# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Grenzen abschaffen und laufenlassen | |
> Staatsgrenzen sind in Europa noch nicht lange normal. Sie sollten | |
> geöffnet werden und Geflüchtete neue Städte bauen. Ein Entwurf. | |
Bild: Realistisch bleibt der EU nur die Öffnung. | |
Staatsgrenzen sind Realität – und für die meisten Menschen etwas | |
Selbstverständliches und geradezu Notwendiges. Aber wie normal sind Grenzen | |
wirklich? In der politischen Psychologie ist sogar die Schizophrenie | |
normal: Ist der Bürger zu Hause, will er die Grenzen seines Staates bestens | |
geschützt und schärfstens kontrolliert wissen. Begibt er sich aber auf | |
Reisen, sollen die Grenzen möglichst durchlässig, ja am besten unsichtbar | |
sein. Er will an Grenzen nicht aufgehalten werden, aber er will, dass | |
andere, die in sein Land kommen, an Grenzen aufgehalten und möglichst | |
zurückgewiesen werden. Das Fremde will er am Zielort seiner Reise als | |
„interessante andere Kultur“ erleben, aber zu Hause empfindet er das Andere | |
als Bedrohung „seiner Kultur“. | |
Der Bürger kann euphorisch werden, wenn Grenzen plötzlich verschwinden, wie | |
es etwa beim Fall der Berliner Mauer war, überhaupt beim Fall des Eisernen | |
Vorhangs, aber er will die Grenze wieder zurück, wenn Menschen von „drüben�… | |
womöglich herüberwollen, auf seinen Arbeitsmarkt. Er selbst fährt | |
„hinüber“, wenn er drüben billiger konsumieren kann, aber er versteht | |
nicht, dass Menschen „herüber“wollen, um hier besser zu verdienen. Der | |
besorgte Bürger kann, wenn es um seine Menschenrechte geht, fehlerfrei | |
zitieren, dass sie „universal“ seien, gegenüber anderen aber will er sie | |
als bloßes nationales Recht verteidigen. | |
Das ist gegenwärtige „Normalität“. | |
Historisch allerdings sind politische Grenzen alles andere als normal. Im | |
Gegenteil: Das System der politischen Grenzen, die heute mehrheitlich als | |
normal angesehen und wieder errichtet und verteidigt werden, ist die | |
historische Ausnahme und wird in absehbarer Zeit auch wieder als kurzer | |
historischer Sonderfall gesehen werden. | |
Die sogenannten vier Freiheiten (Personenfreizügigkeit sowie Freizügigkeit | |
für Waren, Dienstleistungen und Kapital) sind die größte Errungenschaft des | |
europäischen Einigungsprojekts nach dem Krieg, aber sie sind kein Novum in | |
der europäischen Geschichte, sondern bloß ein Schritt zur Wiederherstellung | |
historischer Normalität: Denn Grenzenlosigkeit gab es in Europa die längste | |
Zeit, vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. | |
## Keine Reisegrenzen in Zeiten deutscher Kleinstaaterei | |
Selbst in den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei: Da gab es in der Regel | |
Zollgrenzen, aber keine Reisegrenzen. In seinem Stück „Leonce und Lena“ | |
machte sich Georg Büchner darüber lustig, wie viele Grenzen man in | |
deutschen Landen bei einem Nachmittagsspaziergang überqueren konnte, ohne | |
es zu merken. | |
Im Mittelalter wanderte der deutsche Reichstag und versammelte die | |
deutschen Kurfürsten in verschiedenen europäischen Städten von Luxemburg | |
bis Prag, die heute nicht alle unbedingt innerhalb der Grenzen der heutigen | |
Bundesrepublik liegen. Die mittelalterlichen Studierenden zogen ihren | |
Lehrern hinterher von Rotterdam bis Bologna. Allenfalls Kultur-, Küchen-, | |
Sprach-, Religions- oder geografische Grenzen, nicht aber nationale Grenzen | |
waren in Europa wichtig und augenfällig, aber diese kulturellen Grenzen | |
trennten nicht; im Gegenteil, sie verbanden Europa. | |
Selbst topografische Grenzen wie Flüsse oder Berge schafften es nicht, | |
einheitliche Kulturräume zu trennen: Die Basken leben südlich und nördlich | |
der Pyrenäen; die Tiroler südlich und nördlich des Brenners. Der Rhein | |
wiederum entwickelte sich nie zur nationalen Grenze Frankreichs. Sprach- | |
und Religionsgrenzen teilten und teilen Deutschland, ohne je zu politischen | |
Grenzen zu werden. Gleichzeitig konnte man auf Schienen, die Hunderte von | |
Kilometer lang grenzenlos waren, vom Habsburger Herzland durch Böhmen und | |
Mähren nach Galizien fahren. | |
Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach | |
Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln, wie Stefan Zweig | |
schrieb. Man musste damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und | |
nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn… | |
die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest | |
haltmachte. „Ausland“, schrieb Heinrich Mann, „war vor 1914 bloß eine | |
Redensart.“ Und man konnte ohne Visum von Moskau aus in die Sommerfrische | |
nach Baden-Baden oder Nizza reisen; oder von Berlin an die Kurische | |
Nehrung. Oder auch von Belgrad nach Sofia. Und für alle, die heute ihren | |
Pass für etwas völlig Normales und Notwendiges halten: Das, was wir heute | |
unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920. | |
Damals definierte der Völkerbund, wie ein „Passport“ ausgestattet und | |
beschaffen sein müsse, um von den Staaten der Welt als Reise- und | |
Grenzübertrittsdokument anerkannt zu werden. Interessant (und leider | |
vergessen) ist die [1][Präambel, die der Völkerbund der Definition eines | |
international anerkannten Passes voranstellte], nämlich dass die Einführung | |
des Passes nur vorläufige Gültigkeit habe, bis zum „complete return to | |
pre-war conditions which the conference hopes to see gradually | |
re-established in the near future“. | |
## Globales Nomadentum nicht nur für Konzerne | |
Die heutige grenzenlose „Schengen-Zone“ als historische Einmaligkeit, als | |
geradezu revolutionäre Errungenschaft der jüngeren europäischen | |
Integrationsgeschichte zu sehen, ist darum irreführend. Im Gegenteil: Die | |
Erinnerung daran, dass jahrhundertelang europäische Grenzenlosigkeit | |
selbstverständliche Normalität war, ist wichtig, um überhaupt diskutieren | |
zu können, was dieser europäische Raum heute sein soll, nämlich was er | |
immer schon war: ein Palimpsest aus Grenzen, die aber keine sind, sondern | |
die lediglich die Kulturräume definierten, die aus der kulturellen Vielfalt | |
in Europa immer den einen europäischen Raum gemacht haben. | |
Sich daran zu erinnern, ist auch wichtig, um diskutieren zu können, wie | |
dieser europäische Raum mit der Flüchtlingsfrage umgehen kann – und sollte. | |
Würden die Europäer die europäische Geschichte kennen und nicht bloß das, | |
was sie kennen, für normal halten, dann hätten sie selbstverständlich | |
diesen Wunsch: den jahrhundertelangen historischen Normalzustand von | |
Grenzenlosigkeit in Europa wieder zu errichten, der erst durch die zwei | |
Weltkriege, den „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ Europas, im 20. Jahrhunde… | |
brutal und blutig zerstört wurde. Genau davon aber entfernt sich die EU | |
heute in rasantem Tempo, und zwar nicht erst seit der sogenannten | |
Flüchtlingskrise, die zum Anlass genommen wird, wieder an das finsterste | |
Kapitel der Geschichte der europäischen Neuzeit anzuschließen: durch | |
Grenzkontrollen, Grenzsperren, gar durch Bau von Zäunen und Mauern | |
innerhalb Europas. | |
Tatsächlich ist im europäischen Diskurs schon früher die Ambition verloren | |
gegangen, die EU als Projekt zu sehen, dessen Gründungsabsicht es war, | |
Europa wieder zu europäisieren und die Nationalstaaten zu überwinden. Das | |
hat viele Gründe: Die gegenwärtigen politischen Eliten sind zu jung, um die | |
Gründungsabsicht des europäischen Projekts mitbekommen zu haben, aber sie | |
sind zu alt, um sich etwas anderes vorstellen zu können als das Gewohnte, | |
das nationale System, in dem sie ihre Karrieren gemacht haben. | |
Irgendwie wissen sie oder wird ihnen gesagt, dass ein vollständiges | |
Scheitern der Union zu schwerem ökonomischem Schaden führen würde – für | |
ihre jeweilige Nationalökonomie. Bei allem anderen aber könne und müsse man | |
bei Bedarf wieder Abstriche machen. Und was sie definitiv wissen, ist, dass | |
sie nur in nationalen Wahlen gewählt werden, weshalb sie die Fiktion | |
nationaler Interessen aufrechterhalten müssen, um Zustimmung der Wähler zu | |
ihren Ämtern, allerdings nicht zum europäischen Projekt, zu organisieren. | |
„So viel Europa wie möglich, so viel Nationalstaat wie nötig“, so eröffn… | |
der niederländische Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans zu | |
Beginn des Jahres die niederländische Ratspräsidentschaft. Das spricht für | |
nicht viel Ehrgeiz bei der nationalen Grenzüberwindung, gar vom Fernziel | |
einer Auflösung nationaler Grenzen, von dem die Gründungsväter der EWG, | |
Jean Monnet oder Walter Hallstein, noch geträumt hatten. | |
## Nationale Regression | |
Die Flüchtlinge nun verschärfen auf eigentümliche Art diese nationale | |
Regression. Wo eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage nicht in Sicht | |
ist – weder bei der Verteilung der Flüchtlinge in Europa noch, wenigstens, | |
bei der gemeinsamen Sicherung der Außengrenzen, wie jetzt vielfach | |
gefordert – und wo auch eine gemeinsame und kohärente europäische | |
Außenpolitik auf sich warten lässt, bleibt nur die Flucht in den nationalen | |
Rückzug, die aber de facto nur denjenigen europäischen Staaten möglich ist, | |
die keine EU-Außengrenze haben, also zum Beispiel Dänemark. | |
Aber Griechenland, Italien oder die Länder auf der Balkanroute – ob EU oder | |
nicht – haben keine Wahl: Sie werden von Flüchtlingen überrannt, ganz egal, | |
was sie tun, um das zu verhindern – denn solange die EU sich nicht | |
entschließt, Stacheldraht auf Mittelmeerstränden zu verlegen oder | |
Flüchtlingsboote mit Waffengewalt abzuwehren, kann ihre Wassergrenze nach | |
Süden gar nicht „geschützt“ werden: Die EU kann sich nicht vom Mittelmeer | |
abschneiden, das übrigens als mare nostrum kulturgeschichtlich das | |
europäische Meer schlechthin ist – und von dessen Handelsrouten sich die EU | |
keinesfalls abschneiden will. | |
Die Frage ist heute also, wie man in Zukunft organisatorisch damit umgehen | |
will, dass Europa offene Grenzen für den Handel will und braucht, aber | |
nicht für Menschen. Die Tatsache, dass durch die bereits stattgefundenen | |
und weiter zu erwartenden Grenzschließlungen innerhalb der EU jetzt zum | |
Beispiel auch der Lkw-Verkehr – und damit Wirtschaft, Produktion, Handel | |
und Konsum und letztlich unser Lebensstandard – betroffen (und bedroht) | |
sein könnten und dass sich geschlossene Grenzen auf Heller und Pfennig | |
buchhalterisch als Verlust beziffern lassen, weiter, dass | |
Just-in-time-Management und knappe Lagerhaltung nur möglich sind, wenn Lkws | |
eben nicht durch langes Warten Zeit hinter Grenzzäunen verlieren, das alles | |
dämmert inzwischen den Wirtschaftsministern der Nationalstaaten. | |
Aber eine Grenze, die für Lkws offen, für Flüchtlinge indes geschlossen | |
ist, die kann es nicht geben. Schließung ist also nicht machbar und mithin | |
keine Lösung, Obergrenzen auch nicht. Der EU bleibt realistisch nur die | |
Öffnung – sie wird ihren Raum und sprichwörtlich ihre Welt teilen müssen, | |
mit den anderen, den Menschen, die nach Europa wollen. | |
Derzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, | |
Hunger und Misere. Die USA, Australien oder Kanada, die jeweils nur rund 10 | |
000 Flüchtlingen pro Jahr Asyl gewähren wollen, haben de facto die Genfer | |
Flüchtlingskonvention aufgekündigt: nämlich dass sich die Staatenwelt | |
gemeinsam um die Flüchtlinge kümmert und dass jeder Flüchtling einen | |
Anspruch auf Asyl hat. | |
Gleichzeitig wird deutlich, dass Asyl- und Bürgerrechte in Zukunft immer | |
mehr miteinander verschmelzen werden: Aus Bürgerrechten ergeben sich | |
soziale Anspruchsrechte für Staatsbürger; aus dem Asylrecht menschliche | |
Grundrechte auf Aufnahme und Versorgung jenseits von Staatsbürgerschaft, | |
und beides fällt immer mehr zusammen: Jeder hat ein Recht auf Heimat und | |
Sicherheit. In Zeiten des globalen Nomadentums und der notwendigen Suche | |
nach einer neuen Heimat für viele heißt die entscheidende Frage daher: Wie | |
kann man diesen Prozess friedlich und für alle menschengerecht | |
organisieren? | |
Die belgische Psychoanalytikerin Luce Irigaray prägte den Begriff „Welt | |
teilen“ als moderne Fortschreibung des Kant’schen „Weltgastrechts“, das | |
davon ausgeht, dass alle Menschen – gleich geboren – mithin das gleiche | |
Recht haben, prinzipiell überall auf der Welt leben zu dürfen. Gegenüber | |
diesem Menschenrecht können Staaten also nicht die territoriale | |
Daseinsberechtigung für Menschen definieren. In der Zukunft wird es darum | |
gehen müssen, exterritoriale Demokratie zu organisieren und den Anspruch | |
der Menschenrechtsdeklaration einzulösen: dass die Anerkennung der | |
Menschenrechte nicht abhängig von bestimmter „Staatsbürgerschaft“ ist. | |
## Heimat in Zeiten permanenter Migration | |
Die angekündigte Klimakatastrophe, mit allen Folgen der globalen | |
Bodenverknappung, wird die Nationalstaaten noch stärker unter Druck setzen: | |
Das Insistieren auf territorialer Staatlichkeit, als Privileg, innerhalb | |
von staatlichen Grenzen Grund und Boden für die eigenen Staatsbürger (und | |
für Millionäre, die sich einkaufen) zu reservieren, wird nicht | |
durchzuhalten sein. Das gilt auch für den europäischen Raum. Es geht also | |
um das globale Recht auf Heimat und Teilhabe aller an der globalen Allmende | |
jenseits von Staaten, um die Organisation von Heimat in Zeiten von | |
permanenter Migration. | |
Jeder Mensch muss also in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu | |
durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will, zumal die | |
globalisierte Welt ohnehin für alles andere außer für Menschen schon ein | |
einziges System der Vernetzung, der Durchlässigkeit und der | |
Grenzenlosigkeit ist: von Pipelines über Breitband, vom Highspeed-Handel | |
der Finanzmärkte bis hin zu den supply chains der Warenprodukte | |
funktioniert alles de facto schon längst unbehindert von nationalen | |
Grenzen. Diese Tatsache in einem neuen politisch-institutionellen System | |
abzubilden, ist jetzt die Herausforderung. Es geht also darum, die | |
vielfältige und vielschichtige globale Vernetzung politisch auszugestalten, | |
anstatt nationale Reviere abzugrenzen, die sich mit der Kant’schen Logik | |
nicht begründen lassen. | |
Es geht um einen Verbund von Heimaten: Im Verbund inbegriffen sind | |
Verbindlichkeit und Verbundenheit: Recht und Norm. Rechtliche | |
Verbindlichkeit verpflichtet alle auf eine Verfassung; normative | |
Verbundenheit ermöglicht die Beteiligung an dem, was alle betrifft. Jeder | |
hat teil am Vorhandenen, und jeder bringt das Seine ein. Es geht um die | |
freie Organisation von Otherness in verbindlichem Rechtszustand, in den | |
Worten von Luce Irigaray, das heißt, um die neuartige Ausgestaltung eines | |
direkten Konnexes zwischen dem Lokalen/Regionalen und dem Globalen jenseits | |
von Staaten und mithin um eine Verschmelzung von Asyl- und Menschenrechten. | |
Dabei entsteht ein grenzenloser Transitraum. | |
Europäisch wäre künftig nicht die Rettung völkischer Homogenität durch | |
homogene Völker, sondern europäisch wäre die Auflösung der Grenze als | |
Grenze des Homogenen. Geschaffen wird damit ein gigantischer | |
Möglichkeitsraum an nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und | |
-modellen. Ein solches Nebeneinander wäre indes ein Konzept, das nicht auf | |
Integration, sondern zunächst auf Segregation beruht. | |
## Warum nicht Neu-Aleppo, so wie Little Italy | |
Segregation ist auch eine Form von Toleranz, lehrt uns die Soziologie. Vor | |
diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die wir | |
gegenwärtig machen, müssen wir die Frage stellen, ob die derzeit auf | |
Integration ausgerichtete Flüchtlingspolitik der EU, die das Risiko großer | |
gesellschaftlicher Unruhe in Europa birgt, die richtige Strategie ist. | |
Werfen wir einen Blick in die jüngere Geschichte, um uns von Lösungen | |
inspirieren zu lassen, die sich bereits als nachhaltig erwiesen haben: Was | |
haben europäische Migranten gemacht, die während der Hungersnöte und | |
politischen Krisen im 18. und 19. Jahrhundert in Massen in die Neue Welt | |
ausgewandert sind, Iren, Italiener, Balten, Deutsche ...? Sie haben dort | |
ihre Städte neu gebaut. | |
Überall in Amerika finden wir Städtenamen wie New Hannover, New Hampshire, | |
New Hamburg und so weiter. Die Italiener haben in Little Italy in New York | |
ein ganzes Stadtviertel okkupiert. Niemand ist damals auf die Idee | |
gekommen, Familien zu trennen oder in verschiedene Unterkünfte | |
einzuquartieren oder über Familiennachzug zu feilschen. Niemand hat einen | |
Asylbewerberstatus bekommen, staatliches Geld erhalten, wurde auf einen | |
Sprachkurs oder gar eine „Leitkultur“ verpflichtet. Die europäischen | |
Flüchtlinge sind einfach in einer neuen Heimat angekommen und haben dort | |
ihre alte Heimat nachgebaut. Daraus können wir lernen. | |
Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, | |
benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die | |
Andersartigkeit wahrt. Damit würde man einen Möglichkeitsraum an | |
nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und -modellen schaffen. So | |
entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu-Madaya inmitten von Europa. Oder | |
auch Neu-Diyarbakir oder Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die kurdischen | |
Flüchtlinge. Vielleicht auch Neu-Kandahar oder Neu-Kundus für die | |
afghanischen Flüchtlinge oder Neu-Enugu oder Neu-Ondo für die | |
nigerianischen Flüchtlinge. | |
Europa ist groß (und demnächst leer) genug, um ein Dutzend Städte und mehr | |
für Neuankömmlinge aufzubauen. Wir stressen uns nicht mit Integration. Wir | |
pferchen die Flüchtlinge nicht in unsere – teilweise heruntergekommenen – | |
Vororte oder in unsere – teilweise zersiedelten und verödeten – | |
Landschaften im ländlichen Niemandsland. Wir konzentrieren sie nicht da und | |
dort in Heimen, die abzufackeln das Herz nationaler Patrioten wärmt. Wir | |
spielen ihr Recht auf Behausung und ihr Recht auf Arbeit in der neuen | |
Heimat nicht gegen Wohnungen und Jobs für das untere Viertel unserer | |
eigenen Gesellschaft aus. Wir reiben uns nicht aneinander und nicht | |
gegeneinander auf. Kurz: Wir verzichten auf Integration. Wir respektieren | |
Andersartigkeit – und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit | |
allein. | |
Die Neuankömmlinge kümmern sich dann um sich selbst, ganz entsprechend | |
ihrer Kultur, Küchen, Musik und ihrer gesellschaftlichen Strukturen. Sie | |
bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre | |
Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die | |
syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation | |
zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die | |
Rechtsanwältinnen Rechtsanwältinnen, die Bäcker Bäcker und so weiter. Dabei | |
gilt das Recht der EU für alle. Das ist allerdings wichtig: Ius aequum, der | |
gemeinsame gleiche Rechtszustand – für alte EU-Bürger wie für die | |
Neuankömmlinge. Statt Leitkultur Bürgerrechte für alle. | |
Europa gibt Bebauungsland als Starthilfe, das erschlossen ist, also | |
angebunden an Infrastruktur – Energie, ICT, Transport –, das aber ansonsten | |
frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist. Das ganze Geld, das wir | |
jetzt ausgeben für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und | |
Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei, gibt Europa den | |
Flüchtlingen als Starthilfe. Da Städtebau nicht so schnell geht, hilft | |
Europa, unterstützt durch den UNHCR, zunächst mit Behelfsbehausungen, also | |
genau solchen Wohncontainern, die auch jetzt bereitgestellt werden. | |
## Städte entstehen aus dem Nichts | |
Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht | |
haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden, | |
wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der | |
Natur des Menschen zu liegen. Im Libanon wurden in den Millionencamps schon | |
nach wenigen Wochen die sorgfältig rechteckig aufgestellten UNHCR-Container | |
umgestellt und zurechtgerückt. Es entstanden große Verkehrsachsen und | |
kleine Nebenstraßen – die Hauptstraße in einem libanesischen | |
Flüchtlingscamp zum Beispiel wurde Champs Elysée getauft. Aus dem Nichts | |
entstand Handel, entstanden kleine Boutiquen, wurde Schrottmaterial von | |
gewieften Tüftlern und Bastlern zu Mopeds umgebaut; auf einmal gab es | |
kleine Theater oder Tanzfeste. Es dauert, so sagen Experten, keine sechs | |
Monate, dann wird aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt. | |
Wer einmal ein neues Zuhause hat, will bleiben. Die Sorge, man hätte dann | |
streunende Horden von Flüchtlingen auf europäischen Straßen, vor denen man | |
(beziehungsweise eher frau) sich permanent schützen müsste, dürfte dann | |
mehr eine fehlgeleitete Annahme sein. Kurz: Es geht um ein buntes Europa, | |
ein respektvolles Nebeneinander, einen Verbund von Andersartigkeit unter | |
gleichem europäischen Recht, ein kreatives Netz von Vielfalt. | |
Im Laufe der Zeit würden sich die Bewohner der verschiedenen Städte auf | |
ganz natürliche Art und Weise mischen. Die Neuankömmlinge würden in die | |
nahe gelegenen „europäischen“ Städte zur Arbeit pilgern. Oder sie machen | |
dort ihre Boutiquen auf, treiben Handel mit dem, was sie herstellen. | |
Niemand bräuchte Asylgeld. Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden | |
neugierig. Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine | |
oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und | |
zu dichten. Es entstehen hippe Cafés. Studenten, die billigen Wohnraum | |
suchen, werden ihre WGs in Neu-Damaskus einrichten. Dann kommen die ersten | |
Lieben, danach die ersten Kinder. Dann die ersten Elternbesuche. | |
Drei Generationen später – so lange dauert es meistens – haben die | |
Kindeskinder der ersten Generation Neuankömmlinge die Sprache der neuen | |
Heimat gelernt, einfach weil es praktischer ist. 2089 könnte das schon ganz | |
schön aussehen! Weitere hundert Jahre später erinnert – ähnlich New | |
Hannover oder Paris, Texas, oder Vienna, Virginia, in den USA heute – nur | |
noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen | |
Welt kamen. | |
Der Text erscheint demnächst auf Englisch im Green European Journal. | |
14 Feb 2016 | |
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