# taz.de -- Debatte Jens Spahn und Streitkultur: Kognitive Dissonanz | |
> Die Moral aus dem politischen Diskurs heraushalten zu wollen, ist nicht | |
> mutig, sondern falsch: eine Replik auf den Gesundheitsminister. | |
Bild: Menschenleben soll man „sachlich“ und ohne Moral diskutieren? | |
Der neue Jens Spahn ist angenehmer als der alte. Es scheint nicht mehr viel | |
übrig zu sein vom Provokateur aus dem rechten Lager der CDU, der genau | |
weiß, wie er mit kalkulierten Sticheleien die Debatten anheizen kann. Der | |
Frauen zum Beispiel vorwarf, sich [1][die Pille danach wie Smarties] | |
einwerfen zu wollen. Der sich darüber beschwerte, dass Muslime in seinem | |
Fitnessstudio [2][nicht nackt duschen würden]. Der sich strahlend mit | |
Antidemokraten wie dem US-Botschafter [3][Richard Grenell fotografieren | |
ließ] und der zum Feiern mit Österreichs [4][schwarz-blauen Kanzler | |
Sebastian Kurz nach Wien flog]. | |
Das war wohl mal. Als Erstes [5][sind der Frankfurter Allgemeinen Zeitung] | |
die „durchaus neuen Töne aus dem Mund von Jens Spahn“ aufgefallen: Der | |
ehemals neoliberale Krawallo will neuerdings den Betreibern privater | |
Pflegeheime an die Gewinne. Statt in fachfremden Debatten den Scharfmacher | |
zu spielen, arbeitet er sein Programm als Gesundheitsminister ab. Und in | |
dieser Woche hat er sich am Mittwoch dann auch noch [6][in der taz] zu Wort | |
gemeldet – mit einem Gesprächsangebot: Die öffentlichen Debatten hätten | |
derzeit etwas „zutiefst Unbefriedigendes“, schrieb er in einem Gastbeitrag. | |
Auch Beiträge aus den eigenen Reihen verfolge er „mit Kopfschütteln“. Es | |
sei deshalb an der Zeit, „gemeinsam darüber nachzudenken, wie man besser | |
streiten kann“. | |
Man könnte dieses Angebot jetzt ablehnen als unaufrichtigen Vorstoß eines | |
Mannes, der bis in die jüngste Vergangenheit nicht gerade zu einer | |
gesitteten Debattenkultur beigetragen hatte. Wohlwollend kann man das | |
Angebot aber auch als Zeichen der Größe wahrnehmen, vielleicht sogar als | |
einen Versuch der tätigen Reue. Wollen wir also mal darauf eingehen und | |
zusammen streiten. Für den Anfang vielleicht darüber, was eine mutige | |
Debatte wirklich ausmacht. Das, was sich Jens Spahn darunter vorstellt, ist | |
es nämlich nicht. | |
Der Gesundheitsminister wünscht sich in erster Linie, in Zukunft Debatten | |
führen zu dürfen, ohne mit moralischen Argumenten konfrontiert zu werden. | |
„Große und abstrakte Begriffe“ wie „die Moral“ dienten „dem alleinig… | |
Ziel, den anderen und seine Beweggründe abzuwerten“, schreibt er. Als | |
Beispiel führt er die Migrationspolitik an, über die er „eine notwendige | |
Sachdebatte“ führen möchte, in der das Gegenüber nicht immer versucht, „… | |
Moral nur auf einer Seite zu verorten“. | |
## Auf Moralfreiheit gibt es keinen Anspruch | |
Allein ist er mit diesem Wunsch nicht. Es gibt einen Trend, ausgehend von | |
Vertretern des rechten Lagers, moralische Argumente und deren Verfechter in | |
der politischen Debatte zu diskreditieren. Unter dem Schlagwort des | |
„Hypermoralismus“ werfen sie der Gegenseite vor, immer mehr Lebensbereiche | |
moralischen Maßstäben zu unterwerfen, vermeintliche Sachargumente nicht | |
mehr zuzulassen und den politischen Gegner dadurch auf quasi totalitäre | |
Weise mundtot zu machen. | |
In Wirklichkeit laufen die Entwicklungen in eine andere Richtung – gerade | |
in der Asylpolitik, in der humanitäre Standards stetig abgebaut werden und | |
pragmatische Argumente die moralischen seit 2015 verdrängen. Die Kritik des | |
vermeintlichen Hypermoralismus breitet sich trotzdem weiter aus, ist schon | |
[7][in den Strategiedebatten der Sozialdemokraten angekommen] und klingt | |
auch bei Sahra Wagenknechts [8][Kritik am Kurs der Linkspartei an]. Der | |
Wunsch dahinter bleibt immer der selbe: nicht weiter mit moralischen | |
Argumenten behelligt zu werden. | |
Darauf gibt es aber keinen Anspruch. Natürlich ist es zulässig, dass ein | |
Mann wie Jens Spahn Argumente anders gewichtet als beispielsweise eine | |
durchschnittliche taz-Abonnentin. Er entstammt einem anderen politischen | |
Milieu und hängt entsprechend anderen Wertvorstellungen an; er trägt | |
politische Verantwortung und ist schon dadurch empfänglicher für | |
realpolitische Argumente. Es ist sein gutes Recht, seine Positionen | |
darzulegen, und er ist in der privilegierten Lage, diese auch politisch | |
umzusetzen. Zum mutigen Streit, den er fordert, gehört dann aber auch, die | |
Gegenposition an sich heranzulassen, die moralische Kritik zumindest | |
anzuhören, statt sie als unsachliche Angriffe und „Gesinnungsnoten“ | |
abzustempeln. | |
Und noch etwas gehört dazu: Nicht selber vorgeben zu wollen, worum sich die | |
Debatte eigentlich zu drehen habe. Jens Spahn wünscht sich eine | |
demokratische Streitkultur als „wichtigen Schritt hin zur Klärung von | |
echten Problemen“. Welche Probleme sollen aber echt sein – und welche | |
unecht, im Grunde also nur eingebildet? | |
## Rassismus ist nicht eingebildet | |
In der Debatte über den Fußballspieler Mesut Özil und dessen Treffen mit | |
dem türkischen Präsidenten Erdoğan seien „sogleich die größten Kaliber | |
aufgefahren worden“, schreibt Spahn. Kaliber wie „Rassismus“ zum Beispiel, | |
geschrieben in Anführungszeichen – ganz so, als gehe das nun wirklich am | |
Thema vorbei. | |
Geht es aber nicht. Özil selbst berichtete in seinem Rücktrittsschreiben | |
von „verborgenen rassistischen Tendenzen“, die jetzt ausbrechen, von | |
Hassmails, Drohanrufen und Kommentaren in sozialen Medien. Wer ihm das | |
nicht glauben mag, kann auf Twitter und Facebook selbst nach entsprechenden | |
Einträgen suchen. Dort finden sich unter dem Hashtag #MeTwo dann auch | |
gleich noch Tausende Erfahrungsberichte anderer Menschen, die von Rassismus | |
betroffen sind. | |
Diese Berichte können verstören. Sie können sogar richtig unangenehm sein, | |
vor allem für jemanden, der Rassismus bislang nicht als strukturelles | |
Problem wahrnimmt. Die Psychologie kennt für so einen Widerspruch den | |
Begriff der Kognitiven Dissonanz: Die eigene Einstellung (der | |
Rassismusvorwurf ist übertrieben) und die neuen Informationen (Menschen | |
erleben Rassismus) stimmen einfach nicht überein. | |
Ein Ausweg wäre es, der neuen Information die Berechtigung abzusprechen. | |
Ein anderer wäre es, sie an sich heranzulassen und am Ende vielleicht die | |
Einstellung zu überdenken. Welcher davon wäre wohl mutiger? | |
9 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/jensspahn/status/422627124185669633?lang=de | |
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article157398148/Ein-Verbot-ist-ueb… | |
[3] https://twitter.com/claasrohmeyer/status/1003310143138881537 | |
[4] https://twitter.com/jensspahn/status/961904765654495234?lang=de | |
[5] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/jens-spahn-im-portraet-… | |
[6] /Gastkommentar-Debattenkultur/!5521390 | |
[7] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/spd-andrea-nahles-fluechtli… | |
[8] https://www.zeit.de/2018/24/linke-sammlungsbewegung-sahra-wagenknecht-popul… | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
## TAGS | |
Mesut Özil | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Flüchtlinge | |
Moral | |
Jens Spahn | |
Mesut Özil | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Politik | |
#MeTwo | |
Mesut Özil | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debattenkultur in Deutschland: Zeit des Missvergnügens | |
Trump, Özil, Asyltouristen – dieses Land ist im Begriff, sich an | |
selbstzerstörerische kommunikative Standards zu gewöhnen. Helfen könnte der | |
alte Kant. | |
Rassismus im Job: Damals, im Callcenter | |
Mesut Özil hat eine Debatte über Rassismus angestoßen. Das ist gut. Viele | |
Menschen erleben täglich Rassismus, können sich aber nicht so leicht | |
wehren. | |
#meTwo-Debatte: Jammern auf hohem Niveau | |
#meTwo ist ein Elitendiskurs, geführt aus einer privilegierten Position | |
heraus. Verteilungsfragen werden einfach ignoriert. | |
Gastkommentar Debattenkultur: Lasst uns besser streiten! | |
Wir müssen mutiger diskutieren, gerne auch robuster. Das fordert | |
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Gastbeitrag für die taz. | |
Kommentar #MeTwo: Mehr als nur ein weiterer Hashtag | |
Über #MeToo wird nach bald einem Jahr noch immer gestritten. #MeTwo könnte | |
der nächste Hashtag sein, der einen Nerv trifft und lange nachhallt. | |
Hashtag #MeTwo: Einfach mal zuhören | |
Unter dem Hashtag #MeTwo twittern Tausende ihre Erfahrungen mit Rassismus. | |
Viele Reaktionen darauf sind verharmlosend und beleidigend. |