# taz.de -- Libanese baut Flüchtlingscamp: In Alis Lager | |
> Vor zwei Jahren hat Ali Tafisch auf einem Stück seines Landes ein | |
> Flüchtlingslager eingerichtet. Heute leben dort mehr als 300 Menschen. | |
Bild: Ali Tafisch in dem Flüchtlingslager, das er auf seinem Land errichtet ha… | |
KATERMAYA taz | Der Libanese Ali Tafisch nennt etwas recht Ungewöhnliches | |
sein Eigen: Der Mann besitzt ein Flüchtlingslager. Und irgendwie ist er | |
auch ein wenig stolz, wenn er da auf seinem südlibanesischen Hügel steht, | |
eine gute Autostunde von Beirut entfernt, in Katermaya. Er deutet nach | |
unten auf das Tal, dorthin, wo aus der Ferne die Verschläge zu sehen sind, | |
in denen sich die syrischen Flüchtlinge auf seinem kleinen Stück Land | |
eingerichtet haben. „Hier sind sie wenigsten sicher“, sagt Tafisch. | |
Angefangen hatte es vor über zwei Jahren, als die ersten Flüchtlinge aus | |
dem benachbarten Syrien im Dorf vorbeikamen. Tafisch und andere | |
Dorfbewohner sorgten dafür, dass die Menschen in der örtlichen Schule | |
untergebracht wurden. Das ging ein paar Monate lang gut, dann brauchte die | |
Schule den Platz. Als Tafisch anbot, mit anderen im Dorf und den Syrern | |
zusammenzulegen, um Miete zu bezahlen, wurde das von der Schulverwaltung | |
abgelehnt. „Aber es geht hier um Menschen und wir müssen uns menschlich | |
verhalten, das ist einfach unsere religiöse Pflicht“, sagt Tafisch. „Also | |
habe ich meinen eigenen Grund und Boden zur Verfügung gestellt, zunächst | |
nur für zwei Familien. Es war nicht einfach – aber wir konnten sie doch | |
nicht auf der Straße lassen.“ | |
Inzwischen leben auf seinem Land zwischen den Olivenbäumen 53 Familien, | |
mehr als 300 Menschen, darunter auch viele Witwen und Waisenkinder. Das | |
Areal ist nicht viel größer als ein Fußballfeld und in der Gegend unter dem | |
schlichten Namen „Alis Lager“ bekannt. Zwischen Verschlägen, die aus aller | |
Art von Baumaterial zusammengezimmert sind, die Tafisch und seine Freunde | |
aufgetrieben haben, sind Leinen voller bunter Wäsche gezogen, die darauf | |
hinweisen, wie viele Menschen hier leben. | |
Wie so oft im Libanon findet man hier zahllose Geschichten | |
unbeschreiblichen Flüchtlingsleids. Da ist beispielsweise Iman Kinou, eine | |
der Witwen im Lager. Sie stammt aus der ländlichen Umgebung Aleppos. Ihren | |
Mann hatte der syrische Geheimdienst gleich in den ersten Wochen des | |
Aufstands gegen Baschar al-Assad mitgenommen. Sie hat ihn nie | |
wiedergesehen. Nach vier Jahren ohne Lebenszeichen geht Iman Kinou davon | |
aus, dass er nicht mehr lebt. „Drei meiner Kinder sind bei einem | |
Bombardement in unserem Dorf umgekommen“, erzählt sie. Ein weiterer Sohn | |
habe sich den Rebellen angeschlossen und sei später gefallen. „Jetzt sitze | |
ich hier nicht mit meinen Kindern, sondern mit meinen Enkelkindern“, sagt | |
die 64-Jährige. | |
## Eine Aufgabe von Gott | |
Neun Enkel im Alter zwischen drei und zehn Jahren hat Iman Kinou | |
durchzubringen. Ursprünglich hatte sie es in Beirut versucht. Sie hatte | |
eine Wohnung gemietet und versucht, auf der Straße Taschentücher zu | |
verkaufen, doch schon bald wusste sie, dass sie es so nicht schaffen wird. | |
Dann hat ihr jemand von Alis Lager im Süden erzählt, jenem „guten Mann, der | |
keine Miete von den Menschen verlangt und bei dem man sich sicher fühlen | |
kann“, wie sie Ali beschreibt. „Gott hat mir diese Aufgabe auferlegt. Und | |
er hat mir hoffentlich die Kraft gegeben, das durchzustehen“, sagt sie. | |
Wer ihr strahlendes Gesicht voller Lachfalten sieht, trotz dem, was sie | |
durchgemacht hat, und dann diesem entschiedenen Blick begegnet, und wer | |
beobachtet, wie liebevoll sie eine ihre Enkeltöchter in den Arm nimmt, der | |
hegt keine Zweifel, dass sie das schaffen wird. Ihre größte Hoffnung? „Ich | |
möchte dafür sorgen, dass meine Enkelkinder irgendwie eine Ausbildung | |
bekommen und eines Tages vielleicht wieder in ihre Heimat zurückkönnen“, | |
sagt sie. | |
Zumindest für den ersten Wunsch ist ein Anfang gemacht. In einem | |
Holzverschlag in der Mitte des Lagers gibt es seit ein paar Wochen eine | |
kleine Schule mit ziemlich enthusiastischen Schülern, die der | |
Englischlehrerin lautstark „Hüfte“, „Nase“ und „Kopf“ nachschreien. | |
Begonnen hatte die Schule, nachdem die älteren Kinder im Lager in einer Art | |
Spiel mit den jüngeren Unterricht gemacht haben. Inzwischen gibt es einen | |
improvisierten Schulbau, drei angestellte Lehrer aus der Umgebung und drei | |
Klassen. Die Lehrer werden ebenfalls mit Spenden finanziert. Die Kinder in | |
Alis Lager haben Glück: Bei einer halben Million schulpflichtiger syrischer | |
Flüchtlingskinder gibt es für weit über die Hälfte im Libanon keinen | |
Schulplatz. Das ist die verlorene Generation, die eines Tages Syrien wieder | |
aufbauen soll. | |
In der letzten Schulbank sitzt der neunjährigen Seif und schreit ebenfalls | |
lauthals die englischen Worte nach. Nach der Schule spreche ich mit ihm im | |
Schatten einer der Behausungen. „Sie sind alle tot“, erzählt er. Das ist | |
eigentlich das Einzige, was er sagt, den Rest erzählen die anderen Bewohner | |
des Dorfes. Seif hat sieben Familienmitglieder bei einem | |
Chemiewaffenangriff in der Umgebung von Damaskus verloren. Er war zum | |
Zeitpunkt des Angriffs im Krankenhaus, weil er vorher bei einem anderen | |
Bombardement verletzt worden war. Das hat Seif bizarrerweise das Leben | |
gerettet. Seine Mutter ist eine weitere Überlebende des Raketeneinschlags, | |
aber sie hat den Verstand verloren und ist noch irgendwo in Syrien, niemand | |
weiß, wo. Eine verheiratete ältere Schwester, die außerhalb des Dorfes | |
lebte, als der Angriff stattfand, passt heute auf Seif auf. | |
## Wozu Europa? | |
Es ist Abu Badawi, der die Geschichte des Kindes erzählt, während er über | |
den staubtrockenen Boden des Lagers wandert und nach dem Rechten sieht. | |
Badawi ist hier so etwas wie der Sprecher der Flüchtlinge mit einer | |
überraschenden Aussage. „Nach Europa reisen, was sollen wir dort“, wischt | |
er eine Frage zur Seite, ob demnächst alle hier ihre wenigen Habseligkeiten | |
zusammenpacken und sich ins gelobte Europa aufmachen. „Meine Zukunft ist | |
nicht in Europa, da sprechen sie kein Arabisch, und auch meine Kinder | |
werden dort ihre Sprache verlernen“, sagt er. Badawi wartet hier ab und | |
möchte möglichst bald wieder in seine Heimat zurück, in die syrische Stadt | |
Homs, die gerade einmal 100 Kilometer entfernt von hier liegt. „Kaum einer | |
hier verschwendet einen Gedanken daran, weiterzureisen“, sagt er. | |
Es wird in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise in Europa gerne vergessen, | |
dass die überwiegende Mehrheit der syrischen Flüchtlinge in den | |
Nachbarstaaten leben. Der Libanon mit seinen 4 Millionen Einwohnern hat | |
über 1,1 Millionen registrierte Flüchtlinge, im kleinen Jordanien leben | |
über 630.000, und die Türkei zählt mindestens 1,9 Millionen Menschen, die | |
aus dem Nachbarland geflohen sind. | |
Unterdessen steht Ali Tafisch zwischen zwei Wäscheleinen und palavert ohne | |
Unterlass. Wenn sein Handy nicht klingelt, dann ruft er gerade selbst | |
jemanden an. Im Moment versucht er Spenden für den Diesel des | |
Stromgenerators des Lagers aufzutreiben, nicht nur in der Umgebung, auch im | |
fernen Beirut klingelt er an. Außerdem muss er die Brotlieferung für morgen | |
organisieren und sicherstellen, dass genug Trinkwasser da ist. Für einen | |
Flüchtlingslagerbesitzer gilt ganz besonders der Grundsatz: Eigentum | |
verpflichtet. | |
12 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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