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# taz.de -- Debatte Merkels Flüchtlingspolitik: Balkan, das wunde Herz Europas
> Die deutsche Debatte über die Europakrise darf nicht bei Turnhallen,
> Beliebtheitswerten und der Beschwörung humanitärer Politik enden.
Bild: Drei Kinder im Flüchtlingscamp in Idomeni, Griechenland. Sie wollen nach…
Der Balkan ist das Herz Europas, so viel ist klar. Wer von der Geschichte
der europäischen Länder liest, kommt an historischen Kämpfen um den Zugang
zum Meer nicht vorbei, um Glaubenskriege nicht und nicht um die Weltkriege
des letzten Jahrhunderts. Der Balkan und seine Routen waren strategisch
gesehen immer zentral für Europa. Heute Abend sitze ich im Hotelzimmer in
Zagreb und sehe statt Handelswegen Fluchtwege im Fernsehen. Vor den Grenzen
Mazedoniens spielen sich Kampfszenen ab.
Schon letzten Herbst hieß es: Sollte es eine Politik der Grenzzäune geben,
könnte es auf dem Balkan wieder zum Einsatz von Militär kommen. Ich habe
schon einmal erlebt, wie schnell solche fiktiv anmutenden Szenarien
Wirklichkeit werden, und möchte heute von meiner nicht-ganz-deutschen
Perspektive auf Deutschland und Europa blicken.
In Deutschland hängt die Debatte im
„Turnhallen-AfD-Wir-schaffen-das-oder-schaffen-das-nie“-Status fest. Der
Glückstaumel der deutschen Linken über Merkels vordergründig humanitäre
Politik ist gefährlich, er blendet zu vieles aus. Etwa, welche Folgen
Merkels Politik für das Herz Europas haben wird. Auf dem Balkan führt man
jetzt Grenzzäune ein und diskutiert über die Wiedereinführung der
Wehrpflicht. Viele Länder sind arm – was Deutschland schafft, schafft der
Balkan so noch lange nicht. Und sieht doch die Folgen der deutschen Politik
auf seine Grenzen zukommen.
Während die Linke sich ihrer Humanität versichert, organisiert die Rechte
hier in Kroatien eine neue nationale Selbstvergewisserung. Die
intellektuellen linken Stimmen werden leiser. Andere werden lauter, etwa
solche: „Die Muslime erreichen Europa.“ Auf dem Balkan ist es leicht für
die rechten Kräfte, in die Zauberkiste des Narrativs von der Unterdrückung
durch das Osmanische Reich zurückzugreifen.
Sie können sagen: Österreich-Ungarn war zwar hart, aber niemand war so hart
zu uns wie die Muslime. Zig Burgen erinnern an den Sieg der Christen. Bis
hierher und nicht weiter, das ist eine beliebte, bei weiten Teilen des
Volkes gut abrufbare Geschichte, mit der man die gegenwärtige Migration und
die Kämpfe an den Grenzzäunen auch kommentieren kann.
## Merkel bei Anne Will
Unterdessen Merkel auf Überzeugungstour bei Anne Will. Die Kroaten fassen
ihre Kernaussage in den Abendnachrichten so zusammen: Merkel werfe den
Griechen vor, nicht ausreichend Flüchtlingsunterkünfte für 50.000 Menschen
geschaffen zu haben. Die deutschen Medien berichten hingegen, Merkel hätte
wieder Beliebtheitspunkte gesammelt.
Klar, vieles von dem, was Merkel sagt, vertrete ich auch. Nicht, weil es
besonders klug ist, sondern weil es einer Logik folgt, die Humanität zum
nicht verhandelbaren Grundsatz macht. Der bisherige Lösungsansatz hat nur
eine entscheidende Schwäche: Es ist absehbar, der Tag wird kommen, an dem
uns das alles zu viel wird. Wie argumentieren wir dann?
Der nächste Haken an der bisherigen Haltung: Sie gelingt nur als
europäische Lösung. Doch derzeit stärkt diese Haltung vor allem jene
Europäer, die genau diese Politik nicht mittragen. Parallel zu Merkels
Auftritt hält Orbán eine Rede, in der er die EU darüber belehren will, was
Souveränität und Nationalstaat bedeutet. Kroaten, die letztes Jahr Urlaub
in Budapest gemacht haben, loben die Sauberkeit der Städte, die
Gepflegtheit des öffentlichen Raums – besser als in Deutschland, sagen sie.
Was, wenn ein großer Teil Europas diese, in Transformationsprozessen mühsam
erkämpfte, beschauliche Ordnung vor die Allgemeingültigkeit der
Menschenrechte setzt? Weil ihnen die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte
in Anbetracht des weltweiten Elends als Utopie erscheint, die nur zu
Selbstzerstörung beiträgt? Wenn es Merkel nicht gelingt, diese Länder auf
ihrem Weg mitzunehmen, wird das alles wieder ein nur deutsches Problem und
somit mit ihrer Haltung nicht lösbar.
Die Balkanisierung dieser Mitte Europas, die seit dem jugoslawischen
Bürgerkrieg betrieben wurde, hat viele Deutsche jahrelang von Problemen
verschont. Der Umgang Deutschlands mit Italien war letztlich eine
Balkanisierung des Mittelmeerraums: Man hat jahrelang so getan, als wäre
Lampedusa ein italienisches Problem. Die Schließung der Balkanroute wird
Italien wieder vor dieses Problem stellen.
## Kaum ein europäisches Land denkt in der Einheit Europa
Es gibt zu wenig Europa in Europa. Kaum ein europäisches Land denkt in der
Einheit Europa. Ja, auch ich bin bei Merkel. Doch während sie nicht sieht,
was sie dazu bringen könnte, ihre Haltung zu ändern, sehe ich zu wenig
davon, wie sie diese Haltung auf Dauer umsetzen will. Ich sehe nur, wie ein
europäisches Land nach dem anderen sich die Aufgaben nicht zutraut oder
zumuten will.
Von Bulgarien, Rumänien, der Slowakei über Kroatien bis Polen beläuft sich
der Mindestlohn auf 1,10 bis 2,60 Euro. Auch das ist Europa. Ist hier ein
„Wir schaffen das!“ dasselbe wie in Deutschland? Wer europäische
Solidarität fordert, muss Europa als Ganzes sehen. Albanien wird nun als
nächstes Tor nach Europa gehandelt. Soll nun wirklich eines der von Gott
vergessenen Länder, das selbst nie aus dem Elend gekommen ist, meistern,
was schon Bayern kaum schafft?
Der Balkan ist wieder wund. In Bosnien hat sich die Weltgemeinschaft zu
früh zurückgezogen und das Feld Predigern überlassen, die junge Menschen
radikalisieren. Auf den Balkan wirken Pegida und die AfD wie ein Witz
innerhalb der europäischen rechten Gegenwart, allein deshalb, weil es in
Deutschland eine starke demokratische Gegenwelt gibt. Doch hier, in den
armen Ländern Europas, spielt Merkels humanitäre, doch undurchdachte
Politik den Angstschürern die Macht in die Hände.
Ich sitze hier in meinem kleinen Hotelzimmer, natürlich gibt es immer noch
dieses einfache, langweilige Leben für viele. Aber auf ungeheuerliche Weise
spürt man, wie hier etwas aus dem Ruder läuft. Die deutsche Debatte über
die Europakrise darf nicht bei deutschen Turnhallen, Beliebtheitswerten und
Beschwörung humanitärer Politik enden. Es braucht wieder Strategie. Und das
nicht nur auf den Routen innerhalb Europas.
Deutschland muss die anderen Länder, die außereuropäischen Länder, und
damit meine ich nicht die Türkei, zum Teil der Lösung machen. Dieses Mal
muss es heißen: too big to fail.
2 Mar 2016
## AUTOREN
Jagoda Marinić
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