# taz.de -- Gastkommentar Debattenkultur: Lasst uns besser streiten! | |
> Wir müssen mutiger diskutieren, gerne auch robuster. Das fordert | |
> Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Gastbeitrag für die taz. | |
Bild: Der Autor in seinem Element, hier im Plenum des Bundestages | |
Unsere öffentlichen Debatten haben gerade etwas zutiefst Unbefriedigendes. | |
Und auch Unkonstruktives. Haben wir alle, Politik, Medien und Bürgerschaft, | |
vergessen, wie es geht? Können wir nicht besser, klüger und offener über | |
die Fragen streiten, die wichtig sind für unser Land, unsere Zukunft? | |
Sachlich getriebener Streit ist die Essenz unseres demokratischen | |
Miteinanders. Um eine gute Zukunft für unser Land darf schon hart gerungen | |
werden, finde ich. Es ist jedenfalls weder demokratisch noch zielführend, | |
jede Meinungsäußerung mit „gut“ oder „böse“ zu bewerten – je nachd… | |
sie einem passt oder nicht –, aber sich nicht mit dem Argument des anderen | |
auseinanderzusetzen. | |
Sicherlich bin ich nicht der einzige, der die Debatten der vergangenen | |
Wochen mit Kopfschütteln verfolgt hat – auch in den eigenen Reihen. Es ist | |
Zeit, gemeinsam darüber nachzudenken, wie man besser streiten kann. Dazu | |
als Erstes vier Beispiele aus den zurückliegenden Wochen: | |
Da gibt es wichtige Meinungsverschiedenheiten über die Bedingungen, unter | |
denen wir Migranten aufnehmen und was die Voraussetzungen für Integration | |
sind. Aber es gelingt uns nicht, die Debatte wirklich als notwendige | |
Sachdebatte zu führen. Das hieße auch, komplizierte Rechtslagen ruhig zu | |
klären und widerstreitende Moralbegriffe differenziert zu diskutieren, | |
statt die Moral immer nur auf einer Seite zu verorten. | |
## Argumentationsstränge auseinanderhalten | |
Da unterstützt ein deutscher Nationalspieler einen ausländischen Staatschef | |
und tritt damit eine nationale Debatte los. Es ist nicht irgendein | |
Regierungschef, sondern einer, der Zehntausende seiner Mitbürger aus dem | |
Staatsdienst entlässt, weitere Zehntausende einsperrt und die | |
Zivilgesellschaft ruiniert. Dafür wird der Spieler zu Recht kritisiert. | |
Aber diese Kritik vermischt sich sehr emotional mit der Infragestellung | |
seiner sportlichen Leistung bei der Weltmeisterschaft. Und mit der Frage, | |
ob seine Loyalität zum Land seiner eingewanderten Eltern größer ist als zum | |
Land, in dem er geboren wurde und das er sportlich vertritt. Statt diese | |
Argumentationsstränge auseinanderzuhalten, werden sogleich die größten | |
Kaliber aufgefahren: „Rassismus“, „Islamfeindschaft“ oder „Gescheiter… | |
Integration in Deutschland“. | |
Da erinnert eine Journalistin in einem nachdenklichen [1][Text] an die | |
Folgen privater Seenotrettung im Mittelmeer. Die Journalistin thematisiert | |
ein klassisches Beispiel für mögliche ungewollte negative Folgen von gut | |
gemeinten Handlungen. | |
Und statt ihr Argument ernsthaft zu prüfen, das sich auch empirisch | |
untermauern lässt, wähnen wir humane Standards verletzt, diagnostizieren | |
gesellschaftlich schwindende Empathie, und die Chefredaktion entschuldigt | |
sich gewunden für – ja, wofür? – für eine Argumentation, die es sich | |
moralisch nicht so leicht macht wie die meisten anderen Bekenntnisse, die | |
man so liest. | |
## Geht's auch kleiner? | |
Da reagiert ein Gesundheitsminister – die Camouflage ist jetzt absichtlich | |
dilettantisch – auf die Interview-Frage nach hohen zweistelligen Renditen | |
in der Pflegebranche mit einigen Gedanken über die Unverzichtbarkeit | |
privater Investitionen. | |
Er spricht über die juristischen Schranken, Renditen zu begrenzen, aber | |
auch über die Fragwürdigkeit exorbitanter Gewinne; zumal in einer Branche | |
mit nur begrenztem Marktcharakter, die zu großen Teilen von Mitteln aus der | |
sozialen Pflegeversicherung lebt. | |
Was passiert? Ein renommierter Journalist [2][spricht daraufhin] von der | |
angeblichen Lust dieses Ministers auf Enteignung und Rechtsbruch. | |
Enteignung? Geht’s auch kleiner? Könnte man die Gedanken des Ministers | |
nicht auch als ein Nachdenken über Grenzbereiche der sozialen | |
Marktwirtschaft betrachten, die dieses Land groß gemacht hat? | |
Das sind nur Beispiele, die zeigen, dass mit unserer Streitkultur etwas | |
gehörig nicht stimmt. Ich finde, sie ist zu emotionsgetrieben, zu | |
kalkulierend, zu mutlos, zu vorverurteilend und manchmal einfach zu | |
unehrlich. | |
## Wir brauchen mehr Selbstvertrauen | |
Fünf Wünsche habe ich für unsere Streitkultur: | |
Ich wünsche mir, dass wir gelassener streiten, angstfrei und mit | |
Selbstvertrauen. Wir haben Grund dazu. Wir sind eine gefestigte Demokratie. | |
Gefestigter als andere: Nirgendwo in Europa, hat gerade eine Studie des | |
Washingtoner Pew-Instituts gezeigt, ist der Hang zu den Rechtspopulisten | |
geringer als in Deutschland. | |
Ich wünsche mir, dass wir nicht immer sofort Gesinnungsnoten verteilen. | |
Dass wir erst einmal davon ausgehen, dass der oder die andere nicht alle | |
Grundlagen von Humanität und Moral untergraben will, selbst wenn ihm oder | |
ihr mal der Kragen platzt. Prüfen wir also Vorschläge auf ihren sachlichen | |
Gehalt. | |
Ich wünsche mir, dass wir uns wichtige Sachdebatten nicht selbst vernebeln | |
durch die aggressive Vergabe von Haltungs-, Stil- und Sympathienoten, ja | |
sogar Psycho-Noten. Wir sind nicht im Kino, wir sind in unserem Gemeinwesen | |
– es ist klar, dass wir nicht jede oder jeden mögen, der mitspricht und | |
mithandelt. | |
Aber unser Gegenüber ist genauso ein Teil dieser Gesellschaft wie wir. | |
Deswegen gebührt ihr oder ihm jener Respekt, den wir uns auch für uns | |
selbst erhoffen. | |
## Mutiger und wirklichkeitsgesättigter | |
Ich wünsche mir, dass wir in unseren Debatten weniger große und weniger | |
abstrakte Begriffe verwenden mit dem alleinigen Ziel, den anderen und seine | |
Beweggründe abzuwerten. Gerade „die Demokratie“, „die Mitte“ oder „d… | |
Moral“ geraten erst recht in Gefahr, wenn wir bei jeder Gelegenheit ihren | |
Untergang herbeireden. | |
Und ich wünsche mir mehr Bereitschaft, demokratische Streitkultur als einen | |
wichtigen Schritt hin zur Klärung von echten Problemen zu würdigen – egal, | |
ob im öffentlichen Diskurs oder innerhalb von politischen Parteien. | |
Nur aus Debatten kann eine inhaltliche Klärung erwachsen. Ohne Streit kein | |
Kompromiss. Ohne Kompromiss keine Politik, die von breiten | |
Bevölkerungsschichten geteilt wird. Das war bei der Westbindung der | |
Bundesrepublik so, bei der Einführung der sozialen Marktwirtschaft, der | |
Ostpolitik und der Wiedervereinigung. Und bei der Ausgestaltung eines | |
Einwanderungsgesetzes wird es nicht anders sein. | |
Unsere Debatten müssen mutiger und wirklichkeitsgesättigter werden, gern | |
auch robuster. Das wirkt manchmal sogar befreiend. So reif sind wir heute, | |
das alles tun zu können, ohne dass man immer gleich Weimarer Verhältnisse | |
herbeifabulieren muss. Lasst uns besser streiten. Und danach die Ärmel | |
hochkrempeln für eine gute Zukunft! | |
9 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pr… | |
[2] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kommentar-jens-spahn-enteignet-ein-pa… | |
## AUTOREN | |
Jens Spahn | |
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