grenzenlosigkeit in Europa wieder zu errichten, der erst durch die zwei
Weltkriege, den „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ Europas, im 20. Jahrhunde…
brutal und blutig zerstört wurde. Genau davon aber entfernt sich die EU
heute in rasantem Tempo, und zwar nicht erst seit der sogenannten
Flüchtlingskrise, die zum Anlass genommen wird, wieder an das finsterste
Kapitel der Geschichte der europäischen Neuzeit anzuschließen: durch
Grenzkontrollen, Grenzsperren, gar durch Bau von Zäunen und Mauern
innerhalb Europas.
Tatsächlich ist im europäischen Diskurs schon früher die Ambition verloren
gegangen, die EU als Projekt zu sehen, dessen Gründungsabsicht es war,
Europa wieder zu europäisieren und die Nationalstaaten zu überwinden. Das
hat viele Gründe: Die gegenwärtigen politischen Eliten sind zu jung, um die
Gründungsabsicht des europäischen Projekts mitbekommen zu haben, aber sie
sind zu alt, um sich etwas anderes vorstellen zu können als das Gewohnte,
das nationale System, in dem sie ihre Karrieren gemacht haben.
Irgendwie wissen sie oder wird ihnen gesagt, dass ein vollständiges
Scheitern der Union zu schwerem ökonomischem Schaden führen würde – für
ihre jeweilige Nationalökonomie. Bei allem anderen aber könne und müsse man
bei Bedarf wieder Abstriche machen. Und was sie definitiv wissen, ist, dass
sie nur in nationalen Wahlen gewählt werden, weshalb sie die Fiktion
nationaler Interessen aufrechterhalten müssen, um Zustimmung der Wähler zu
ihren Ämtern, allerdings nicht zum europäischen Projekt, zu organisieren.
„So viel Europa wie möglich, so viel Nationalstaat wie nötig“, so eröffn…
der niederländische Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans zu
Beginn des Jahres die niederländische Ratspräsidentschaft. Das spricht für
nicht viel Ehrgeiz bei der nationalen Grenzüberwindung, gar vom Fernziel
einer Auflösung nationaler Grenzen, von dem die Gründungsväter der EWG,
Jean Monnet oder Walter Hallstein, noch geträumt hatten.
## Nationale Regression
Die Flüchtlinge nun verschärfen auf eigentümliche Art diese nationale
Regression. Wo eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage nicht in Sicht
ist – weder bei der Verteilung der Flüchtlinge in Europa noch, wenigstens,
bei der gemeinsamen Sicherung der Außengrenzen, wie jetzt vielfach
gefordert – und wo auch eine gemeinsame und kohärente europäische
Außenpolitik auf sich warten lässt, bleibt nur die Flucht in den nationalen
Rückzug, die aber de facto nur denjenigen europäischen Staaten möglich ist,
die keine EU-Außengrenze haben, also zum Beispiel Dänemark.
Aber Griechenland, Italien oder die Länder auf der Balkanroute – ob EU oder
nicht – haben keine Wahl: Sie werden von Flüchtlingen überrannt, ganz egal,
was sie tun, um das zu verhindern – denn solange die EU sich nicht
entschließt, Stacheldraht auf Mittelmeerstränden zu verlegen oder
Flüchtlingsboote mit Waffengewalt abzuwehren, kann ihre Wassergrenze nach
Süden gar nicht „geschützt“ werden: Die EU kann sich nicht vom Mittelmeer
abschneiden, das übrigens als mare nostrum kulturgeschichtlich das
europäische Meer schlechthin ist – und von dessen Handelsrouten sich die EU
keinesfalls abschneiden will.
Die Frage ist heute also, wie man in Zukunft organisatorisch damit umgehen
will, dass Europa offene Grenzen für den Handel will und braucht, aber
nicht für Menschen. Die Tatsache, dass durch die bereits stattgefundenen
und weiter zu erwartenden Grenzschließlungen innerhalb der EU jetzt zum
Beispiel auch der Lkw-Verkehr – und damit Wirtschaft, Produktion, Handel
und Konsum und letztlich unser Lebensstandard – betroffen (und bedroht)
sein könnten und dass sich geschlossene Grenzen auf Heller und Pfennig
buchhalterisch als Verlust beziffern lassen, weiter, dass
Just-in-time-Management und knappe Lagerhaltung nur möglich sind, wenn Lkws
eben nicht durch langes Warten Zeit hinter Grenzzäunen verlieren, das alles
dämmert inzwischen den Wirtschaftsministern der Nationalstaaten.
Aber eine Grenze, die für Lkws offen, für Flüchtlinge indes geschlossen
ist, die kann es nicht geben. Schließung ist also nicht machbar und mithin
keine Lösung, Obergrenzen auch nicht. Der EU bleibt realistisch nur die
Öffnung – sie wird ihren Raum und sprichwörtlich ihre Welt teilen müssen,
mit den anderen, den Menschen, die nach Europa wollen.
Derzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg,
Hunger und Misere. Die USA, Australien oder Kanada, die jeweils nur rund 10
000 Flüchtlingen pro Jahr Asyl gewähren wollen, haben de facto die Genfer
Flüchtlingskonvention aufgekündigt: nämlich dass sich die Staatenwelt
gemeinsam um die Flüchtlinge kümmert und dass jeder Flüchtling einen
Anspruch auf Asyl hat.
Gleichzeitig wird deutlich, dass Asyl- und Bürgerrechte in Zukunft immer
mehr miteinander verschmelzen werden: Aus Bürgerrechten ergeben sich
soziale Anspruchsrechte für Staatsbürger; aus dem Asylrecht menschliche
Grundrechte auf Aufnahme und Versorgung jenseits von Staatsbürgerschaft,
und beides fällt immer mehr zusammen: Jeder hat ein Recht auf Heimat und
Sicherheit. In Zeiten des globalen Nomadentums und der notwendigen Suche
nach einer neuen Heimat für viele heißt die entscheidende Frage daher: Wie
kann man diesen Prozess friedlich und für alle menschengerecht
organisieren?
Die belgische Psychoanalytikerin Luce Irigaray prägte den Begriff „Welt
teilen“ als moderne Fortschreibung des Kant’schen „Weltgastrechts“, das
davon ausgeht, dass alle Menschen – gleich geboren – mithin das gleiche
Recht haben, prinzipiell überall auf der Welt leben zu dürfen. Gegenüber
diesem Menschenrecht können Staaten also nicht die territoriale
Daseinsberechtigung für Menschen definieren. In der Zukunft wird es darum
gehen müssen, exterritoriale Demokratie zu organisieren und den Anspruch
der Menschenrechtsdeklaration einzulösen: dass die Anerkennung der
Menschenrechte nicht abhängig von bestimmter „Staatsbürgerschaft“ ist.
## Heimat in Zeiten permanenter Migration
Die angekündigte Klimakatastrophe, mit allen Folgen der globalen
Bodenverknappung, wird die Nationalstaaten noch stärker unter Druck setzen:
Das Insistieren auf territorialer Staatlichkeit, als Privileg, innerhalb
von staatlichen Grenzen Grund und Boden für die eigenen Staatsbürger (und
für Millionäre, die sich einkaufen) zu reservieren, wird nicht
durchzuhalten sein. Das gilt auch für den europäischen Raum. Es geht also
um das globale Recht auf Heimat und Teilhabe aller an der globalen Allmende
jenseits von Staaten, um die Organisation von Heimat in Zeiten von
permanenter Migration.
Jeder Mensch muss also in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu
durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will, zumal die
globalisierte Welt ohnehin für alles andere außer für Menschen schon ein
einziges System der Vernetzung, der Durchlässigkeit und der
Grenzenlosigkeit ist: von Pipelines über Breitband, vom Highspeed-Handel
der Finanzmärkte bis hin zu den supply chains der Warenprodukte
funktioniert alles de facto schon längst unbehindert von nationalen
Grenzen. Diese Tatsache in einem neuen politisch-institutionellen System
abzubilden, ist jetzt die Herausforderung. Es geht also darum, die
vielfältige und vielschichtige globale Vernetzung politisch auszugestalten,
anstatt nationale Reviere abzugrenzen, die sich mit der Kant’schen Logik
nicht begründen lassen.
Es geht um einen Verbund von Heimaten: Im Verbund inbegriffen sind
Verbindlichkeit und Verbundenheit: Recht und Norm. Rechtliche
Verbindlichkeit verpflichtet alle auf eine Verfassung; normative
Verbundenheit ermöglicht die Beteiligung an dem, was alle betrifft. Jeder
hat teil am Vorhandenen, und jeder bringt das Seine ein. Es geht um die
freie Organisation von Otherness in verbindlichem Rechtszustand, in den
Worten von Luce Irigaray, das heißt, um die neuartige Ausgestaltung eines
direkten Konnexes zwischen dem Lokalen/Regionalen und dem Globalen jenseits
von Staaten und mithin um eine Verschmelzung von Asyl- und Menschenrechten.
Dabei entsteht ein grenzenloser Transitraum.
Europäisch wäre künftig nicht die Rettung völkischer Homogenität durch
homogene Völker, sondern europäisch wäre die Auflösung der Grenze als
Grenze des Homogenen. Geschaffen wird damit ein gigantischer
Möglichkeitsraum an nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und
-modellen. Ein solches Nebeneinander wäre indes ein Konzept, das nicht auf
Integration, sondern zunächst auf Segregation beruht.
## Warum nicht Neu-Aleppo, so wie Little Italy
Segregation ist auch eine Form von Toleranz, lehrt uns die Soziologie. Vor
diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die wir
gegenwärtig machen, müssen wir die Frage stellen, ob die derzeit auf
Integration ausgerichtete Flüchtlingspolitik der EU, die das Risiko großer
gesellschaftlicher Unruhe in Europa birgt, die richtige Strategie ist.
Werfen wir einen Blick in die jüngere Geschichte, um uns von Lösungen
inspirieren zu lassen, die sich bereits als nachhaltig erwiesen haben: Was
haben europäische Migranten gemacht, die während der Hungersnöte und
politischen Krisen im 18. und 19. Jahrhundert in Massen in die Neue Welt
ausgewandert sind, Iren, Italiener, Balten, Deutsche ...? Sie haben dort
ihre Städte neu gebaut.
Überall in Amerika finden wir Städtenamen wie New Hannover, New Hampshire,
New Hamburg und so weiter. Die Italiener haben in Little Italy in New York
ein ganzes Stadtviertel okkupiert. Niemand ist damals auf die Idee
gekommen, Familien zu trennen oder in verschiedene Unterkünfte
einzuquartieren oder über Familiennachzug zu feilschen. Niemand hat einen
Asylbewerberstatus bekommen, staatliches Geld erhalten, wurde auf einen
Sprachkurs oder gar eine „Leitkultur“ verpflichtet. Die europäischen
Flüchtlinge sind einfach in einer neuen Heimat angekommen und haben dort
ihre alte Heimat nachgebaut. Daraus können wir lernen.
Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen,
benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die
Andersartigkeit wahrt. Damit würde man einen Möglichkeitsraum an
nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und -modellen schaffen. So
entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu-Madaya inmitten von Europa. Oder
auch Neu-Diyarbakir oder Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die kurdischen
Flüchtlinge. Vielleicht auch Neu-Kandahar oder Neu-Kundus für die
afghanischen Flüchtlinge oder Neu-Enugu oder Neu-Ondo für die
nigerianischen Flüchtlinge.
Europa ist groß (und demnächst leer) genug, um ein Dutzend Städte und mehr
für Neuankömmlinge aufzubauen. Wir stressen uns nicht mit Integration. Wir
pferchen die Flüchtlinge nicht in unsere – teilweise heruntergekommenen –
Vororte oder in unsere – teilweise zersiedelten und verödeten –
Landschaften im ländlichen Niemandsland. Wir konzentrieren sie nicht da und
dort in Heimen, die abzufackeln das Herz nationaler Patrioten wärmt. Wir
spielen ihr Recht auf Behausung und ihr Recht auf Arbeit in der neuen
Heimat nicht gegen Wohnungen und Jobs für das untere Viertel unserer
eigenen Gesellschaft aus. Wir reiben uns nicht aneinander und nicht
gegeneinander auf. Kurz: Wir verzichten auf Integration. Wir respektieren
Andersartigkeit – und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit
allein.
Die Neuankömmlinge kümmern sich dann um sich selbst, ganz entsprechend
ihrer Kultur, Küchen, Musik und ihrer gesellschaftlichen Strukturen. Sie
bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre
Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die
syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation
zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die
Rechtsanwältinnen Rechtsanwältinnen, die Bäcker Bäcker und so weiter. Dabei
gilt das Recht der EU für alle. Das ist allerdings wichtig: Ius aequum, der
gemeinsame gleiche Rechtszustand – für alte EU-Bürger wie für die
Neuankömmlinge. Statt Leitkultur Bürgerrechte für alle.
Europa gibt Bebauungsland als Starthilfe, das erschlossen ist, also
angebunden an Infrastruktur – Energie, ICT, Transport –, das aber ansonsten
frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist. Das ganze Geld, das wir
jetzt ausgeben für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und
Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei, gibt Europa den
Flüchtlingen als Starthilfe. Da Städtebau nicht so schnell geht, hilft
Europa, unterstützt durch den UNHCR, zunächst mit Behelfsbehausungen, also
genau solchen Wohncontainern, die auch jetzt bereitgestellt werden.
## Städte entstehen aus dem Nichts
Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht
haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden,
wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der
Natur des Menschen zu liegen. Im Libanon wurden in den Millionencamps schon
nach wenigen Wochen die sorgfältig rechteckig aufgestellten UNHCR-Container
umgestellt und zurechtgerückt. Es entstanden große Verkehrsachsen und
kleine Nebenstraßen – die Hauptstraße in einem libanesischen
Flüchtlingscamp zum Beispiel wurde Champs Elysée getauft. Aus dem Nichts
entstand Handel, entstanden kleine Boutiquen, wurde Schrottmaterial von
gewieften Tüftlern und Bastlern zu Mopeds umgebaut; auf einmal gab es
kleine Theater oder Tanzfeste. Es dauert, so sagen Experten, keine sechs
Monate, dann wird aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt.
Wer einmal ein neues Zuhause hat, will bleiben. Die Sorge, man hätte dann
streunende Horden von Flüchtlingen auf europäischen Straßen, vor denen man
(beziehungsweise eher frau) sich permanent schützen müsste, dürfte dann
mehr eine fehlgeleitete Annahme sein. Kurz: Es geht um ein buntes Europa,
ein respektvolles Nebeneinander, einen Verbund von Andersartigkeit unter
gleichem europäischen Recht, ein kreatives Netz von Vielfalt.
Im Laufe der Zeit würden sich die Bewohner der verschiedenen Städte auf
ganz natürliche Art und Weise mischen. Die Neuankömmlinge würden in die
nahe gelegenen „europäischen“ Städte zur Arbeit pilgern. Oder sie machen
dort ihre Boutiquen auf, treiben Handel mit dem, was sie herstellen.
Niemand bräuchte Asylgeld. Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden
neugierig. Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine
oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und
zu dichten. Es entstehen hippe Cafés. Studenten, die billigen Wohnraum
suchen, werden ihre WGs in Neu-Damaskus einrichten. Dann kommen die ersten
Lieben, danach die ersten Kinder. Dann die ersten Elternbesuche.
Drei Generationen später – so lange dauert es meistens – haben die
Kindeskinder der ersten Generation Neuankömmlinge die Sprache der neuen
Heimat gelernt, einfach weil es praktischer ist. 2089 könnte das schon ganz
schön aussehen! Weitere hundert Jahre später erinnert – ähnlich New
Hannover oder Paris, Texas, oder Vienna, Virginia, in den USA heute – nur
noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen
Welt kamen.
Der Text erscheint demnächst auf Englisch im Green European Journal.
14 Feb 2016
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