# taz.de -- Geflüchtete Kinder in der Türkei: Im Visier der Radikalen | |
> Hunderttausende syrische Kinder in der Türkei gehen nicht zur Schule. | |
> Viele hoffen auf die Rückkehr, andere werden von den Schulen abgewiesen. | |
Bild: Kinder im Flüchtlingslager bei Kahramanmaraş. | |
KAHRAMANMARAş/ISTANBUL taz | Für die meisten Türken ist sie gar nicht als | |
Schule erkennbar. Ziemlich unauffällig steht ihr Name über dem großen | |
Metalltor – auf Arabisch, was die meisten Bewohner von Kahramanmaraş, einer | |
Stadt 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze, ohnehin nicht lesen | |
können. Hinter dem Tor steht das Schulgebäude, ein vierstöckiges Wohnhaus | |
mit einem kleinen Hof. Vor zwei Jahren wurde es umfunktioniert. Aus Wohn- | |
und Schlafzimmern sind Klassenzimmer geworden, in die sich heute fast 500 | |
Kinder drängen. | |
In Kahramanmaraş leben neben 600.000 Türken rund 100.000 syrische | |
Flüchtlinge, darunter viele Kinder und Jugendliche. Doch die meisten gehen | |
nicht zur Schule, wie auch im Rest der Türkei. Unter den offiziell 2,2 | |
Millionen syrischen Flüchtlingen sind mindestens 650.000 schulpflichtige | |
Kinder. Davon geht nicht mal jedes dritte zur Schule, auf eine staatliche | |
Schule sogar nur jedes zwanzigstes. | |
Die Zahlen hat die Hilfsorganisation Human Wrights Watch (HRW) vergangene | |
Woche vorgestellt. Im Schnitt, rechneten die AutorInnen aus, haben aus | |
Syrien geflohene Kinder und Jugendliche in der Türkei zwei Schuljahre | |
verpasst. Bei manchen sind es vier Jahre. | |
Eine Ausnahme bilden die Kinder in den Flüchtlingscamps entlang der | |
syrisch-türkischen Grenze. Von ihnen bekommen fast alle Unterricht. Der | |
Lehrplan gleicht weitgehend dem in Syrien. Türkisch lernen sie in den | |
Campschulen nur, wenn sie es wollen. Von den Kindern hingegen, die allein | |
oder mit ihren Familien über die ganze Türkei verstreut sind, gehen laut | |
HRW-Report lediglich 24 Prozent zur Schule. | |
„Das ist eine Katastrophe“, schreiben die AutorInnen der Studie. „Hier | |
bahnt sich eine ganze verlorene Generation an.“ Entweder kehrten die Kinder | |
als Kämpfer in den Bürgerkrieg zurück, weil sie sich von islamischen | |
Fundamentalisten anheuern ließen. Oder sie trieben sich auf der Straße | |
herum. Damit blieben sie auch in Zukunft ohne Chance. | |
Das muss nicht sein. Die türkische Regierung hat vergangenes Jahr | |
beschlossen, dass syrische Kinder staatliche Schulen besuchen dürfen. Sie | |
müssten sich lediglich registrieren lassen. Warum besuchen aber, wie HRW | |
herausfand, dennoch nur 36.600 syrische Kinder türkische Schulen? Dafür | |
gibt es verschiedene Gründe. Viele Schulen nehmen die syrischen Kinder | |
entgegen der Anweisung aus Ankara nicht auf. Gerade die Schulen in den | |
südlichen Grenzgebieten der Türkei klagen schon lange über zu wenig Lehrer | |
und eine schlechte Ausstattung. | |
## Schichtbetrieb in der Schule | |
Meist sitzen mindestens 40 Kinder einem Lehrer gegenüber, in vielen Schulen | |
wird im Schichtbetrieb unterrichtet, weil es zu wenige Räume gibt. Wie | |
sollen wir da noch syrische Kinder aufnehmen, fragen die Schulleiter. | |
Werden unsere Kinder nicht vernachlässigt, wenn sich die Schule auch noch | |
um syrische Kinder kümmern soll, sorgen sich türkische Eltern. | |
Umgekehrt gibt es bei syrischen Eltern große Vorbehalte gegenüber | |
türkischen Schulen. Gegenüber HRW haben syrische Eltern geäußert, ihre | |
Kinder gar nicht auf eine türkische Schule schicken zu wollen. Sie würden | |
schließlich bald zurückgehen. Die Kinder sollten lieber weiter wie zuvor in | |
Syrien unterrichtet werden, damit sie dann nach der Rückkehr nahtlos wieder | |
eine syrische Schule besuchen könnten. Außerdem, gaben die Eltern zu | |
Protokoll, sprächen ihre Kinder kein Türkisch. Von türkischen Kindern | |
würden sie deshalb oft gehänselt oder gemobbt. | |
Viele syrische Eltern bevorzugen deshalb „vorübergehende | |
Bildungseinrichtungen“, in denen Arabisch gesprochen wird. Also Schulen | |
oder Kurse, die Syrer in Selbsthilfe mit syrischen Lehrern und einem | |
syrischen Curriculum betreiben. Viele sind bei Moscheen und Gebetshäusern | |
eingerichtet. Was dort gelehrt wird, weiß niemand. Auch | |
Charityorganisationen betreiben Schulen. Der Verein Orient for Human | |
Relief, den ein syrischer Geschäftsmann gegründet hat, unterrichtet nach | |
eigenen Angaben mehr als 5.000 syrische Kinder in drei Städten. Die | |
wenigsten Schulen jedoch sind offiziell bei den türkischen Behörden | |
registriert wie die Schule mit dem arabischen Namen am Metalltor in | |
Kahramanmaraş. | |
## Sie dürfen wieder Kind sein | |
„Die Kinder lieben ihre Schule“, sagt Schulleiterin Sanabl Miranda. Trotz | |
Enge und weniger Unterrichtsmaterialien. Tatsächlich sieht man nur | |
strahlende Gesichter. Die Kinder sind froh, wieder in eine Schule gehen zu | |
können. Sie erzählen ohne Angst von ihren schlimmen Erfahrungen. „Die | |
Schule ist nicht nur für die Vermittlung von Lernstoff wichtig“, meint | |
Miranda, „für die Kinder ist die Schule wie eine Therapie. Sie können hier | |
wieder Kind sein.“ | |
Die Schule in Kahramanmaraş wird von dem Verein Fackeln der Freiheit | |
betrieben, ein Selbsthilfeverein, den syrische Flüchtlinge vor drei Jahren | |
gründeten. Sie mieteten das leer stehende Wohnhaus und engagierten | |
geflüchtete syrische LehrerInnen, die froh waren, wieder unterrichten zu | |
können. Selbst wenn es nur sehr wenig Geld dafür gibt. „Wir leben von | |
Spenden und Geld, das Eltern freiwillig aufbringen“, sagt Frau Miranda. | |
„Schulgeld für die Kinder nehmen wir nicht.“ | |
Damit gehört die Schule zu den Ausnahmen. Viele der selbst organisierten | |
Bildungseinrichtungen verlangen Schulgeld. Die meisten Flüchtlinge aber | |
können sich das nicht leisten. Im Gegenteil, viele Familien sind sogar | |
darauf angewiesen, dass die Kinder arbeiten, damit die Familie überleben | |
kann. Ein Team von HRW hat in Gaziantep eine alleinstehende Mutter mit drei | |
Kindern interviewt, die alle nicht zur Schule gehen. „Sie müssen arbeiten“, | |
sagte die Mutter, „sonst haben wir nichts zu essen.“ Der älteste, Radwan, | |
ist 14, sein jüngerer Bruder 12 und seine Schwester 10 Jahre alt. | |
## Keine Zeit für die Schule | |
Alle drei arbeiten, die beiden Brüder bekommen 40 Lira und der Woche, die | |
kleine Schwester 30 Lira. Radwan arbeitet von 7.30 Uhr morgens bis 19 Uhr | |
am Abend. Aber er beschwerte sich nicht, weil der Schneider, bei dem er | |
jeden Tag fast 12 Stunden verbringt, ihn gut behandelt und ihm auch etwas | |
beibringt. Für die Schule hat Radwan schon lange keine Zeit mehr. | |
Filmemacher Kotayba kennt viele solcher Jungen. Der junge Syrer floh selbst | |
erst vor acht Monaten aus Damaskus. In Istanbul schloss er sich der | |
Selbsthilfegruppe Unser Haus an. Der Solidaritätsverein betreibt – wenige | |
hundert Meter von Istanbuls pulsierender Flaniermeile İstiklâl Caddesi | |
entfernt – einen Treffpunkt für syrische Kinder und Jugendliche, die | |
teilweise ohne Familienangehörige in die Türkei geflüchtet sind. | |
In dem Haus in der Hamalbaşı Straße 21 sind auch | |
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder der Verein für | |
Solidarität mit Migranten und Asylsuchenden untergebracht. Eine Etage | |
tiefer hat Unser Haus einen Treffpunkt und eine kleine Schule eingerichtet. | |
Hier können syrische Flüchtlinge neben Türkisch auch Englisch oder | |
Französisch lernen. „Die Erasmus-Studenten sind sehr engagiert“, erzählt | |
Kotayba, „es gibt mehr Hilfsangebote als wir überhaupt annehmen können.“ | |
Der Bedarf sei riesig, nur reichten die Räume nicht aus, um mehr Kurse | |
anzubieten. | |
## Fabriken voller syrischer Kinder | |
Istanbul ist neben den Grenzstädten zu Syrien der Ort, der am meisten | |
Flüchtlinge anzieht. Zwischen 300.000 und 500.000 Syrer leben in der | |
Metropole am Bosporus, zumeist in den armen Vororten am westlichen und | |
östlichen Rand der Stadt. | |
„Die Istanbuler Textilfabriken sind voll von syrischen Kindern“, sagt | |
Kotayba. In Avcılar, einem der westlichen Vororte in dem viele | |
Textilfabriken stehen, ist in diesem Jahr deshalb auch eine moderne private | |
syrische Schule entstanden, die 1.500 Kinder unterrichtet. Doch die Schule | |
muss Schulgeld verlangen, um sich zu tragen. Das können nur Familien | |
aufbringen, die schon in Syrien Geld hatten und einen Teil ihres Vermögens | |
retten konnten. | |
Für die anderen bleibt oft nur eine Schule, die von einer religiösen | |
Stiftung betrieben wird und deshalb kostenlos ist. Das beobachtet auch | |
Schulleiterin Miranda in Die Schule in Kahramanmaraş: „Saudi-Arabien und | |
die Golfstaaten geben Geld für Flüchtlingsschulen, in denen Jungen und | |
Mädchen getrennt und neben Mathe und Naturwissenschaften vor allem der | |
Koran gepaukt wird.“ Viele Kinder aus säkularen syrischen Familien, | |
fürchtet Miranda, landen so bei den Islamisten. | |
## Gipfeltreffen mit Ankara | |
Eine Sorge, die nach den Anschlägen in Paris auch die EU teilen dürfte. Mit | |
drei Milliarden Euro will sie die Türkei in den kommenden zwei Jahren | |
unterstützen, zudem die Visumspflicht für Türken lockern. Im Gegenzug soll | |
die Türkei den Zuzug von Flüchtlingen verringern. Für Ende November ist ein | |
Gipfeltreffen mit Ankara angesetzt. Mit den EU-Geldern, so hoffen die | |
Ehrenamtlichen der Selbsthilfegruppe Unser Haus, könnten türkische Schulen | |
LehrerInnen einstellen, die syrischen Kindern Türkisch beibringen. | |
Die Voraussetzung dafür, dass sie eine normale Schulausbildung erhalten | |
können. Zudem müsste der türkische Staat syrische Familien, die ihre Kinder | |
zur Schule schicken wollen, finanziell unterstützen. Und schließlich | |
müssten viel mehr selbst verwaltete, säkulare syrische Privatschulen | |
Zuwendungen bekommen. Nur so könne verhindert werden, dass Islamisten die | |
Situation für sich nutzen. | |
Vor den Folgekosten einer verlorenen Generation warnt auch Human Rights | |
Watch. Die seien nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für EU und | |
Türkei riesig. Hunderttausende junge Menschen ohne jede Perspektive werden | |
entweder nach Syrien zurückkehren und den Bürgerkrieg noch über Jahre am | |
Laufen halten. Oder im Ausland chancenlos bleiben. Und somit empfänglicher | |
für radikale Botschaften. | |
22 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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