# taz.de -- Kommentar Vorteile der Flüchtlingskrise: Eine riesige Wissensresso… | |
> Die Konfrontation mit Flüchtlingen und ihren Problemen birgt die Chance, | |
> als Gesellschaft ein komplexeres Weltbild zu entwickeln. | |
Bild: Das bislang geltende Ordnungsprinzip, das Asylsuchende von der Normalbev�… | |
„Da kann man nichts machen, die Sache ist kompliziert, wir können ja nicht | |
alle aufnehmen.“ Wie oft wurde in den letzten Jahren die allgemeine | |
Passivität gegenüber den Problemen in Syrien, Diktaturen insgesamt und der | |
„Festung Europa“ als gesunder Menschenverstand verkauft! | |
Offenheit war keine Option, Helfen galt als unprofessionell, und | |
Interventionen waren indiskutabel. Jeder blieb sich selbst am nächsten. Und | |
nun passiert das Unvorstellbare: Tatkräftige Solidarität breitet sich aus – | |
und sie ist ansteckend. Niemand in Europa kann Nichtstun noch als Weitblick | |
verkaufen und Engagement für Menschen in Not als klebrige Gefühligkeit | |
abkanzeln. | |
Auch ziviler Ungehorsam wird vermehrt ins Handlungsrepertoire aufgenommen. | |
Der Autokonvoi, der von Wien nach Ungarn aufbrach, um Vertriebenen eine | |
Mitfahrgelegenheit nach Deutschland anzubieten, ist dafür nur ein Beispiel. | |
Aber es ist ein sehr schönes. | |
Auch in das Drama, das sich täglich etwa vor der kollabierten | |
Erstaufnahmestelle in Berlin abspielt, schmuggelt sich eine | |
Hilfsbereitschaft, die Hoffnung macht. Das bislang geltende | |
Ordnungsprinzip, das Asylsuchende von der Normalbevölkerung isolierte, um | |
sie leichter abschieben zu können, wird so aufgeweicht. Das ist wichtig, | |
denn es rettet Leben. Und so sorgen Leute am Abend auf dem Gehsteig vor der | |
Behörde ohne viel Aufhebens für ein warmes Abendessen für alle, die noch | |
keinen Schlafplatz gefunden haben. | |
Andere gehen mit den erschöpften Neuankömmlingen auf die Polizeiwachen, | |
lassen sie dort registrieren und bieten ihnen für ein paar Tage eine | |
private Unterkunft an. Damit sie Luft schnappen können, bevor sie sich dem | |
Asylprozedere aussetzen. Die Entschiedenheit, mit der viele der hier | |
Ansässigen Richtiges tun, ist beeindruckend. | |
Und doch fehlt etwas. Zumal in der Medienberichterstattung. Es fehlen die | |
Einschätzungen der Vertriebenen selbst, ja in der Regel fehlen ihre Stimmen | |
in Gänze. Das Bild vom dankbaren, aber stummen Vertriebenen entsteht. Was | |
für ein Versäumnis! | |
## Neue Strukturen und Konzepte | |
Das Engagement darf nicht länger dafür benutzt werden, die politische | |
Dimension der Katastrophe in der Öffentlichkeit zu marginalisieren. | |
Einzelpersonen können nicht ewig das Staatsversagen ausgleichen. Es braucht | |
neue Strukturen und neue Konzepte fürs Inland wie fürs Ausland, dazu gehört | |
auch eine Diskussion über die Fluchtursachen. | |
Nur so können neue Strategien zur Befriedung entwickelt werden. Sonst | |
werden noch mehr Menschen sterben oder verelenden, und die wenigen, die es | |
nach Deutschland schaffen, schon bald wieder einer Bürokratie ausgeliefert | |
sein, die eine Menschenverachtung pflegt, die sich die meisten Biodeutschen | |
erst vorstellen können, nachdem sie einmal einen Asylsuchenden dorthin | |
begleitet haben. | |
Die Vertriebenen geben uns Unversehrten die Chance, unsere Gesellschaft | |
besser kennenzulernen und gleichzeitig ein komplexeres Weltbild zu | |
entwickeln. Sie sind eine riesige Wissensressource. Ein Grund für die | |
tödliche Ignoranz, die hierzulande dem Krieg in Syrien entgegengebracht | |
wird, ist ja die kümmerliche Kenntnis von der syrischen Gesellschaft. | |
Auch die irrige Idee, Diktaturen seien das kleinere Übel und global gesehen | |
Garanten der Stabilität, lässt sich mithilfe der Erfahrungen der | |
Vertriebenen überwinden. Also her mit den politischen Einschätzungen der | |
Vertriebenen! Her mit der Diskussion über Lösungsvorschläge, so wie sie in | |
ihren Herkunftsländern diskutiert werden. Das ist unsere Chance, nicht nur | |
individuell, sondern auch außenpolitisch die Sackgasse zu verlassen. | |
## Auch die Politik agiert nun anders | |
Das ist utopisch? Noch vor wenigen Monaten mieden liberale oder linke | |
PolitikerInnen das Flüchtlingsthema, weil klar war, damit gewinnen nur die | |
Rechten Stimmen. Das ist heute anders. | |
Auch fürs Inland springt etwas dabei heraus. Denn die Vertriebenen | |
verleihen der Frage neue Brisanz: Warum ist die politische Elite so | |
unvorbereitet? Warum arbeiten die Behörden und die Polizei so schlecht? | |
Kurzum: Warum verschleudern Staatsdiener so unverdrossen die Ressourcen der | |
Zivilgesellschaft? | |
Treten wir jetzt in einen Dialog ein, dann bekommt auch die Kungelei mit | |
den Rechten einen politischen Preis. Dann werden die Maizières, Seehofers | |
und Tillichs überlegen, ob sie nicht doch Konzepte zur Einwanderung | |
entwickeln und die Polizei anhalten, gegen rechts vorzugehen. Das wäre ein | |
riesiger Schritt in Richtung Demokratie. Dank der Neuankömmlinge ist er | |
jetzt möglich. | |
7 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Ines Kappert | |
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