# taz.de -- Flüchtlingszug im ungarischen Bicske: Ab ins Lager | |
> Auf dem Bahnhof von Bicske spielen sich entwürdigende Szenen ab: Ein Zug | |
> wird geräumt – aber die Flüchtlinge wollen nicht in Ungarn bleiben. | |
Bild: „No Camp. No Hungary“ in Bicske. Es kam anders | |
Bicske taz | Freitag, 17.45 Uhr. Nach 30 Stunden Stillstand hat die Polizei | |
im ungarischen Bicske mit der Räumung des mit mehreren hundert Flüchtlingen | |
besetzen Zuges begonnen. Sie führt eine erste Gruppe, überwiegend Kinder, | |
durch eine Unterführung direkt in einen Bus. Auf sie wartet nun doch das | |
Lager, das sie unbedingt vermeiden wollten. Die Menschen scheinen sich nach | |
fast eineinhalb Tagen der staatlichen Übermacht gebeugt zu haben. | |
Etwa zweieinhalb Stunden zuvor lässt die Polizei einen rumänischen Güterzug | |
in den Bahnhof einfahren, der jede Sicht versperrt. Es ist das Startsignal | |
zur Räumung. Behelmte Polizisten mit Schlagstöcken, Schilden und | |
Pfefferspray beziehen Stellung. Die Flüchtlinge dürfen den in der prallen | |
Sonne stehenden Zug nicht mehr verlassen. Die Stimmung ist angespannt. | |
„Bitte, ich habe Hunger“, ruft eine Kinderstimme. | |
Der Zug hatte den Bahnhof Budapest Keleti am Donnerstagmorgen in Richtung | |
der Stadt Sopron an der österreichischen Grenze verlassen. Im nur 37 | |
Kilometer entfernten Bicske wurde er von den Sicherheitsbehörden gestoppt. | |
Nicht weit vom Bahnhof befindet sich das Flüchtlingslager von Bicske, mit | |
Platz für etwa 1.000 Menschen. Es ist eines der Lager für Asylsuchende in | |
Ungarn, das die dort untergebrachten Flüchtlinge, im Gegensatz zu den | |
ebenfalls existierenden geschlossenen Lagern frei verlassen dürfen, sagt | |
Marc Speer, Vorstandsmitglied von bordermonitoring.eu. Das weitläufige | |
ehemalige Militärgelände ist mit einem Zaun umgeben und wurde mit etwa | |
eineinhalb Millionen Euro von der EU gefördert, wir ein Schild hinter dem | |
Stacheldraht stolz verkündet. | |
„Im Sommer war das Lager teilweise so voll, dass Menschen draußen in Zelten | |
übernachten mussten“, sagt Speer. Nun hätten viele ihren Platz aufgegeben | |
und seien weiter nach Westen gezogen. „In Ungarn will niemand bleiben.“ | |
## Lieber vom Zug überrollt | |
Donnerstagabend. Am Bahnsteig bricht aufgeregtes Gebrüll los. „Don‘t go“, | |
rufen die Flüchtlinge. Am gegenüberliegenden Gleis hat die Polizei gerade | |
ein paar weitere Menschen aus einem haltenden Regionalzug gezogen. Ein Mann | |
hält seinen kleinen Sohn auf dem Arm, neben ihm stehen eine zierliche junge | |
Frau und ein nervös aussehender junger Mann mit kurzer Hose und Basecap. | |
Die anderen Flüchtlinge wollen unbedingt verhindern, dass die Polizei die | |
vier Personen vom Gleis führt und sie dann in Busse Richtung Lager setzt. | |
Etwa 20 Polizisten scharen sich um die Neuankömmlinge, die sich inzwischen | |
auf den Boden gesetzt haben. Sie wollen nicht weg. Die Polizei versucht | |
etwas zaghaft, sie zum Mitkommen zu bewegen – ohne Erfolg. Als der Zug sich | |
wieder in Bewegung setzt, springt die junge Frau plötzlich auf. Sie will | |
lieber vom Zug überrollt werden, als in einem ungarischen Flüchtlingslager | |
ihre Fingerabdrücke abzugeben. Gerade so gelingt es einem der Umstehenden, | |
sie festzuhalten. | |
Kurz darauf kapituliert die Polizei. Die vier Menschen dürfen das Gleis | |
wechseln. Die Flüchtlinge vor dem Zug begrüßen sie mit begeistertem Gebrüll | |
und herzlichen Umarmungen. Der kleine Junge wird von der Menge in die Höhe | |
geworfen. | |
Auch sonsten bleiben die Menschen der Polizei gegenüber unnachgiebig. | |
Ausgeteiltes Wasser wird zurückgegeben, die erste Lebensmittelausgabe nach | |
sechs Stunden Wartezeit kollektiv verweigert. Die Flüchtlinge wollen nur | |
eins: weiter nach Deutschland. Immer wieder rufen sie „Let‘s go, Germany!“ | |
## Kein Durchkommen | |
Eine junge Ungarin steht aufgelöst vor der Bahnhofshalle. Sie und ihre | |
Mitstreiter haben versucht, zwei Kisten mit Äpfeln, Bananen und Süßigkeiten | |
zu bringen. Kein Durchkommen. Selbst als Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes | |
sie begleiten, ist die Polizei unerbittlich. | |
Später am Abend wird die Helferin die Menschen am Zug doch noch erreichen. | |
Nicht mit Müsliriegeln, aber mit freundlichen Worten. Sie reckt einen | |
Zettel mit einer Grußbotschaft auf arabisch in die Höhe. Sie erntet | |
begeisterten und dankbaren Applaus. Es ist eine seltene Szene der | |
Solidarität am Bahnhof in Bicske. | |
Was sich für ein Drama sich vor ihrer Tür abspielt, scheint die meisten | |
Anwohner nicht weiter zu interessieren. Der Ort besteht vor allem aus einer | |
Hauptstraße mit Kirche, einer Pizzeria und Einfamilienhäusern, viele davon | |
halb verfallen. Der gesamte Ort ist mit Plakaten der Band Karpatia übersät. | |
Sie gilt als die „Hausband“ der rechtsnationalistischen Partei Jobbik, der | |
zweitstärksten Kraft im ungarischen Parlament ist. | |
Eine schmale Frau nähert sich den Gleisen. „Refugees Welcome“ prangt in | |
sechs Sprachen auf ihrem schwarzen T-Shirt. Alev Korun ist Abgeordnete der | |
österreichischen Grünen – und die erste Politikerin vor Ort. Unmittelbar | |
nachdem sie von dem gestoppten Zug erfahren hat, hat sie sich von Wien aus | |
auf den Weg gemacht. | |
Für die Situation ist in ihren Augen vor allem einer verantwortlich: der | |
ungarische Regierungsche. Viktor Orbán zeige den Flüchtlingen mit seiner | |
Politik: „Wir wollen euch hier nicht.“ Im Laufe des Abends erscheinen | |
weitere Grünen-Abgeordnete. Ungarische Politiker lassen sich in Bicske | |
nicht blicken. | |
## „No Camp, no Hungary“ | |
Auch sonst fehlen die Repräsentanten einer kritischen Öffentlichkeit fast | |
vollkommen. Eine Gruppe des ungarischen Roten Kreuzes ist da. Ungarn | |
präsentiert sich in Polizeiuniform. Europäische Flüchtlingspolitik wird | |
hier ausschließlich als sicherheitspolitische Aufgabe verstanden. | |
Freitagmittag. Nach einer Nacht des Stillstandes stehen etwa 70 der | |
Flüchtlinge dicht gedrängt in der schmalen Lücke zwischen Zug und Zaun. Von | |
der nur fünf Meter entfernen Bahnhofshalle aus sind über 30 Kameras von | |
Fernsehstationen aus ganz Europa auf sie gerichtet. „No Camp, no Hungary“, | |
rufen sie im Chor. Dieselbe Nachricht hat jemand mit Rasierschaum an die | |
Zugwand gesprüht. | |
Das Rote Kreuz steht nach wie vor bereit, ebenso wie Wasser- und | |
Essensspenden. Doch die Polizei lässt noch immer niemanden zum Zug. Die | |
Frage wäre ohnehin, ob die Protestierenden die Spenden annehmen würden. | |
Viele von ihnen verweigern zumindest die von der Polizei angebotenen | |
Wasserflaschen nach wie vor. | |
Es sind wohl auch Hunger und Durst, die die Menschen schließlich zur | |
Aufgabe bewegen. Auch zwei Stunden nach Beginn der Räumung befindet sich | |
noch etwa die Hälfte der Flüchtlinge im Zug. Eine Frau hämmert bitterlich | |
weinend ans Fenster. | |
Unterdessen laufen Tausende Geflüchtete auf der Autobahn Richtung Westen. | |
Am Vormittag waren sie am Bahnhof in Budapest aufgebrochen. Ganze Familien | |
sind mit ihrem verbliebenen Hab und Gut auf dem Weg. Die Polizei lässt sie | |
gewähren. Immer wieder verteilen Freiwillige an der Strecke Essen und | |
Wasser. Bis zum Abend haben sie einen Halbmarathon geschafft, bald werden | |
sie Bicske erreichen. | |
4 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
Erik Peter | |
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