# taz.de -- Ein Redaktionsbesuch bei netzpolitik.org: Echte und unechte Journal… | |
> Eine kleine Redaktion zeigt, wie guter Journalismus funktioniert, und | |
> wird dafür gejagt. Und die Klickzahlen ihres Blogs steigen stetig. | |
Bild: Andre Meister (mit Hut) und Markus Beckedahl bei der Demonstration am 1. … | |
Berlin taz | Erst als Andre Meister mit den drei Russen redet, einem Mann | |
mit blondierter Föhnfrisur und Goldrandbrille, einem Kleinen mit breiten | |
Schultern und einer Frau Ende 50, rollen sie Transparent und Flagge | |
zusammen und verschwinden. Die Frage, ob Menschen mit einer Fahne, die | |
offenbar das fiktive Neurussland symbolisiert, bei dieser Demo erwünscht | |
sein könnten, ist entschieden. | |
Auf einem Lautsprecherwagen steht Markus Beckedahl, strahlt. Er habe auch | |
Russia Today kein Interview gegeben, weil er sich nicht instrumentalisieren | |
lassen wolle. In Russland werden Journalisten für ihre Arbeit ermordet, | |
sagt er. Prinzipientreue, Pressefreiheit, es folgt Applaus. Die Hitze | |
flirrt über Berlin, Samstag ist es, Tag drei der Affäre um die Ermittlungen | |
wegen Landesverrats gegen den Blog Netzpolitik.org. | |
Während sich der Platz füllt, quietschen die S-Bahnschienen an der | |
Friedrichstraße. Gegenüber der Bau des Bundespresseamtes, vorne fließt die | |
Spree, dazwischen wird es immer enger. Familien mit Kindern, alternativ | |
Angehauchte. | |
Zwei ältere Damen unterhalten sich. Die eine besitzt einen Computer, doch | |
beide kennen netzpoltik.org überhaupt nicht. Warum sie dann hier sind? ARD | |
und ZDF berichteten handzahm, unkritisch, staatshörig, sagt die Rüstige mit | |
Computer. „Wegen der Pressefreiheit“, sagt die andere mit fein frisiertem | |
schlohweißen Haar und freundlichen Falten, eher Ende 70. „Ich bin zwar alt, | |
aber nicht doof.“ Holzmedien sollten mit den Bloggern an einem Strang | |
ziehen. Sie sagt tatsächlich „Holzmedien“. | |
## „Man muss die Fakten kennen“ | |
Andre Meister, mit T-Shirt und Hut, hat zwei Nächte mit wenig Schlaf hinter | |
sich. Er und Beckedahl geben Interviews für kritische russische Medien, für | |
„The Intercept“ - die investigative Plattform von Glenn Greenwald, ARD, | |
3Sat und so weiter. | |
Andre Meister hat eine Rede vorbereitet, die er später am Ende des | |
Demostrationszuges hält, Mohrenstraße 37, Berlin-Mitte, gegenüber des | |
Justizministeriums. Da steht er auf dem Wagen und sagt angesichts der | |
Ausweitung der Internetüberwachung durch den Verfassungsschutz: „Man kann | |
über diese neuen Befugnisse geteilter Meinung sein. Aber um sich darüber | |
eine Meinung zu bilden, muss man die Fakten kennen. Und dafür ist | |
investigativer Journalismus so wichtig.“ | |
Eine halbe Stunde davor, Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße, schwingt | |
sich der Popstar der Hackerszene, Jacob Appelbaum, lässig an eine Stange | |
über den Lautsprecherwagen. Er spricht englisch: „Danke Maaßen und Range, | |
ihr habt uns gezeigt, dass alle Geheimdienste außer Kontrolle geraten | |
sind"“. „Fucker“, entfährt es ihm. | |
Die Bildzeitung kritisierte im Januar, dass Appelbaum kein Journalist sei, | |
sondern Aktivist. Er hatte an mehreren Enthüllungen des Spiegel | |
mitgearbeitet. Nun die Breitseite der echten Journalisten: Appelbaum sei | |
voreingenommen, nicht objektiv. Das Skandälchen aber wollte nicht | |
aufploppen. Beckedahl kommentierte: „Bild.de, das Zentralorgan westlicher | |
Sicherheitsbehörden, warnt in einem Beitrag vor dem Spiegel, denn dort | |
schreiben Aktivisten mit.“ | |
## We vertritt wessen Interessen? | |
Geheimdienste, Bürger, Staatsmedien, Holzmedien, Hacker, Aktivisten, | |
Propagandisten, Blogger. Wer vertritt wessen Interessen, wer ist wer? | |
In der zackigen guten alten Zeit bekam der Spiegel den Namen „Sturmgeschütz | |
der Demokratie“. Heute jagt der Staat keine Holzmedien mehr. Für den | |
obersten Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen sei „Scharfmacher eine | |
weiche Formulierung“, schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ). Er, der | |
eigentlich die Verfassung kennen sollte, nimmt sich mit dem | |
Generalbundesanwalt den Blog netzpolitik.org vor. | |
Das sind Störenfriede, linke vermutlich, die permanent geheime Dokumente | |
ins Netz stellen. Er habe den Eindruck, hatte Maaßen zuvor gesagt, dass | |
„die deutschen Nachrichtendienste sturmreif“ geschossen werden sollten. | |
Verschwörung! Inzwischen befindet sich der Hüter der Verfassung auf | |
Tauchstation. | |
## 3,75 Stellen durch Spenden | |
Am Sonntag schläft Andre Meister aus. Und am Montagmorgen hat er einen | |
riesigen gelben Sitzsack auf dem Rücken, als er im „office“ ankommt, wie er | |
die Redaktion nennt. Menschen von re:publica und Newthinking sitzten hier, | |
Projekte von Beckedahl. Es ist halb elf und der Gründer von netzpolitik.org | |
hat bereits das vierte Interview gegeben, gleich will zur „BPK“ - | |
Bundespressekonferenz. Er sieht überarbeitet aus: „Ich habe zwanzig | |
Minuten“. Nach 21 Minuten ist das Gespräch beendet. Professionell, alles | |
gesagt. | |
Er sei kein Journalist, hatte der Bundestag 2014 Beckedahl mitgeteilt und | |
ihm zunächst die Akkreditierung verweigert. Nun solidarisiert sich die | |
Bundespressekonferenz mit ihm. Er sagt: „Wir sind stolz darauf, Blogger zu | |
sein, die journalistisch arbeiten. Es gab jahrelang diese Häme, dass es | |
Blogger nicht auf die Reihe kriegen. Wir brauchen Rolemodells.“ Er meint | |
sich selbst. | |
Viele, die bei der BPK akkreditiert sind, glauben, dies sei der heilige | |
Gral des Journalismus. Nah an der Macht, im Regierungsjet mit Ministern zum | |
Staatsbesuch, Hinterzimmergespräche und Herrschaftswissen. | |
Im „office“ verfolgen Constanze Kurz, promovierte Informatikerin, Anna | |
Biselli, Master in Informatik, und Andre Meister, Sozialwissenschaftler, | |
die Bundespressekonferenz. 3,75 Stellen kann netzpolitik.org durch Spenden | |
finanzieren. Vier Rechner stehen in dem Mini-Büro. Mit einem Handy streamt | |
jemand die Pressekonferenz nach draußen. | |
Vor Andre Meister stehen zwei Bildschirme, er lacht hin und wieder auf und | |
liest parallel Emails - auf Linux-Ebene, technisch-puristisch. Unter dem | |
Fenster an seinem Schreibtisch steht: „Ist das System relevant?“ | |
## Kein Nerd-Getue | |
Andre Meister ist der andere, gegen den wegen Landesverrat ermittelt wird. | |
Er kommt aus einer ostdeutschen Kleinstadt, Alter „zwischen 30 und 35“, | |
sagt er. Er will nicht, dass die korrekte Angabe im Internet auftaucht. | |
„Das sind Selektoren“ - Parameter, die von der NSA zur Profilierung | |
angelegt werden, um Menschen zu verfolgen. | |
Meister schrieb seine Bacherlorarbeit über Vorratsdatenspeicherung, seinen | |
Master zur Zensur des Internets, die Ursula von der Leyen vorangetrieben | |
hatte. „Zensursula“ scheiterte, weil das Vorhaben technisch undurchführbar | |
war. | |
„Man merkt sofort, ob ein Journalist oder Politiker technisches | |
Grundverständnis hat“, sagt Meister. Sein Crypto-Phone hat die Nummer | |
+801-15299072. Abhörsichere Kommunikation. Er verschlüsselte seine Emails | |
schon, als Edward Snowden noch für den Geheimdienst arbeitete. | |
Heute weiß er, dass das kein Nerd-Getue war. Die digitale Welt ist zum | |
Gefechtraum geworden, das Internet zu einer geheimdienstlich-militärischen | |
Supermaschine. Andre Meister enthüllte am vergangenen Donnerstag auch die | |
geheime Cyberstrategie der Verteidigungsministerin. Der Cyberspace wird als | |
fünfte Dimension für aktive Kriegsführung betrachtet - nach Land, Wasser, | |
Luft und Weltraum. Kaum ein Medium sprang auf, denn zu diesem Zeitpunkt | |
nahm die Affäre um den Landesverrat ihren Lauf. | |
## Der Herr Clement | |
Schon Wochen zuvor hatte der Deutschlandfunk berichtet, es würde gegen | |
Unbekannt ermittelt. Der Sender kolportierte, dass sich die Ermittlungen | |
nur gegen die Informanten, gegen „Unbekannt“ richten würden. Tatsächlich | |
aber wurde auch gegen die Journalisten vorgegangen, und solche Verfahren | |
rechtfertigen behördliche Spähmaßnahmen. | |
Für den Deutschlandfunk hatte Rolf Clement als erster Anfang Juli über die | |
Ermittlungen berichtet. Der Sender führt ihn als festangestellten | |
sicherheitspolitischen Korrespondent. Er war zeitweise zugleich | |
Chefredakteur einer Zeitschrift der Jungen Union, im Mai 2015 moderierte er | |
eine Veranstaltung des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit Herrn Maaßen. | |
Der bloggende Journalist Stefan Niggemeier hakte beim Sender nach: | |
„Deutschlandradio sieht hierin keinerlei Grund zu der Annahme, Herrn | |
Clements journalistische Unabhängigkeit stünde infrage.“ | |
Clement hat noch am vergangenen Freitagmorgen behauptet, dass nur gegen | |
„unbekannt“ ermittelt werde, obschon seit Donnerstag klar war, dass auch | |
Beckedahl und Meister gejagt wurden. „Diesen Fehler bedauern der | |
Deutschlandfunk und Herr Clement sehr“, heißt es später. | |
Andre Meister sagt von sich: „Ich war schon immer ein Nerd, kurz nach der | |
Wende bekam ich einen Rechner und 1996 dann Internet, geniale neue Welt. | |
Vernetzung, das Wissen der Menschheit auf einmal vor sich, das Potenzial | |
die Menschheit zu revolutionieren“. Dann kam die Enttäuschung. Andre | |
Meister, der 2007 bei Netzpolitik als Praktikant begann, wurde bekannt, | |
weil er unermüdlich aus dem NSA-Untersuchungsausschuss bloggte. Er blieb | |
stets, bis der letzte Satz gesprochen war. Viele Journalisten rauschten nur | |
sporadisch rein. Sie konnten ja alles in Meisters Echtzeitprotokollen | |
nachlesen. | |
Wie viele Leser netzpolitik.org genau hat, kann Meister nicht sagen, „weil | |
wir keine Tracking-Tools verwenden“. Während die meisten Medien das | |
Leseverhalten ihrer Nutzer ausspionieren, verzichtet Netzpolitik darauf. | |
„Unsere Artikel“, sagt Meister, „bekommen so an die 10.000 Direktzugriffe… | |
Seit Donnerstag hat sich das geändert. | |
5 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
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