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# taz.de -- Essay zu Flüchtlingen in Polen: Die unbarmherzigen Vier
> Polen will keine Flüchtlinge. Die Hartherzigkeit des katholischen Landes
> hat auch mit der Homogenität der Bevölkerung nach 1945 zu tun.
Bild: Nicht sehr weitsichtig: Im Juli 2015 protestierten in Warschau Nationalis…
Die [1][Rede des Kommissionspräsidenten] zur Flüchtlingswelle empörte die
polnische Rechte: „Junckers Erpressung“, titelte die nationalkatholische
Zeitung Nasz Dziennik auf der ersten Seite. Im Blatt kritisierte Exdiplomat
Witold Waszczykowski Junckers Hinweis, dass etwa 20 Millionen Menschen
polnischer Abstammung im Ausland lebten. Dieser Vergleich sei unangebracht,
weil Juncker „der deutschen Zivilisation angehört“, die jahrhundertelang
das ihre dazu beigetragen habe, dass Polen emigrieren mussten.
Sie hätten hart gearbeitet und ihre Ankunftsländer nicht nach ihrem Gusto
umkrempeln wollen, während die Muslime Assimilation ablehnten und
„Klein-Syrien“ oder „Klein-Libyen“ errichten wollen, „wie es in Frank…
der Fall“ sei. Waszczykowski, der außenpolitischer Experte der
Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ist, will sogar in
Fernsehberichten gesehen haben, wie Flüchtlinge Verpflegungspakete
ablehnten, weil sie vom Roten Kreuz verteilt wurden.
Die Debatte um den Ansturm der Flüchtlinge in die EU erwischt Polen aus
mehreren Gründen auf dem falschen Fuß.
Zum einen sind am 25. Oktober Parlamentswahlen. Die nationalkonservative
Opposition befindet sich nach den [2][gewonnenen Präsidentenwahlen vom Mai]
im Aufwind und verweigert jegliche Zusammenarbeit mit der
liberalkonservativen Regierung.
## Schlechtes Timing
Die Flüchtlinge sind mittlerweile zum Hauptthema des Wahlkampfes geworden.
Beata Szydło, die Spitzenkandidatin von „Recht und Gerechtigkeit“, greift
die [3][Argumentation des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán] auf
und sagt: „Dies ist ein deutsches Problem.“ In konservativen Kreisen
beklagt man, dass Berlin nach eigenem Gutdünken Dinge entscheide, die
andere beträfen.
Das Timing der EU ist für die seit acht Jahren regierende „Bürgerplattform�…
fatal. Wenige Tage vor den Wahlen wird der EU-Gipfel Aufnahmequoten bekannt
geben. Fallen sie für Polen höher aus als erwartet, hat die schwächelnde
Regierung ein Problem.
Zum anderen ist Polen infolge des genozidalen Weltkriegs seit 1945 ein
ethnisch gezwungenermaßen mehr oder weniger homogenes Land, in dem man sich
erst in den 80er Jahren seiner angestammten nationalen Minderheiten wieder
bewusst wurde: der jüdischen, ukrainischen, deutschen, weißrussischen und
winzigen tatarischen.
Die Ankunft von 40.000 Tschetschenen in den nuller Jahren war die erste
Begegnung mit muslimischen Asylberechtigten, aber angesichts der gewaltigen
Herausforderungen der „Transformation“, also der Umstellung fast aller
Bereiche der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit im Lande, wurde sie
schnell als marginal empfunden, zumal viele der Einwanderer tatsächlich
weiterzogen in Länder mit viel besseren Konditionen.
## Nationale Egozentrik
Derzeit ist die Verunsicherung der Polen oft mit der Angst vor Islamisten
verbunden. Viele fürchten, dass die Flüchtlingswelle auch eine
Einschleusung von Terroristen erleichtert. Auch Jarosław Gowin, bis vor
Kurzem Justizminister in der Regierung Tusk, inzwischen aber in die Nähe
der Kaczyński-Partei gerückt, warnt vor Attentätern, die sich „in Parks mit
polnischen Säuglingen in die Luft sprengen werden“.
Diese [4][nationale Egozentrik] ist keineswegs „polnisch“ – man findet sie
in der Rhetorik Le Pens in Frankreich, Wilders in den Niederlanden, in der
Pegida-Bewegung. Es stimmt aber, dass sie in den früheren „Bruderländern“,
inklusive der DDR, stärker zum Vorschein kommt als im Westen und der
Altbundesrepublik, wo man die individuelle „Aufarbeitung“ der Vergangenheit
betonte und es eingeübte Formen zivilgesellschaftlicher „Einmischung“ gab.
Polen hatte zwar die riesige [5][Solidarność-Bewegung], in der auch
liberale, weltoffene und gegenüber nationalem Autismus kritische Tendenzen
stark vertreten waren. 25 Jahre danach ist die Gewerkschaft aber zu einer
streitbaren Fußtruppe der Partei „Recht und Gerechtigkeit“
zusammengeschrumpft. Unter einer neuen Führung, die personell nichts mit
den heroischen 80er Jahren gemein hat, hält sie ihre Hausmacht in den
reformbedrohten Kohlegruben und unter den Verlieren der Transformation, die
mit der Globalisierung und Öffnung des Landes nicht zurechtkommen.
Und dennoch: Die Umfragen zur Aufnahme von Flüchtlingen fallen je nach
Fragestellung anders aus. Laut der Zeitung Rzeczpospolita lehnen 61 Prozent
der Befragten eine Einquartierung von Flüchtlingen in ihrem Haus ab. Laut
der Gazeta Wyborcza bejahen immerhin 53 Prozent ihre Aufnahme im Land.
44.000 Menschen gaben im Netz an, dem Aufruf radikaler Rechter zu einem
Protestmarsch am Sonnabend in Warschau folgen zu wollen. Das Rathaus legte
aber wegen Volksverhetzung sein Veto ein.
## Nicht so sein wie Ungarn
Die katholischen Würdenträger sind gespalten. Während Erzbischof Henryk
Hoser vor einer Islamisierung Europas warnte, rief Erzbischof Stanisław
Gądecki jede katholische Gemeinde in Polen zur Aufnahme von mindestens
einer Flüchtlingsfamilie auf. Journalisten errechneten, dass mit einer
solchen „Willkommenskultur“ bis zu 40.000 Menschen betreut werden könnten.
„Lassen wir uns nicht zu den ‚unbarmherzigen Vier’ rechnen“, schreibt in
der Gazeta Wyborcza Janina Ochojska und meint die Visegrád-Gruppe: Ungarn,
Tschechien, Slowakei und Polen. Ochojska leitet seit den 80er Jahren die
[6][Polnische Humanitäre Aktion] und wurde 1994 zum europäischen „Menschen
des Jahres“ gewählt.
„Als ich mir die Fotos lächelnder Flüchtlinge ansah, die mit Plakaten
begrüßt wurden, auf denen [7][‘Willkommen in München’] stand, dachte ich,
dass wir uns an den Deutschen ein Beispiel nehmen sollten, was eine offene
Gesellschaft ausmacht, die mit Taten beweist, dass humanitäre Werte in
ihrem Leben präsent sind. Doch ich hoffe, dass wir Polen uns als eine
solidarische und offene Nation erweisen werden, dass in uns Mitgefühl,
Hilfsbereitschaft und Sensibilität für fremdes Leid sind.“
Der Migrationsexperte Maciej Duszczyk beklagt, dass es wegen der gängigen
Meinung, Polen sei für Flüchtlinge nicht attraktiv und überhaupt eher ein
Auswanderungsland, immer noch keine Ansätze für eine Migrationspolitik
gibt. Dies sei aber EU-weit so, es gebe nur ein Ad-hoc-Krisenmanagement.
„Das Problem in Calais versuchen britische und französische Minister zu
lösen, indem sie Geld von der EU fordern. Das ist nicht gut.“
## Humane Werte durchsetzen
„Europa braucht gemeinsame Politiken, auch eine Migrationspolitik, doch
jetzt müssen wir unser eigenes Gewissen prüfen“, schreiben Kazimierz Bem,
evangelischer Pastor, und Jarosław Makowski, Philosoph und Abgeordneter im
schlesischen Landtag, in der Gazeta Wyborcza. Polen müsse sich darauf
besinnen, dass es jahrhundertelang ein multiethnisches Land war.
„Wenn unsere Vorfahren sich an den Stuss der radikalen Rechten gehalten
hätten, die von einem ,weißen Polen für die Polen‘ krakeelten, gäbe es
unter uns keine Fukiers, Norblins, Marconis, Scheiblers, Chopins,
Kronenbergs, Lorentz’, Szuchs, Achmatowicz’, Anders’ und viele andere
Familien, die sich um Polen verdient gemacht haben.“ Es gehe nicht um
blauäugige Willkommenskultur, sondern um die Durchsetzung der christlichen
und humanen Werte einer liberalen Demokratie, die allerdings auch die
Flüchtlinge respektieren müssten.
Ihren Aufruf überschrieben sie sinnigerweise mit „Die armen Polen schauen
auf die Flüchtlinge“ – eine Anspielung auf den bitter-ironischen Titel
eines berühmten Essays von Jan Błoński: „Die armen Polen schauen aufs
Ghetto“. Er löste eine Debatte aus über die Gleichgültigkeit vieler
Menschen angesichts des Holocausts. Nicht die beiden Sachverhalte sind
analog, sondern die Heuchelei derjenigen, die sagten, sie glaubten an einen
barmherzigen Gott, aber die gleichzeitig bedürftigen Flüchtlingen die Hilfe
verweigerten.
11 Sep 2015
## LINKS
[1] /EU-Quoten-fuer-Fluechtlinge/!5228948
[2] /Kommentar-Praesidentenwahl-in-Polen/!5200824
[3] /Ungarischer-Premier-zur-Fluechtlingskrise/!5226750
[4] /Fluechtlinge-in-Polen/!5225044
[5] /Tadeusz-Mazowiecki-gestorben/!5056219
[6] http://www.pah.org.pl/?set_lang=en
[7] /Ankunft-der-Fluechtlinge-in-Muenchen/!5230032
## AUTOREN
Adam Krzemiński
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