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# taz.de -- Eindrücke aus dem NSU-Ausschuss: Schon wieder „Nie wieder!“
> Im NSU-Ausschuss trifft sich die politische Elite Deutschlands, um die
> Neonazi-Mordserie zu untersuchen. Schon jetzt ist klar: Jeder Zeuge ist
> ein Versager.
Bild: „Wir konnten nicht ahnen“ ist eine häufige Ausrede der Zeugen.
Sie treten einer nach dem anderen vor den Bundestagsuntersuchungsausschuss.
Präsidenten und Vizepräsidenten von Bundeskriminalamt und
Verfassungsschutz, Innenminister, Oberstaatsanwälte, Staatssekretäre,
V-Mann-Führer, Leiter von Sonderkommissionen, Kriminalräte – sie sind der
repräsentative Querschnitt der Legislative und Exekutive. Die politische
Elite dieses Landes. Sie sind der deutsche Sicherheitsapparat. Es geht
darum, zu rekonstruieren, warum Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate
Zschäpe tun konnten, was sie taten.
Die Zeugen sollen ihr Handeln rechtfertigen, von dem jeder weiß, dass es im
Fall des NSU nicht zum Erfolg führte. Es ist wahrscheinlich der erste
Untersuchungsausschuss in der Geschichte der Bundesrepublik, bei dem man
bereits vor dem Abschlussbericht sagen kann, dass jeder geladene Zeuge ein
Mitspieler im Getriebe von falschen Entscheidungen, falschen Ermittlungen,
falschen Verdächtigungen und falschen Indizien war.
Jeder Zeuge hat in den vergangenen 14 Jahren an einer maßgeblichen Stelle
dieses Kapitels eine falsche Entscheidung getroffen. Jeder Zeuge ist auch
ein Zeitzeuge im bisher größten Sicherheitsskandal der
bundesrepublikanischen Geschichte. Jeder Zeuge ist ein Versager.
Vor der Befragung hat jeder Geladene die Möglichkeit, eine
Eingangsbemerkung zu machen. Mancher benötigt einen Satz, andere eine
Stunde. Manche treten mit sicherer Stimme vor die Öffentlichkeit und tragen
„Bedauern und Scham“ vor, wie der Chef des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke:
„Wir haben versagt“, hat er gesagt.
Andere, wie der Kriminalist Jörg Deisting aus dem LKA
Mecklenburg-Vorpommern, jenem Bundesland, in dem der NSU ein Opfer tötete,
aber auch gerne Urlaub machte, liest über eine Stunde aus seinen Blättern
vor. Kein persönliches Wort. Mit dünner Stimme trägt er Zeile um Zeile vor.
Nach jeder vorgelesenen Seite setzt er ein Häkchen unter die Seite.
Vorgelesen. Abgelegt. Abgehakt.
## Versagen und Verdrängen
Ganz gleich, wie die Eingangsaussagen der Zeugen lauten, ob Trauer und
Entsetzen oder Faktenhuberei, im Laufe der Vernehmungen werden immer diese
drei Fragen gestellt: Was ist schiefgelaufen? Was muss sich künftig ändern?
Haben Sie Konsequenzen gezogen? Die Antwort lautet stets: Konsequenzen? Die
hat doch der Innenminister bereits gezogen. Wir haben eine
Rechtsextremismusdatei.
Um einmal kurz zu erklären, was die Rechtsextremismusdatei ist: Es handelt
sich um eine Art Tabelle, in der gewaltbereite Rechtsextremisten mit Namen
und Anschrift verzeichnet sind. In unserem Land, in dem jedes Huhn
namentlich erfasst wird, dessen Ei im Warenverkehr landet, sind die Namen
von bewaffneten Nazis erst seit einigen Wochen in einer zentralen Datei
erfasst.
Ungefähr 30 geladene Zeugen redeten bisher vor dem Ausschuss und immer ist
zu hören, „wir konnten nicht ahnen“, „wir hatten keine Hinweise auf
Rechtsterrorismus“, oder, um den beschämt bedauernden Chef des
Bundeskriminalamts Ziercke zu zitieren: „Vielleicht lag das Versagen im
Föderalismus?“, oder die Einschätzung seines ehemaligen Vizes, Bernhard
Falk: „Es gibt keinen Änderungsbedarf!“ Dabei hat Falk die bei Serientaten
übliche Methode des einheitlichen Ermittlungskonzepts gefordert. Er hatte
vor über zehn Jahren davor gewarnt, dass die Zahl antisemitischer und
fremdenfeindlicher Übergriffe gestiegen sei, und höher eingeschätzt, als in
der Statistik ausgewiesen.
Und dennoch, dass die Mordserie Rechtsterroristen hätte zugeordnet werden
müssen, das hat auch er nicht gesehen. So bleibt es bei nicht erhörten
Forderungen. Nur zur Erinnerung: als Vizechef des BKA fordert man nicht. Da
setzt man durch.
Dass kriminelle Rechtsradikale das Ziel verfolgen, Türken zu töten,
bedurfte in den vergangenen 14 Jahren, dem Zeitraum, in dem das NSU-Trio
untergetaucht war, offenbar einer so anspruchsvollen Kombinationsgabe, dass
man sich fragen muss, ob wir bei der Bekämpfung des Rechtsterrorismus in
einem impotenten Staat erleben. Einem Apparat, der darauf angewiesen ist,
dass Rechtsradikale, die mordend und raubend durch die Bundesrepublik
gezogen sind, erst einen Banküberfall in Eisenach verhunzen müssen, deshalb
in Panik geraten und im Wortsinne sich selbst auffliegen lassen.
## Menschen handeln, nicht Strukturen
Liegt das Versagen an Strukturen? An angeblich fehlenden Beweisen? Brauchte
man in Deutschland angesichts von brennenden Wohnhäusern und
Asylbewerberheimen, durch von Rechtsradikalen verbrannten, erschossenen,
verprügelten, verletzten Mitbürgern besondere Beweise für die Existenz von
Rechtsextremismus? Warum haben Sie nicht im Bereich Rechtsextremismus
ermittelt, lautet deshalb oft die Frage? Wieso?, fragte ein Zeuge zurück.
Wir haben doch auch im Linksextremismus nicht ermittelt.
Nicht Strukturen handeln, sondern Menschen. Staatsbedienstete führten sich
im Falle der deutsch-türkischen Mordopfer oder der ausschließlich
deutsch-türkischen Opfer in der Kölner Keupstraße nicht als Beschützer,
sondern wie Ankläger auf. Haben die Opfer deshalb Steuern gezahlt? Damit
sie, selbst wenn sie zerschossen in ihren Blutlachen liegen, noch über
ihren Tod hinaus, über Jahre hinweg verdächtigt werden, das zu sein, was
sie und ihre Familien in den Köpfen aller in diesen Fällen handelnden
Personen immer waren: In organisierte Kriminalität verstrickte „Ausländer�…
Über Jahre hinweg ordneten Politik und Polizei die Mordserie immer wieder
einer wilden Horde ausländischer politischer Extremisten zu. Türkische
Nationalisten, Kurdische PKK, Iranischer Geheimdienst, Hizbollah …
Tatsächlich waren es die Taten einer wilden Horde Deutscher.
Was ist in den Köpfen los? Was in den Herzen? Und wo ist die Empathie
geblieben? Die Empathie war zum Beispiel an einer Autobahnraststätte
anwesend. Der Verfassungsschützer Andreas T. hätte nach den Aussagen des
leitenden Kriminaldirektors Gerald Hoffmann, der den Mord an dem
Internetkioskbesitzer Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel ermitteln sollte,
„den Schuss hören müssen“ und „er hätte die Leiche sehen müssen“. E…
jenem Nachmittag am Tatort, in dem Internetcafé. Andreas T. verstrickte
sich in Lügen und wurde 2006 zwischenzeitlich zum Beschuldigten. Er wurde
vom Dienst suspendiert.
Seine Abteilungsleiterin aber rief an und bot ihm ein Gespräch an. An einer
Autobahnraststätte. Worum ging es bei dem Treffen? „Um das Menschliche“,
antwortet der Zeuge. Um ihn. Nicht um Halit Yozgat, dessen Café er seit
Jahren kannte und besuchte. Halit vertraute dem Mann, von dem er nicht
wusste, dass er V-Mann-Führer von islamistischen Quellen war, so sehr, dass
er ihm den Schlüssel für die normalerweise verschlossenen Rechner gab,
damit er auch das Diskettenlaufwerk benutzen durfte. „Man hat mir
signalisiert, dass man menschlich zu mir steht“, so der Zeuge T. über den
Zusammenhalt in seiner Behörde. Seine Gefühle überwältigen ihn. Er weint.
## Ignoranz und Arroganz
Was soll man attestieren? Dass wir ein Rassismusproblem in Deutschland
haben? In der Zivilgesellschaft, in den Medien, Behörden, Parteien, der
Politik, der Polizei? Wie sonst war es möglich, dass „tote Türken“ nicht
Opfer sein durften? Bedürfen wir angesichts durchschnittlich 44 rechter
Straftaten täglich und über 180 Morden, begangen durch Rechtsradikale seit
1990, dieses längst bekannten Befunds? Angesichts wachsender Ressentiments
in der Bevölkerung gegenüber Immigranten und deren Nachkommen?
Wolfgang Cremer, erster Direktor des BND, zu Zeiten der NSU-Morde Leiter
der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz: „Ich
gestehe, dass ich Rechtsextremismus in Betracht zog, aber die Berichte der
Medien über organisierte Kriminalität haben mich davon wieder abbringen
lassen.“
Was also ist der Skandal? Mordende Rechtsterroristen? Oder nicht vielmehr
die über 14 Jahre lang nicht im Rechtsextremismus ermittelnden Behörden,
Nachrichtendienste, Polizei, Politik? Tatsache ist: Die Opfer der Zwickauer
Terrorzelle waren nicht nur Opfer des NSU, sie sind auch Opfer der
deutschen Sicherheitsbehörden.
In jenen Städten, in denen die NSU gemordet hat, soll eine Gedenktafel
aufgestellt werden. Die Inschrift: „Wir sind bestürzt und beschämt, dass
diese terroristischen Gewalttaten über Jahre nicht als das erkannt wurden,
was sie waren: Morde aus Menschenverachtung. Wir sagen: Nie wieder!“ Man
fragt sich, wann das zur Floskel herunterdegradierte „Nie
wieder!“-Zeitalter in Deutschland endlich beginnen wird, damit das in Stein
gemeißelte Bedauern endlich aufhören kann.
8 Nov 2012
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