| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Grenzen abschaffen und laufenlassen | |
| > Staatsgrenzen sind in Europa noch nicht lange normal. Sie sollten | |
| > geöffnet werden und Geflüchtete neue Städte bauen. Ein Entwurf. | |
| Bild: Realistisch bleibt der EU nur die Öffnung. | |
| Staatsgrenzen sind Realität – und für die meisten Menschen etwas | |
| Selbstverständliches und geradezu Notwendiges. Aber wie normal sind Grenzen | |
| wirklich? In der politischen Psychologie ist sogar die Schizophrenie | |
| normal: Ist der Bürger zu Hause, will er die Grenzen seines Staates bestens | |
| geschützt und schärfstens kontrolliert wissen. Begibt er sich aber auf | |
| Reisen, sollen die Grenzen möglichst durchlässig, ja am besten unsichtbar | |
| sein. Er will an Grenzen nicht aufgehalten werden, aber er will, dass | |
| andere, die in sein Land kommen, an Grenzen aufgehalten und möglichst | |
| zurückgewiesen werden. Das Fremde will er am Zielort seiner Reise als | |
| „interessante andere Kultur“ erleben, aber zu Hause empfindet er das Andere | |
| als Bedrohung „seiner Kultur“. | |
| Der Bürger kann euphorisch werden, wenn Grenzen plötzlich verschwinden, wie | |
| es etwa beim Fall der Berliner Mauer war, überhaupt beim Fall des Eisernen | |
| Vorhangs, aber er will die Grenze wieder zurück, wenn Menschen von „drüben�… | |
| womöglich herüberwollen, auf seinen Arbeitsmarkt. Er selbst fährt | |
| „hinüber“, wenn er drüben billiger konsumieren kann, aber er versteht | |
| nicht, dass Menschen „herüber“wollen, um hier besser zu verdienen. Der | |
| besorgte Bürger kann, wenn es um seine Menschenrechte geht, fehlerfrei | |
| zitieren, dass sie „universal“ seien, gegenüber anderen aber will er sie | |
| als bloßes nationales Recht verteidigen. | |
| Das ist gegenwärtige „Normalität“. | |
| Historisch allerdings sind politische Grenzen alles andere als normal. Im | |
| Gegenteil: Das System der politischen Grenzen, die heute mehrheitlich als | |
| normal angesehen und wieder errichtet und verteidigt werden, ist die | |
| historische Ausnahme und wird in absehbarer Zeit auch wieder als kurzer | |
| historischer Sonderfall gesehen werden. | |
| Die sogenannten vier Freiheiten (Personenfreizügigkeit sowie Freizügigkeit | |
| für Waren, Dienstleistungen und Kapital) sind die größte Errungenschaft des | |
| europäischen Einigungsprojekts nach dem Krieg, aber sie sind kein Novum in | |
| der europäischen Geschichte, sondern bloß ein Schritt zur Wiederherstellung | |
| historischer Normalität: Denn Grenzenlosigkeit gab es in Europa die längste | |
| Zeit, vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. | |
| ## Keine Reisegrenzen in Zeiten deutscher Kleinstaaterei | |
| Selbst in den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei: Da gab es in der Regel | |
| Zollgrenzen, aber keine Reisegrenzen. In seinem Stück „Leonce und Lena“ | |
| machte sich Georg Büchner darüber lustig, wie viele Grenzen man in | |
| deutschen Landen bei einem Nachmittagsspaziergang überqueren konnte, ohne | |
| es zu merken. | |
| Im Mittelalter wanderte der deutsche Reichstag und versammelte die | |
| deutschen Kurfürsten in verschiedenen europäischen Städten von Luxemburg | |
| bis Prag, die heute nicht alle unbedingt innerhalb der Grenzen der heutigen | |
| Bundesrepublik liegen. Die mittelalterlichen Studierenden zogen ihren | |
| Lehrern hinterher von Rotterdam bis Bologna. Allenfalls Kultur-, Küchen-, | |
| Sprach-, Religions- oder geografische Grenzen, nicht aber nationale Grenzen | |
| waren in Europa wichtig und augenfällig, aber diese kulturellen Grenzen | |
| trennten nicht; im Gegenteil, sie verbanden Europa. | |
| Selbst topografische Grenzen wie Flüsse oder Berge schafften es nicht, | |
| einheitliche Kulturräume zu trennen: Die Basken leben südlich und nördlich | |
| der Pyrenäen; die Tiroler südlich und nördlich des Brenners. Der Rhein | |
| wiederum entwickelte sich nie zur nationalen Grenze Frankreichs. Sprach- | |
| und Religionsgrenzen teilten und teilen Deutschland, ohne je zu politischen | |
| Grenzen zu werden. Gleichzeitig konnte man auf Schienen, die Hunderte von | |
| Kilometer lang grenzenlos waren, vom Habsburger Herzland durch Böhmen und | |
| Mähren nach Galizien fahren. | |
| Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach | |
| Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln, wie Stefan Zweig | |
| schrieb. Man musste damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und | |
| nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn… | |
| die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest | |
| haltmachte. „Ausland“, schrieb Heinrich Mann, „war vor 1914 bloß eine | |
| Redensart.“ Und man konnte ohne Visum von Moskau aus in die Sommerfrische | |
| nach Baden-Baden oder Nizza reisen; oder von Berlin an die Kurische | |
| Nehrung. Oder auch von Belgrad nach Sofia. Und für alle, die heute ihren | |
| Pass für etwas völlig Normales und Notwendiges halten: Das, was wir heute | |
| unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920. | |
| Damals definierte der Völkerbund, wie ein „Passport“ ausgestattet und | |
| beschaffen sein müsse, um von den Staaten der Welt als Reise- und | |
| Grenzübertrittsdokument anerkannt zu werden. Interessant (und leider | |
| vergessen) ist die [1][Präambel, die der Völkerbund der Definition eines | |
| international anerkannten Passes voranstellte], nämlich dass die Einführung | |
| des Passes nur vorläufige Gültigkeit habe, bis zum „complete return to | |
| pre-war conditions which the conference hopes to see gradually | |
| re-established in the near future“. | |
| ## Globales Nomadentum nicht nur für Konzerne | |
| Die heutige grenzenlose „Schengen-Zone“ als historische Einmaligkeit, als | |
| geradezu revolutionäre Errungenschaft der jüngeren europäischen | |
| Integrationsgeschichte zu sehen, ist darum irreführend. Im Gegenteil: Die | |
| Erinnerung daran, dass jahrhundertelang europäische Grenzenlosigkeit | |
| selbstverständliche Normalität war, ist wichtig, um überhaupt diskutieren | |
| zu können, was dieser europäische Raum heute sein soll, nämlich was er | |
| immer schon war: ein Palimpsest aus Grenzen, die aber keine sind, sondern | |
| die lediglich die Kulturräume definierten, die aus der kulturellen Vielfalt | |
| in Europa immer den einen europäischen Raum gemacht haben. | |
| Sich daran zu erinnern, ist auch wichtig, um diskutieren zu können, wie | |
| dieser europäische Raum mit der Flüchtlingsfrage umgehen kann – und sollte. | |
| Würden die Europäer die europäische Geschichte kennen und nicht bloß das, | |
| was sie kennen, für normal halten, dann hätten sie selbstverständlich | |
| diesen Wunsch: den jahrhundertelangen historischen Normalzustand von | |
| Grenzenlosigkeit in Europa wieder zu errichten, der erst durch die zwei | |
| Weltkriege, den „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ Europas, im 20. Jahrhunde… | |
| brutal und blutig zerstört wurde. Genau davon aber entfernt sich die EU | |
| heute in rasantem Tempo, und zwar nicht erst seit der sogenannten | |
| Flüchtlingskrise, die zum Anlass genommen wird, wieder an das finsterste | |
| Kapitel der Geschichte der europäischen Neuzeit anzuschließen: durch | |
| Grenzkontrollen, Grenzsperren, gar durch Bau von Zäunen und Mauern | |
| innerhalb Europas. | |
| Tatsächlich ist im europäischen Diskurs schon früher die Ambition verloren | |
| gegangen, die EU als Projekt zu sehen, dessen Gründungsabsicht es war, | |
| Europa wieder zu europäisieren und die Nationalstaaten zu überwinden. Das | |
| hat viele Gründe: Die gegenwärtigen politischen Eliten sind zu jung, um die | |
| Gründungsabsicht des europäischen Projekts mitbekommen zu haben, aber sie | |
| sind zu alt, um sich etwas anderes vorstellen zu können als das Gewohnte, | |
| das nationale System, in dem sie ihre Karrieren gemacht haben. | |
| Irgendwie wissen sie oder wird ihnen gesagt, dass ein vollständiges | |
| Scheitern der Union zu schwerem ökonomischem Schaden führen würde – für | |
| ihre jeweilige Nationalökonomie. Bei allem anderen aber könne und müsse man | |
| bei Bedarf wieder Abstriche machen. Und was sie definitiv wissen, ist, dass | |
| sie nur in nationalen Wahlen gewählt werden, weshalb sie die Fiktion | |
| nationaler Interessen aufrechterhalten müssen, um Zustimmung der Wähler zu | |
| ihren Ämtern, allerdings nicht zum europäischen Projekt, zu organisieren. | |
| „So viel Europa wie möglich, so viel Nationalstaat wie nötig“, so eröffn… | |
| der niederländische Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans zu | |
| Beginn des Jahres die niederländische Ratspräsidentschaft. Das spricht für | |
| nicht viel Ehrgeiz bei der nationalen Grenzüberwindung, gar vom Fernziel | |
| einer Auflösung nationaler Grenzen, von dem die Gründungsväter der EWG, | |
| Jean Monnet oder Walter Hallstein, noch geträumt hatten. | |
| ## Nationale Regression | |
| Die Flüchtlinge nun verschärfen auf eigentümliche Art diese nationale | |
| Regression. Wo eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage nicht in Sicht | |
| ist – weder bei der Verteilung der Flüchtlinge in Europa noch, wenigstens, | |
| bei der gemeinsamen Sicherung der Außengrenzen, wie jetzt vielfach | |
| gefordert – und wo auch eine gemeinsame und kohärente europäische | |
| Außenpolitik auf sich warten lässt, bleibt nur die Flucht in den nationalen | |
| Rückzug, die aber de facto nur denjenigen europäischen Staaten möglich ist, | |
| die keine EU-Außengrenze haben, also zum Beispiel Dänemark. | |
| Aber Griechenland, Italien oder die Länder auf der Balkanroute – ob EU oder | |
| nicht – haben keine Wahl: Sie werden von Flüchtlingen überrannt, ganz egal, | |
| was sie tun, um das zu verhindern – denn solange die EU sich nicht | |
| entschließt, Stacheldraht auf Mittelmeerstränden zu verlegen oder | |
| Flüchtlingsboote mit Waffengewalt abzuwehren, kann ihre Wassergrenze nach | |
| Süden gar nicht „geschützt“ werden: Die EU kann sich nicht vom Mittelmeer | |
| abschneiden, das übrigens als mare nostrum kulturgeschichtlich das | |
| europäische Meer schlechthin ist – und von dessen Handelsrouten sich die EU | |
| keinesfalls abschneiden will. | |
| Die Frage ist heute also, wie man in Zukunft organisatorisch damit umgehen | |
| will, dass Europa offene Grenzen für den Handel will und braucht, aber | |
| nicht für Menschen. Die Tatsache, dass durch die bereits stattgefundenen | |
| und weiter zu erwartenden Grenzschließlungen innerhalb der EU jetzt zum | |
| Beispiel auch der Lkw-Verkehr – und damit Wirtschaft, Produktion, Handel | |
| und Konsum und letztlich unser Lebensstandard – betroffen (und bedroht) | |
| sein könnten und dass sich geschlossene Grenzen auf Heller und Pfennig | |
| buchhalterisch als Verlust beziffern lassen, weiter, dass | |
| Just-in-time-Management und knappe Lagerhaltung nur möglich sind, wenn Lkws | |
| eben nicht durch langes Warten Zeit hinter Grenzzäunen verlieren, das alles | |
| dämmert inzwischen den Wirtschaftsministern der Nationalstaaten. | |
| Aber eine Grenze, die für Lkws offen, für Flüchtlinge indes geschlossen | |
| ist, die kann es nicht geben. Schließung ist also nicht machbar und mithin | |
| keine Lösung, Obergrenzen auch nicht. Der EU bleibt realistisch nur die | |
| Öffnung – sie wird ihren Raum und sprichwörtlich ihre Welt teilen müssen, | |
| mit den anderen, den Menschen, die nach Europa wollen. | |
| Derzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, | |
| Hunger und Misere. Die USA, Australien oder Kanada, die jeweils nur rund 10 | |
| 000 Flüchtlingen pro Jahr Asyl gewähren wollen, haben de facto die Genfer | |
| Flüchtlingskonvention aufgekündigt: nämlich dass sich die Staatenwelt | |
| gemeinsam um die Flüchtlinge kümmert und dass jeder Flüchtling einen | |
| Anspruch auf Asyl hat. | |
| Gleichzeitig wird deutlich, dass Asyl- und Bürgerrechte in Zukunft immer | |
| mehr miteinander verschmelzen werden: Aus Bürgerrechten ergeben sich | |
| soziale Anspruchsrechte für Staatsbürger; aus dem Asylrecht menschliche | |
| Grundrechte auf Aufnahme und Versorgung jenseits von Staatsbürgerschaft, | |
| und beides fällt immer mehr zusammen: Jeder hat ein Recht auf Heimat und | |
| Sicherheit. In Zeiten des globalen Nomadentums und der notwendigen Suche | |
| nach einer neuen Heimat für viele heißt die entscheidende Frage daher: Wie | |
| kann man diesen Prozess friedlich und für alle menschengerecht | |
| organisieren? | |
| Die belgische Psychoanalytikerin Luce Irigaray prägte den Begriff „Welt | |
| teilen“ als moderne Fortschreibung des Kant’schen „Weltgastrechts“, das | |
| davon ausgeht, dass alle Menschen – gleich geboren – mithin das gleiche | |
| Recht haben, prinzipiell überall auf der Welt leben zu dürfen. Gegenüber | |
| diesem Menschenrecht können Staaten also nicht die territoriale | |
| Daseinsberechtigung für Menschen definieren. In der Zukunft wird es darum | |
| gehen müssen, exterritoriale Demokratie zu organisieren und den Anspruch | |
| der Menschenrechtsdeklaration einzulösen: dass die Anerkennung der | |
| Menschenrechte nicht abhängig von bestimmter „Staatsbürgerschaft“ ist. | |
| ## Heimat in Zeiten permanenter Migration | |
| Die angekündigte Klimakatastrophe, mit allen Folgen der globalen | |
| Bodenverknappung, wird die Nationalstaaten noch stärker unter Druck setzen: | |
| Das Insistieren auf territorialer Staatlichkeit, als Privileg, innerhalb | |
| von staatlichen Grenzen Grund und Boden für die eigenen Staatsbürger (und | |
| für Millionäre, die sich einkaufen) zu reservieren, wird nicht | |
| durchzuhalten sein. Das gilt auch für den europäischen Raum. Es geht also | |
| um das globale Recht auf Heimat und Teilhabe aller an der globalen Allmende | |
| jenseits von Staaten, um die Organisation von Heimat in Zeiten von | |
| permanenter Migration. | |
| Jeder Mensch muss also in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu | |
| durchwandern und sich dort niederlassen können, wo er will, zumal die | |
| globalisierte Welt ohnehin für alles andere außer für Menschen schon ein | |
| einziges System der Vernetzung, der Durchlässigkeit und der | |
| Grenzenlosigkeit ist: von Pipelines über Breitband, vom Highspeed-Handel | |
| der Finanzmärkte bis hin zu den supply chains der Warenprodukte | |
| funktioniert alles de facto schon längst unbehindert von nationalen | |
| Grenzen. Diese Tatsache in einem neuen politisch-institutionellen System | |
| abzubilden, ist jetzt die Herausforderung. Es geht also darum, die | |
| vielfältige und vielschichtige globale Vernetzung politisch auszugestalten, | |
| anstatt nationale Reviere abzugrenzen, die sich mit der Kant’schen Logik | |
| nicht begründen lassen. | |
| Es geht um einen Verbund von Heimaten: Im Verbund inbegriffen sind | |
| Verbindlichkeit und Verbundenheit: Recht und Norm. Rechtliche | |
| Verbindlichkeit verpflichtet alle auf eine Verfassung; normative | |
| Verbundenheit ermöglicht die Beteiligung an dem, was alle betrifft. Jeder | |
| hat teil am Vorhandenen, und jeder bringt das Seine ein. Es geht um die | |
| freie Organisation von Otherness in verbindlichem Rechtszustand, in den | |
| Worten von Luce Irigaray, das heißt, um die neuartige Ausgestaltung eines | |
| direkten Konnexes zwischen dem Lokalen/Regionalen und dem Globalen jenseits | |
| von Staaten und mithin um eine Verschmelzung von Asyl- und Menschenrechten. | |
| Dabei entsteht ein grenzenloser Transitraum. | |
| Europäisch wäre künftig nicht die Rettung völkischer Homogenität durch | |
| homogene Völker, sondern europäisch wäre die Auflösung der Grenze als | |
| Grenze des Homogenen. Geschaffen wird damit ein gigantischer | |
| Möglichkeitsraum an nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und | |
| -modellen. Ein solches Nebeneinander wäre indes ein Konzept, das nicht auf | |
| Integration, sondern zunächst auf Segregation beruht. | |
| ## Warum nicht Neu-Aleppo, so wie Little Italy | |
| Segregation ist auch eine Form von Toleranz, lehrt uns die Soziologie. Vor | |
| diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die wir | |
| gegenwärtig machen, müssen wir die Frage stellen, ob die derzeit auf | |
| Integration ausgerichtete Flüchtlingspolitik der EU, die das Risiko großer | |
| gesellschaftlicher Unruhe in Europa birgt, die richtige Strategie ist. | |
| Werfen wir einen Blick in die jüngere Geschichte, um uns von Lösungen | |
| inspirieren zu lassen, die sich bereits als nachhaltig erwiesen haben: Was | |
| haben europäische Migranten gemacht, die während der Hungersnöte und | |
| politischen Krisen im 18. und 19. Jahrhundert in Massen in die Neue Welt | |
| ausgewandert sind, Iren, Italiener, Balten, Deutsche ...? Sie haben dort | |
| ihre Städte neu gebaut. | |
| Überall in Amerika finden wir Städtenamen wie New Hannover, New Hampshire, | |
| New Hamburg und so weiter. Die Italiener haben in Little Italy in New York | |
| ein ganzes Stadtviertel okkupiert. Niemand ist damals auf die Idee | |
| gekommen, Familien zu trennen oder in verschiedene Unterkünfte | |
| einzuquartieren oder über Familiennachzug zu feilschen. Niemand hat einen | |
| Asylbewerberstatus bekommen, staatliches Geld erhalten, wurde auf einen | |
| Sprachkurs oder gar eine „Leitkultur“ verpflichtet. Die europäischen | |
| Flüchtlinge sind einfach in einer neuen Heimat angekommen und haben dort | |
| ihre alte Heimat nachgebaut. Daraus können wir lernen. | |
| Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, | |
| benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die | |
| Andersartigkeit wahrt. Damit würde man einen Möglichkeitsraum an | |
| nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und -modellen schaffen. So | |
| entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu-Madaya inmitten von Europa. Oder | |
| auch Neu-Diyarbakir oder Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die kurdischen | |
| Flüchtlinge. Vielleicht auch Neu-Kandahar oder Neu-Kundus für die | |
| afghanischen Flüchtlinge oder Neu-Enugu oder Neu-Ondo für die | |
| nigerianischen Flüchtlinge. | |
| Europa ist groß (und demnächst leer) genug, um ein Dutzend Städte und mehr | |
| für Neuankömmlinge aufzubauen. Wir stressen uns nicht mit Integration. Wir | |
| pferchen die Flüchtlinge nicht in unsere – teilweise heruntergekommenen – | |
| Vororte oder in unsere – teilweise zersiedelten und verödeten – | |
| Landschaften im ländlichen Niemandsland. Wir konzentrieren sie nicht da und | |
| dort in Heimen, die abzufackeln das Herz nationaler Patrioten wärmt. Wir | |
| spielen ihr Recht auf Behausung und ihr Recht auf Arbeit in der neuen | |
| Heimat nicht gegen Wohnungen und Jobs für das untere Viertel unserer | |
| eigenen Gesellschaft aus. Wir reiben uns nicht aneinander und nicht | |
| gegeneinander auf. Kurz: Wir verzichten auf Integration. Wir respektieren | |
| Andersartigkeit – und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit | |
| allein. | |
| Die Neuankömmlinge kümmern sich dann um sich selbst, ganz entsprechend | |
| ihrer Kultur, Küchen, Musik und ihrer gesellschaftlichen Strukturen. Sie | |
| bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre | |
| Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die | |
| syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation | |
| zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die | |
| Rechtsanwältinnen Rechtsanwältinnen, die Bäcker Bäcker und so weiter. Dabei | |
| gilt das Recht der EU für alle. Das ist allerdings wichtig: Ius aequum, der | |
| gemeinsame gleiche Rechtszustand – für alte EU-Bürger wie für die | |
| Neuankömmlinge. Statt Leitkultur Bürgerrechte für alle. | |
| Europa gibt Bebauungsland als Starthilfe, das erschlossen ist, also | |
| angebunden an Infrastruktur – Energie, ICT, Transport –, das aber ansonsten | |
| frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist. Das ganze Geld, das wir | |
| jetzt ausgeben für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und | |
| Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei, gibt Europa den | |
| Flüchtlingen als Starthilfe. Da Städtebau nicht so schnell geht, hilft | |
| Europa, unterstützt durch den UNHCR, zunächst mit Behelfsbehausungen, also | |
| genau solchen Wohncontainern, die auch jetzt bereitgestellt werden. | |
| ## Städte entstehen aus dem Nichts | |
| Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht | |
| haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden, | |
| wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der | |
| Natur des Menschen zu liegen. Im Libanon wurden in den Millionencamps schon | |
| nach wenigen Wochen die sorgfältig rechteckig aufgestellten UNHCR-Container | |
| umgestellt und zurechtgerückt. Es entstanden große Verkehrsachsen und | |
| kleine Nebenstraßen – die Hauptstraße in einem libanesischen | |
| Flüchtlingscamp zum Beispiel wurde Champs Elysée getauft. Aus dem Nichts | |
| entstand Handel, entstanden kleine Boutiquen, wurde Schrottmaterial von | |
| gewieften Tüftlern und Bastlern zu Mopeds umgebaut; auf einmal gab es | |
| kleine Theater oder Tanzfeste. Es dauert, so sagen Experten, keine sechs | |
| Monate, dann wird aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt. | |
| Wer einmal ein neues Zuhause hat, will bleiben. Die Sorge, man hätte dann | |
| streunende Horden von Flüchtlingen auf europäischen Straßen, vor denen man | |
| (beziehungsweise eher frau) sich permanent schützen müsste, dürfte dann | |
| mehr eine fehlgeleitete Annahme sein. Kurz: Es geht um ein buntes Europa, | |
| ein respektvolles Nebeneinander, einen Verbund von Andersartigkeit unter | |
| gleichem europäischen Recht, ein kreatives Netz von Vielfalt. | |
| Im Laufe der Zeit würden sich die Bewohner der verschiedenen Städte auf | |
| ganz natürliche Art und Weise mischen. Die Neuankömmlinge würden in die | |
| nahe gelegenen „europäischen“ Städte zur Arbeit pilgern. Oder sie machen | |
| dort ihre Boutiquen auf, treiben Handel mit dem, was sie herstellen. | |
| Niemand bräuchte Asylgeld. Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden | |
| neugierig. Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine | |
| oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und | |
| zu dichten. Es entstehen hippe Cafés. Studenten, die billigen Wohnraum | |
| suchen, werden ihre WGs in Neu-Damaskus einrichten. Dann kommen die ersten | |
| Lieben, danach die ersten Kinder. Dann die ersten Elternbesuche. | |
| Drei Generationen später – so lange dauert es meistens – haben die | |
| Kindeskinder der ersten Generation Neuankömmlinge die Sprache der neuen | |
| Heimat gelernt, einfach weil es praktischer ist. 2089 könnte das schon ganz | |
| schön aussehen! Weitere hundert Jahre später erinnert – ähnlich New | |
| Hannover oder Paris, Texas, oder Vienna, Virginia, in den USA heute – nur | |
| noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen | |
| Welt kamen. | |
| Der Text erscheint demnächst auf Englisch im Green European Journal. | |
| 14 Feb 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!5211102/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Guérot | |
| Robert Menasse | |
| ## TAGS | |
| Grenze | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Utopie nach Corona | |
| Robert Menasse | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Europäische Union | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Boris Palmer | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Ungarn | |
| Migration | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommentar Journalismus und Fakezitate: Fälschen für Europa | |
| Der Schriftsteller Menasse hat jahrelang Zitate eines EU-Kommissionschefs | |
| gefälscht, um Propaganda für ein vereintes Europa zu betreiben. | |
| Flüchtlingshelfer in Dänemark: Bestraft für eine Fahrt und einen Tee | |
| Weil Bürger Flüchtlingen halfen, müssen sie wegen Menschenschmuggels eine | |
| Geldbuße zahlen. Hunderte Klagen wurden erhoben. | |
| EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik: Merkels Stunde der Wahrheit | |
| Werden sich die EU-Länder am Donnerstag auf eine Verteilung der Flüchtlinge | |
| in der Union einigen? Ein Überblick über die Positionen der Staaten. | |
| Kulturelle Flüchtlingsintegration: Shitstorm gegen Hessenpark | |
| Kostenloser Eintritt für Flüchtlinge in ein Freilichtmuseum? Rechte rufen | |
| zum Boykott auf und drohen Mitarbeitern mit Mord. | |
| Kommentar Boris-Palmer-Festspiele: Hinter dem Spektakel | |
| Boris Palmer will bewaffnete Grenzer, der linke Flügel seiner Partei ist | |
| empört. Das Schauspiel zeigt: Die Grünen sind heute eine tief gespaltene | |
| Partei. | |
| Viele Grüße aus der DDR: Früher war mehr Schießbefehl | |
| Die AfD fordert den Einsatz von Schusswaffen an den deutschen Grenzen – | |
| nicht die einzige erfolgreiche DDR-Politik, die man recyceln könnte. | |
| Aus „Le Monde diplomatique“: Die Erde im Kapitalozän | |
| Ungleichheit und Umweltzerstörung haben dieselben Triebkräfte. Ihre | |
| Veränderung wird von den Opfern des Hydrokarbon-Kapitalismus ausgehen. | |
| Kommentar Grenzen dicht in Deutschland: Absurde Kehrtwende | |
| Die Grenzkontrollen sind ein fatales Signal. Merkel verspielt international | |
| ihr Kapital und ermuntert andere Länder, es Deutschland gleichzutun. | |
| Ungarn gegen Flüchtlinge: Aktion an der Grenze | |
| Die ungarische Regierung holt sich die Legitimation für eine Mauer gegen | |
| Flüchtlinge. Neonazis prahlen damit, Jagd auf diese zu machen. | |
| Debatte Flüchtlingspolitik: Die Grenze selbst ist die Gefahr | |
| Europa muss für alle offen stehen, nicht nur für eine kleine Elite. Der | |
| Versuch, Migration zu kontrollieren, ist unmenschlich, teuer und sinnlos. |