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# taz.de -- Jens Spahn zur Flüchtlingspolitik: „Armutsmigration ist keine Fl…
> Jeder mit Herz wolle helfen, sagt CDU-Mann Spahn. Zugleich wüchsen die
> Sorgen. Im Umgang mit anderen Meinungen hält er sich für entspannter als
> die Linken.
Bild: CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn.
taz: Herr Spahn, bis vor Kurzem hat die CDU abgestritten, dass Deutschland
ein Einwanderungsland sei. War das die grandioseste Lebenslüge Ihrer
Partei?
Jens Spahn: Es war eine der großen Lebenslügen unserer Gesellschaft.
Deutschland war immer ein Einwanderungsland.
Die CDU hat Wahlkämpfe mit Sprüchen wie „Kinder statt Inder“ geführt und
gegen den Doppelpass polemisiert. Hat diese sture Realitätsverweigerung
Ressentiments in der Gesellschaft gefördert?
Nein, damals gab es hohe Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Probleme, in
den 90ern musste Deutschland zudem die Einheit meistern. Die Debatten
fanden unter anderen Vorzeichen statt. Eine Gesellschaft, die mit sich
selbst hadert, ist nicht offen für andere.
CSU-Chef Horst Seehofer hat noch im Frühjahr 2015 gesagt, Deutschland sei
nicht das Sozialamt der Welt. Stimmen Sie zu?
In der Sache hat er recht. Wir werden die Armutsprobleme der Welt nicht in
Deutschland lösen können. Ich verstehe jeden, der auf der Suche nach einem
besseren Leben den Balkan verlässt. Aber Armutsauswanderung ist eben keine
Flucht und damit kein Asylgrund.
Mal ehrlich, Seehofers Satz ist doch widerlich.
Warum? Weil die NPD denselben Satz benutzt?
Nein. Weil Seehofer damit Ressentiments instrumentalisiert.
Die Formulierung ist sehr zugespitzt. Aber wie gesagt, sein Argument ist
richtig. Ich glaube, die Debatte hat inzwischen sehr an Differenzierung
gewonnen, übrigens auf allen Seiten.
Wie meinen Sie das?
Als wir vor 15 Jahren sagten, wer in Deutschland bleiben will, muss auch
Deutsch sprechen, wurden wir in die rechte Ecke gestellt. Heute sagen das
auch die Grünen.
Politisch steht dieses Land gerade vor der Frage: Zelte oder Schulen? Also
kurzfristige Hilfe oder langfristige Infrastrukturplanung. Wofür plädieren
Sie?
Schnellere und zentrale Verfahren für die höchstwahrscheinlich erfolglosen
Asylanträge aus dem Balkan. Und deutlich frühere Integration, inklusive
Deutschkursen und Arbeitssuche, für diejenigen, die als Flüchtlinge länger
oder für immer bleiben werden.
Die Union wirkt schizophren. Hier Seehofer, der Ressentiments gegen
Asylbewerber instrumentalisiert, da Jens Spahn, der eine schnelle
Integration fordert.
Diese Schizophrenie tragen wir alle in uns. Jeder mit etwas Herz fühlt mit
und will helfen. Und gleichzeitig werden die Sorgen umso größer, je
konkreter mein eigener Alltag herausgefordert wird. Wenn das erste
Flüchtlingskind in der Klasse meiner Tochter sitzt, finde ich das gut. Aber
wenn in der Klasse auf einmal zwölf Flüchtlingskinder sind und die Lehrer
kaum noch Zeit haben für das eigene Kind, sieht das schnell ganz anders
aus.
Wie sollte man damit umgehen?
Die Kunst ist, berechtigten Fragen ernsthaft zu begegnen, ohne billig nach
dem Mund zu reden. Zu viele haben den Eindruck, sie können ihre Sorgen
nicht mehr vorbringen. Zuhören und argumentieren, auch wenn da mal ein Satz
quer liegt, bei dem die politisch korrekte Hauptstadtszene sofort
zusammenzuckt. Aber da gibt es auch klare Grenzen. Die Teilnahme an einer
NPD-Demo etwa geht gar nicht.
Warum haben die Deutschen eigentlich so viel Angst?
Tja, eigentlich haben wir allen Grund, eine zufriedene, selbstgewisse
Nation zu sein. Unserem Land geht‘sgerade richtig gut. Trotzdem gibt es
dieses starke Bedürfnis nach maximaler Sicherheit. Wenn es gut läuft, ist
die größte Sorge der Deutschen: Bleibt es auch so?
Sie sind ja Verfechter eines neuen Einwanderungsgesetzes. Wann kommt denn
das?
Finden Sie, Deutschlands Hauptthema ist gerade ein Einwanderungsgesetz?
Viel wichtiger ist doch, wie wir jetzt mit 800.000 Menschen umgehen, die in
diesem Jahr zu uns kommen.
Wäre denn die Bundesregierung überfordert, beides zu wollen?
Wir haben schon jetzt wahnsinnig viel Einwanderung aus Südeuropa, aus
Italien, Spanien, Griechenland und Portugal. Du kannst zudem aus einem
Nicht-EU-Land sogar hierherkommen, um dich ausbilden zu lassen oder einen
Job zu suchen. Da ist schon vieles möglich. Viel entscheidender ist die
gesellschaftliche Diskussion über Zuwanderung, wir brauchen eine Änderung
des Blickwinkels.
Sie sind ein prominenter Verfechter dieses Gesetzes und erklären uns
gerade, das sei jetzt doch nicht so wichtig?
Das ist ein Lernprozess, der Fokus der Debatte war falsch.
Was sehen Sie jetzt anders?
Die eigentliche Frage ist, ob wir uns positiv als Einwanderungsland
verstehen und dass wir als Gesellschaft durchdeklinieren, was das für uns
bedeutet. Einwanderung und Integration, das ist nicht nur heile Welt, das
ist auch mal anstrengend für alle Beteiligten.
Dürfen wir daraus schließen, dass das Gesetz auf 2017 und mögliche
Koalitionsverhandlungen mit den Grünen vertagt wird?
Da wäre ich gespannt auf die konkreten Vorschläge der Grünen. Eine
Einwanderung ohne klare Jobperspektive jedenfalls geht nicht. Dafür sind
unsere Sozialleistungen im internationalen Vergleich viel zu hoch, reguläre
Zuwanderung in den Sozialtransfer halten wir auch gesellschaftlich gar
nicht aus. Das sehe ich entschieden anders als mancher Grüner.
Die Grünen haben intern beim Thema sichere Herkunftsstaaten einen Dissens.
Meinen Sie, es finden sich zwei grün regierte Länder, die im Bundesrat mit
Schwarz-Rot stimmen?
Wenn auch die EU hoffentlich bald sichere Herkunftsländer definiert haben
wird, dann sollte man nicht schlauer sein wollen als die EU. Es ist doch
schizophren, zu sagen, dass EU-Beitrittskandidaten Länder sind, deren
Bürgern man Asyl gewähren muss. Nur eines von beidem kann richtig sein. Mal
schauen, wer sich da am Ende durchsetzt.
In der gesamten Flüchtlingsdebatte wird der Ton der Auseinandersetzung
schärfer. Wie nehmen Sie das wahr?
Online ist das so, definitiv. Insbesondere bei Facebook, Twitter und in den
Kommentarspalten der Medien fallen alle Hemmungen, das ist erschreckend.
Gleichzeitig verengt sich die „offizielle“ politische Debattenkultur immer
weiter. Da steht gleich die Frage: Was kannst du eigentlich noch sagen, von
wem kriegst du eins drüber? Wer auf objektive Probleme in Neukölln oder
Marxloh hinweist, ist gleich ausländerfeindlich, wer die Ehe Mann und Frau
vorbehalten möchte, ist gleich ein Homohasser. Diese Schwarm-Empörung, wo
sich jeder noch mal eben per billig gemachten Klick seines eigenen
moralischen Besserseins vergewissert, nervt zunehmend.
Aber die Konservativen haben da auch blinde Flecke.
Ich halte mich jedenfalls für deutlich entspannter im Umgang mit anderen
Meinungen als die angeblich so weltoffenen und liberalen Linken. Pluralität
und Freiheit sind halt immer auch anstrengend.
Ihren Heidenau-Tweet neulich haben Sie trotzdem gelöscht. Nachdem Sachsens
Innenminister das Willkommensfest für Flüchtlinge unter Schmährufen
verlassen hatte, twitterten Sie: „Liebes linkes Pack (frei nach Gabriel),
Ihr skandiert auf einem ,Willkommensfest‘ gleiche Parolen wie NPD. Und
merkt es nicht mal.“
Ja, das ist das 140-Zeichen-Problem bei Twitter. Wenn du mal falsch gelegen
hast, hast du nicht genug Platz, dich zu erklären.
Wir fragen uns, warum Sie dann nicht beim Wort Willkommensfest die
Anführungszeichen weggelassen haben.
Der Innenminister eines Landes wird bei einem Willkommensfest von
offensichtlich gewaltbereiten Vermummten mit „Hau ab!“-Rufen begrüßt.
Entscheiden Sie selbst.
Woher rührt eigentlich der Unions-Reflex, Linke und Rechte gleichzusetzen?
Tue ich nicht. Habe ich nicht. Was ich gesagt habe, war: „Hau ab!“ ist die
gleiche dämliche Parole wie die der Nazis vom Wochenende.
Sie haben die Leute, die dieses Fest organisiert haben, mit der NPD
verglichen.
Nein, da müssen Sie schon genau sein. Ich habe nicht die Organisatoren des
Willkommensfestes gemeint. Das fand ich gut und richtig. Ich habe aber
etwas dagegen, wenn sich am Rande eines solchen Festes solche Szenen
abspielen. Im Gegenzug werde ich als Nazi beschimpft, weil ich etwas gegen
vermummte Linksextremisten habe. Komische Debattenkultur.
Haben Sie Sorge, angesichts der gegenseitigen Hasstiraden?
Ich persönlich fühle mich nicht bedroht. Und eines stimmt ja, es war
vielleicht ein eher schlechter Zeitpunkt, über Linksextremismus zu
diskutieren.
4 Sep 2015
## AUTOREN
Anja Maier
Ulrich Schulte
## TAGS
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