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# taz.de -- Das drohende Scheitern der EU: Gegen die Wand
> Die Lage sei „so dramatisch wie nie zuvor“, sagt Parlamentspräsident
> Schulz. Voller Angst klammert man sich in Brüssel an die tägliche
> Routine.
Bild: Vieles in Brüssel sieht nach Routine aus. Doch der Besuch David Camerons…
Brüssel taz | Im Pressesaal der EU-Kommission an der Brüsseler Rue de la
Loi herrscht gespannte Ruhe. Gleich soll Migrationskommissar Dimitris
Avramopoulos aus den Höhen seines bürokratischen Olymps herabsteigen, um
den 1.000 akkreditieren EU-Korrespondenten Rede und Antwort zu stehen. Sein
Büro im 12. Stock des Berlaymont-Gebäudes hat einen Bericht zum „State of
Play“ in der Flüchtlingskrise vorbereitet. Akribisch wird darin
aufgelistet, wie es um die seit Monaten geplante, aber immer noch
umstrittene Verteilung von Asylbewerbern, um Quoten und Hotspots steht.
Die Zahlen sind ernüchternd: Von den vereinbarten 160.000 Asylbewerbern
wurden erst 497 auf die EU-Länder umverteilt. Von fünf geplanten Hotspots
ist erst ein einziger arbeitsfähig. Avramopolous trägt diese Zahlen
gleichmütig vor. Er klingt unbeteiligt wie ein Buchhalter.
Doch dann, ganz unvermittelt, fährt er aus der Haut. „Haben Sie nicht das
Gefühl, gescheitert zu sein?“, hat ihn eine Journalistin gefragt. „Es ist
nicht fair, uns zu kritisieren“, schimpft der Grieche nun sichtlich empört.
„Kritik zu üben ist immer leicht. Wir tun genau das, was wir tun können!
Wenn die Mitgliedstaaten auch getan hätten, was sie sollten, dann sähe die
Situation jetzt ganz anders aus!“
Ein Raunen geht durch den Saal. Die Journalisten, die es gewohnt sind, von
PR-Profis mit vorgefertigten guten Nachrichten versorgt zu werden, wundern
sich über diesen Wutausbruch. Es ist einer der seltenen Momente der
Wahrheit in Brüssel. Ein Moment, in dem die bürokratische Routine aufbricht
und der ganze Frust der Berufseuropäer zum Ausdruck kommt. Seit Monaten
versuchen sie, den Laden zusammenzuhalten und Lösungen zu finden. Doch wenn
die EU-Staaten nicht mitspielen, sind sie machtlos.
## Die letzte Chance
Dabei wussten alle, dass schwierige Zeiten auf sie zukommen würden. „Dies
ist die Kommission der letzten Chance“, hatte Jean-Claude Juncker schon im
November 2014 gewarnt, als sein 28-köpfiges Team startete. „Zu wenig
Europa, zu wenig Union“, klagte er im September 2015, als die
Flüchtlingstrecks über den Balkan nach Deutschland zogen. Nun ist alles
noch viel schlimmer gekommen. Europa steckt nicht in einer, sondern gleich
in mehreren Krisen, der „Polykrise“. Das sagt einer, der es wissen muss:
Währungskommissar Pierre Moscovici.
Monatelang hat der Franzose im vergangenen Jahr gegen den Grexit gekämpft,
den von Deutschland betriebenen Rauswurf Griechenlands aus dem Euro. Er hat
gewonnen – und findet doch keine Ruhe. Denn die Flüchtlingskrise hält auch
ihn in Atem. Sie treibt den Populisten und Nationalisten immer neue Wähler
zu. Und sie reißt tiefe Löcher in die Staatshaushalte. Moscovici denkt
deshalb über einen Flüchtlingssoli nach.
Seine Referenz ist dabei Wolfgang Schäuble, ausgerechnet. „Wolfgang
Schäuble hat gesagt, dass wir finanzielle Solidarität üben müssen, ich bin
ganz seiner Meinung.“ Immer wieder erwähnt Moscovici seinen Freund
Wolfgang, mittlerweile spricht er sogar den Vornamen korrekt aus: „Je suis
d’accord avec Wolfgang.“
In der schlimmsten Krise der EU-Geschichte passt kein Blatt zwischen
Brüssel und Berlin, das ist die Botschaft. Moscovici sagt es mit sanfter
Stimme, er versucht ruhig und gelassen zu wirken. Dabei hetzt er von Termin
zu Termin, von einer Krisensitzung zur nächsten. Das große Bücherregal in
seinem Büro ist fast leer, der Kommissar hat keine Zeit zum Einräumen und
Lesen. Nach einer Viertelstunde Interview muss er schon wieder weg: Es gibt
Ärger um Portugal – noch so ein Krisenland. Es könnte zum neuen
Griechenland werden, fürchten manche in der Kommission.
## Spaltung im Ministerrat
Im Ministerrat auf der anderen Seite der Rue de la Loi hat man ganz andere
Sorgen. Kurz vor dem nächsten EU-Krisengipfel versuchen die Außenminister,
ein Auseinanderbrechen der 28 Mitgliedstaaten zu verhindern. Mit der
Eurokrise kam die Spaltung in Nord und Süd, nun droht auch noch der Bruch
zwischen Ost und West.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sitzt an einem riesigen Tisch im
winzigen Pressesaal des Großherzogtums. Sein Gesicht ist braungebrannt,
doch seine Mimik ist sorgenvoll. „Wir dürfen nicht mit dem spielen, was
Europa zusammenhält“, warnt er. Ein „Verein der Abtrünnigen“ wäre das
Letzte, was die EU jetzt noch braucht. Es ist ein Seitenhieb auf Ungarn,
Polen, Tschechien und die Slowakei. Die vier Staaten der Visegrád-Gruppe
stellen sich vehement gegen die Flüchtlingspolitik der Kommission. Sie
wollen die Balkanroute abriegeln. Sie nennen es „Plan B“; am Montag haben
sie ihn in Prag bekräftigt.
Das ist die triste Realität einer uneinigen Union: Die Weichen werden nicht
mehr in Brüssel gestellt, sondern in nationalen Hauptstädten. Die
Entscheidungen fallen nicht mehr gemeinsam im Ministerrat, wie es der
EU-Vertrag vorsieht, sondern in separaten Klubs und Klübchen.
Niemand Geringeres als Kanzlerin Angela Merkel hat mit diesen Kungelrunden
angefangen. Auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise im Juni 2015 lud sie
die Gläubiger kurzerhand ins Kanzleramt – und klopfte dort die
deutsch-europäische Linie fest.
## „Koalition der Willigen“
Zur Flüchtlingskrise hat sie nun eine „Koalition der Willigen“ gebildet,
die sich vor dem EU-Gipfel trifft. Und zwar nicht im Ministerrat, sondern
auf neutralem Boden, in der österreichischen EU-Vertretung. Für das Treffen
mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu wird die Botschaft
weiträumig abgeriegelt. Ausnahmezustand im Europaviertel. Bei der letzten
Runde der „Koalition der Willigen“ waren nicht einmal Journalisten
zugelassen – Merkel wollte Davutoğlu keinen kritischen Fragen aussetzen.
Alarmstufe Rot herrscht auch im Europaparlament. Neben der Kommission und
dem Rat ist es die dritte große EU-Institution in Brüssel – und zugleich
die schwächste. In der Griechenlandkrise spielten die Europaabgeordneten
gar keine Rolle. In der Flüchtlingskrise durften sie nur die Vorschläge der
Kommission abnicken. Im Eilverfahren.
Doch wenigstens beim Streit um Großbritannien möchte Parlamentspräsident
Martin Schulz mitmischen. Mit breitem Lächeln und betont herzlichem
Händedruck empfängt er David Cameron. Der britische Premier ist kurz vor
dem Gipfel nach Brüssel geeilt, um die Abgeordneten von seinem
Vier-Punkte-Plan gegen den „Brexit“ – den drohenden EU-Austritt
Großbritanniens – zu überzeugen.
Zunächst war geplant, dass sich Cameron mit den Präsidenten aller
politischen Gruppen trifft. Aber dann wäre er womöglich auf Nigel Farage,
den Chef der EU-feindlichen britischen Ukip, gestoßen. Deshalb hat Schulz
das Programm kurzfristig geändert. Nur die staatstragenden Parteien –
Konservative, Sozialdemokraten und Liberalen – dürfen sich mit dem Briten
an einen Tisch setzen.
## Gegen das Cherry-Picking
Spannend wird es trotzdem. Denn bei der kurzen Aussprache werden viele
Vorbehalte gegen den „fairen Deal“ geäußert, den EU-Ratspräsident Donald
Tusk mit Cameron ausgehandelt hatte. Vor allem die „Notbremse“ trifft auf
Widerstand. Sie soll Cameron die Möglichkeit geben, den Zuzug von
EU-Bürgern auf die Insel zu begrenzen und sein für Juni geplantes
EU-Referendum zu gewinnen.
Die Abgeordneten wittern darin eine Diskriminierung, vor allem die
Osteuropäer gehen auf die Barrikaden. Vielen passt auch das ganze Vorgehen
nicht. „Wenn man einmal anfängt, einem Land das Cherry-Picking zu erlauben,
gibt es kein Halten mehr“, hatte die liberale französische
Europaabgeordnete Sylvie Goulard vor dem Treffen gewarnt. Ähnlich sehen es
ihre deutschen Kollegen.
„Das Parlament tut sein Möglichstes, um den Vorstellungen entgegenzukommen,
aber wir können nichts garantieren“, wird Schulz nach dem Treffen mit
Cameron sagen. „Die Europäische Union war noch nie in einer so dramatischen
Lage wie in dieser Woche“, fügt er bedeutungsschwer hinzu.
Da ist sie wieder – die „Polykrise“, nur noch komplizierter als bisher. Z…
erbitterten Streit über die Flüchtlinge ist nun auch noch das dramatische
Ringen um Großbritannien hinzugekommen. Und niemand der Verantwortlichen
will für ein mögliches Scheitern verantwortlich sein. Dabei ist es alles
andere als ausgeschlossen, dass Cameron sein Land und die gesamte EU gegen
die Wand fährt. Seine Vorschläge seien möglicherweise „etwas schwach“, um
die Briten beim für Juni geplanten EU-Referendum zu überzeugen, warnt
Luxemburgs Außenminister Asselborn.
Doch was passiert, wenn Cameron scheitert? Was soll die EU tun, wenn der
Brexit kommt? Dazu will sich der Luxemburger lieber nicht äußern. „Das ist
dann seine Sache.“ Es klingt, als fürchte auch er den Moment der Wahrheit.
Mitarbeit: Camille Le Tallec
18 Feb 2016
## AUTOREN
Eric Bonse
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