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# taz.de -- Debakel um Verfassungsschutz: V wie verlorenes Vertrauen
> Nach dem Auffliegen weiterer V-Leute im Umfeld des NSU wächst die Kritik
> an den Ämtern. Kommt jetzt der Spitzel-TÜV?
Bild: Mitschwimmer, führende Köpfe, Scharfmacher – hat sich der Staat zum A…
BERLIN taz | Die ideale „Vertrauensperson“ für den Verfassungsschutz hat
keine Kinder, keine Schulden und nichts mit Drogen, Spielsucht oder Waffen
zu tun. Auch vorbestraft sollte ein V-Mann nicht sein, erst recht nicht
wegen eines Kapitaldelikts. Politische Mandate seien in der Regel ein
Hindernis, Führungsfiguren als Spitzel ungeeignet.
So schilderte es vor Kurzem ein ranghoher Sicherheitsbeamter in kleiner
Runde in Berlin. Man suche „in der Szene anerkannte Mitschwimmer“ mit einer
gewissen Bauernschläue, bereit zum Verrat gegen Geld.
Die Geheimdienste suchen V-Leute, die Neonazis sind, sein müssen. Aber es
sollen Neonazis sein, die ehrlich mit dem verhassten Staat
zusammenarbeiten. Geht das?
Für den Staat war es schon immer ein riskantes Spiel. Doch seit dem
Auffliegen des NSU werden die Zweifel am V-Leute-System immer lauter. Denn
obwohl die rechtsextreme Szene mit Spitzeln durchsetzt ist, konnte die
Terrorzelle mordend durchs Land ziehen. Mindestens fünf V-Leute von Polizei
und Verfassungsschutz stehen auf einer geheimen Liste mit den 100
„relevanten Personen“ im Umfeld des NSU. Darunter ein Mann, der dem
späteren Terrortrio vor dem Abtauchen TNT besorgte.
## Spitzel-Stopp
Als Konsequenz aus dem Debakel fordert der Linke-Geheimdienstexperte
Wolfgang Neskovic nun einen Spitzel-Stopp wegen nicht nachgewiesenen
Nutzens. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) glaubt dagegen, der
Einsatz von V-Leuten sei „unverzichtbar“, NSU hin oder her. Doch auch er
weiß: Weitermachen wie bisher können die Behörden nicht. Denn die 17
Inlandsgeheimdienste wissen mitunter noch nicht mal, welchen Neonazi das
jeweils andere Amt als V-Mann führt. Dieses Wirrwarr hat schon 2003 das
erste Verbotsverfahren gegen die NPD scheitern lassen.
In den letzten Wochen gerieten gleich mehrere V-Leute in den Fokus der
Öffentlichkeit. Einige wurden schon vor Jahren enttarnt, andere flogen erst
jetzt auf. Dem in Geheimdienstskreisen verbreiteten Ideal entsprechen nur
die wenigsten. Manche wurden straffällig, teils wegen schwerer Delikte.
Viele waren alles andere als „Mitschwimmer“ – sie waren führende Köpfe …
Scharfmacher.
In Baden-Württemberg verdichten sich die Hinweise, dass der Gründer eines
deutschen Ablegers des rassistischen Ku-Klux-Klans (KKK) zeitweise V-Mann
des Verfassungsschutzes war – wobei aber zweifelhaft ist, ob auch während
oder nur vor der Existenz seiner KKK-Gruppe. Schon Ende der 90er trat der
Neonazibarde Achim S. bei Veranstaltungen der NPD auf. Im Jahr 2000 rief er
dann in einem Lied die „arischen Krieger der weißen Rasse“ auf, Europa zu
befreien. In dieses Jahr fiel auch die Gründung seines bis 2002 aktiven
KKK-Ablegers, für den er etwa 20 Mitglieder aus ganz Deutschland
rekrutierte.
## Thomas R., Topinformant
Die Affäre beschäftigt nun auch den NSU-Untersuchungsausschuss des
Bundestags – weil im KKK auch zwei Polizisten mitmischten, die später
Kollegen des NSU-Opfers Michèle Kiesewetter waren. Und auch, weil das
Bundesamt für Verfassungsschutz einen eigenen V-Mann in dem KKK-Ableger
führte: Thomas R. aus Halle. Der war ein Topinformant, weit über den KKK
hinaus. Von 1994 bis 2007 lieferte R. unter dem Decknamen „Corelli“ Interna
aus der Neonaziszene. Für die Behörden ist seine Enttarnung ein Desaster.
Der grüne Geheimdienstexperte Hans-Christian Ströbele fragt sich dagegen
nach der Enttarnung „Corellis“, wie der Staat so jemanden je als bezahlten
Zuträger anheuern konnte. In seinen Augen war der Mann ein „Antreiber der
Szene, ein Hetzer, wie er im Buche steht“.
Um die Jahrtausendwende war Thomas R. einer der wichtigsten Neonazis in
Sachsen-Anhalt, galt dort als führender Kopf des ultraradikalen
Blood-&-Honour-Netzes. Er war aber auch schon früh mit der Neonaziszene in
Westdeutschland verbandelt. Anfang der 90er fand er eine Heimat in der
Nationalistischen Front (NF) um Meinolf Schönborn, der mit einem
sogenannten Nationalen Einsatzkommando paramilitärische Zellen aufbauen
wollte. Die NF wurde im November 1992 verboten, ihre Anhänger machten
weiter.
## Bundesweiter Neonazitreffpunkt
Thomas R. wohnte in Schönborns Haus in Detmold-Pivitsheide, einem
bundesweiten Neonazitreffpunkt. Er feierte hier noch seinen 19. Geburtstag
und zog dann zurück nach Halle. Seit mindestens 1992 spitzelte er für den
Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt, bevor er an das Bundesamt abgegeben
wurde.
Thomas R. fotografierte auf Nazidemos in mehren Bundesländern und legte ein
großes Bildarchiv an – perfekt für seine Geldgeber vom Verfassungsschutz.
Auch online war Thomas R. schon früh unterwegs. „Gesetze kann man immer
umgehen, legal oder illegal im Untergrund“, schrieb er einmal im einst
einflussreichen Thule-Netz.
Ab Ende der 90er betrieb Thomas R. gleich eine ganze Reihe rechtsextremer
Websites. Brisant: Auf einer befand sich der Onlineauftritt des
neonazistischen Fanzines Der Weisse Wolf. Im Printheft wurde 2002 der NSU
erstmals öffentlich erwähnt – neun Jahre bevor die Terrorzelle aufflog.
Weil sein Name auf einer Adressliste des NSU-Terroristen Uwe Mundlos stand,
die nach Abtauchen des Trios 1998 in einer Garage gefunden wurde,
interessiert sich heute auch das BKA für Thomas R. Rechtsextremen kommen
solche Enthüllungen gerade recht. Sie fabulieren sich eine durch den Staat
gesteuerte NSU-Zelle zusammen. Dafür gibt es keinerlei Hinweise. Aber für
den Streit über Sinn und Unsinn von V-Leuten gibt es immer mehr
Anschauungsmaterial.
## Auf Mundlos' Kontaktliste
In Bayern sorgt gerade der Fall Kai D. für Wirbel. Der zog Ende der 80er
von Berlin nach Oberfranken, wo ihn der bayerische Verfassungsschutz als
Quelle anheuerte. Auch er stand auf Mundlos’ Kontaktliste, was immer das in
seinem Fall bedeutet.
Sicher ist: Kai D. spielte eine führende Rolle in der Szene, nicht nur in
Bayern, auch in Thüringen. Mehrfach wurde gegen ihn wegen Verdachts der
Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt, weil er zu Straftaten
gegen politische Gegner und Polizisten aufgerufen haben soll. Laut
Ermittlungsakten war er 1996 auch Teil eines „Aktionskomitees Rudolf Heß“,
das einen Gedenkmarsch für den Hitler-Stellvertreter in Worms organisierte.
Dort marschierten auch die späteren NSU-Mitglieder Mundlos und Beate
Zschäpe.
Als Kai D. am Tag des geplanten Aufmarschs aus Luxemburg einreiste, nahm
ihn die Polizei fest. Laut Vernehmungsprotokoll drohte D. den Beamten:
„Hiermit teile ich Ihnen klar und deutlich mit, dass etwas passieren
könnte, falls ich und andere inhaftierte Kameraden bis zu einem gewissen
Zeitpunkt nicht entlassen werden.“ Es „könnten zum Beispiel Anschläge
verübt werden“. Ein „Vertrauensmann“ des Verfassungsschutzes, der der
Polizei mit Anschlägen droht?
## V-Mann „Piato“
Es gibt noch weitere krasse Fälle. Carsten S. zum Beispiel. Der wurde 1995
zu acht Jahren Haft verurteilt, weil er versucht hatte, mit anderen
Neonazis einen nigerianischen Flüchtling zu ermorden – kein Hinderungsgrund
für den Brandenburger Verfassungsschutz, der ihn als V-Mann „Piato“ anwarb.
Carsten S. kam bald wieder frei – und hat dem Geheimdienst später auch über
das untergetauchte Neonazitrio berichtet, so wie auch ein langjähriger
V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes.
Tino Brandt war von 1994 bis 2001 unter den Tarnnamen „Otto“ und „Oskar“
der Topverdiener unter den Spitzeln, rund 200.000 D-Mark bekam er
insgesamt. Für Kritiker hat sich der Staat damit zum Aufbauhelfer der
Neonaziszene gemacht: Brandt galt als führender Kopf der
Anti-Antifa-Ostthüringen und deren Nachfolgeorganisation Thüringer
Heimatschutz (THS) – einer braunen Truppe, in der sich auch die späteren
NSU-Terroristen tummelten.
Thüringische Verfassungsschützer beteuern dagegen bis heute, Brandt sei ein
guter V-Mann gewesen. Der ehemalige Bundesrichter Gerhard Schäfer, der für
die Landesregierung die NSU-Affäre untersuchte, wunderte sich zwar über die
Höhe seines V-Mann-Honorars, kam aber zu dem Schluss: Der Wert der Infos,
die Brandt lieferte, sei hoch gewesen – auch jener zum abgetauchten
NSU-Trio.
Allein: Sie führten zu nichts, da der Verfassungsschutz brisante Hinweise
weder an die Polizei noch an den Bund weiterleitete.
Bisher konnte es sogar passieren, dass sich die V-Leute von Bund und
Ländern gegenseitig bespitzeln. Im Innenministerium in Berlin ist man daher
zumindest gewillt, ein zentrales V-Leute-Register anzulegen.
## Klare Regeln
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) geht das nicht
weit genug. Sie will ein V-Leute-Gesetz mit klaren Regeln zum Werben,
Führen und zur Kontrolle der Spitzel. Auch die SPD sieht größeren
Reformbedarf. Es müsse festgelegt werden, bei welchen Vorstrafen ein V-Mann
untragbar ist – und zugleich ausgeschlossen sein, dass mit dem Geld
Neonazistrukturen gestärkt werden. Dass der Verfassungsschutz ganz auf
V-Leute verzichten wird, ist unrealistisch. Nur die Linkspartei fordert
dies, schon die Grünen sehen das Abschalten aller Zuträger skeptisch.
Doch wo Spitzel am Werk sind, ist der nächste Skandal nicht weit.
Diskutiert wird daher, dass ein Geheimgremium des Parlaments oder ein
Richter jeden V-Mann-Einsatz vorab genehmigen soll – eine Art Spitzel-TÜV.
Doch selbst in Geheimdienstkreisen heißt es: „Niemand kann für einen V-Mann
die Hand voll ins Feuer legen.“
Nazis bleiben Nazis.
27 Oct 2012
## AUTOREN
S. Erb
W. Schmidt
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