# taz.de -- Debatte Mindestlohn: Da führt kein Weg dran vorbei | |
> Die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro muss kommen. Damit werden aber auch | |
> ganz neue Grauzonen in der privaten Dienstleistung entstehen. | |
Bild: In drei Jahren sind die 8,50 eigentlich nur noch 8 Euro wert. | |
Der Streit hat was Schräges: Unions-Politiker fordern, Rentner und | |
Studierende vom kommenden Mindestlohn auszunehmen, um deren Nebenjobs nicht | |
kaputtzumachen. „Bloß nicht!“, schimpfen SPD-Politiker. Wer Ausnahmen | |
zulasse, zwinge diese Arbeitnehmer, dann auch weiterhin zu Billigstlöhnen | |
ackern zu müssen. | |
Der Mindestlohn ist wie ein Wackelbild: Mal erscheint er als | |
Schreckgespenst für die Arbeitgeber, dann wieder als Allheilmittel für | |
Gerechtigkeitsprobleme. Dabei gibt es genug Erfahrungen, auch aus dem | |
Ausland, die diese Mythen gleichermaßen entzaubern. | |
Möglicherweise läuft es am Ende nämlich ganz anders. Ein Blick in die | |
Grauzonen der privaten Dienstleistung lässt die Vermutung aufkommen, dass | |
die Regulierung der Löhne am Ende zu neuen Deregulierungen bei den | |
Arbeitsbedingungen führen könnte. | |
Ab dem Jahr 2015 kommt die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro brutto in Ost und | |
West, es sei denn, in dem Unternehmen gilt ein Tarifvertrag, der niedrigere | |
Löhne vorsieht. Ab dem Jahr 2017 sollen die 8,50 Euro für alle | |
Beschäftigten als Mindestlohn gelten. | |
## Aus 8,50 werden 8 Euro | |
Ein Gesetzentwurf ist bis zur Sommerpause angekündigt. Die Zeitschiene ist | |
bemerkenswert. Eine Inflationsrate von 2 Prozent vorausgesetzt, dürften | |
8,50 Euro an Bruttostundenlohn in drei Jahren nur 8 Euro an heutiger | |
Kaufkraft darstellen. Die Lohnuntergrenze ab dem Jahr 2017 hat so nicht den | |
Wert von heutigen 8,50 Euro, sondern liegt deutlich darunter. | |
Der Mindestlohn erhöht die Kaufkraft der NiedrigverdienerInnen in | |
Gastgewerbe, Handel und Reinigungsdiensten, und das ist dringend nötig. | |
Zwei Drittel der etwa 5 Millionen Beschäftigten, die Löhne von unter 8,50 | |
Euro kriegen, sind Frauen. | |
Erfahrungen in Irland zeigen, dass sich der Lohnunterschied zwischen | |
Männern und Frauen durch die Einführung einer Entgeltuntergrenze verringert | |
hat. In Großbritannien ist dieser Effekt allerdings weniger nachweisbar. | |
## Lohndumping verhindern | |
Ein Mindestlohn von 8,50 Euro vermindert die Angst vor Lohndumping etwa | |
durch den Zuzug von Arbeitskräften aus dem EU-Ausland. Das ist ein | |
wichtiger politischer Effekt. Die Auswirkung auf die hiesigen | |
Erwerbsbiografien halten sich aber in Grenzen. | |
Kommen in Deutschland die 8,50 Euro als Untergrenze, erreichen Beschäftigte | |
mit diesem Mindestlohn auch nach 40 Jahren Ackerei in ihrer späteren Rente | |
nicht das Niveau der Grundsicherung (Hartz IV). Das ist ein Skandal, der in | |
der Rentenpolitik noch geändert werden muss. | |
Auch die Zahl der sogenannten Aufstocker, die neben dem Arbeitsverdienst | |
Hartz-IV-Leistungen beziehen, wird nicht nennenswert abnehmen, hat das | |
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) prophezeit. Die meisten | |
Aufstocker arbeiten in Teilzeit oder haben Familie. Ein etwas höheres | |
Stundenentgelt ändert diese Einkommenskombination nicht. | |
## Nachfrage bleibt bestehen | |
Die interessante Frage wird sein, wie Arbeitgeber in der privaten | |
Dienstleistung an anderer Stelle die Kosten für die höheren Stundenentgelte | |
ausgleichen. Denn die Nachfrage nach Putz- und Kellnerdiensten bleibt ja | |
bestehen. Es ist also falsch, immer von drohenden Jobverlusten zu reden. | |
Der einfachste Weg, schlichtweg die Preise zu erhöhen, ist dabei nicht | |
immer gangbar. Vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) | |
veröffentlichte Erhebungen zur Gebäudereinigung zeigen, dass mit der | |
Einführung von Branchenmindestlöhnen in diesem Bereich die Preise kaum | |
gesteigert werden konnten, der Wettbewerb ist einfach zu hart. | |
Also wird getrickst: Oft verlangen die Arbeitgeber beim Putzen | |
Quadratmetervorgaben, die nicht einzuhalten sind. Dann putzten die Frauen | |
länger als ihnen an Stunden bezahlt wird. | |
Auch im Gastgewerbe und im kleinen Einzelhandel gibt es schon heute viele | |
Grauzonen in der Bezahlung. Manche Arbeitnehmer ackern offiziell in | |
Teilzeit und bekommen einen Teil des Gehalts „schwarz“. Mit dieser | |
Kombination lässt sich auch ein höheres Stundenentgelt künftig ausgleichen. | |
## Aufräumen nach Feierabend | |
Auch die Verrechnung von Berufskleidung etwa bei Pizzadiensten könnte in | |
die Kostenreduktion angesichts der höheren Stundenentgelte einfließen. In | |
manchen Supermärkten ist zwar mit Ladenschluss offiziell Feierabend für die | |
Kassiererinnen, doch danach müssen sie noch aufräumen. | |
Arbeitgeber können Kosten zudem erheblich drücken, wenn sie Beschäftigte | |
nur zu Stoßzeiten kommen lassen. In Großbritannien etwa hat die „Arbeit auf | |
Abruf“ („zero-hours contract“) ohne feste garantierte Wochenstundenzahl | |
explosionsartig zugenommen. | |
Für Selbstständige greift die Lohnuntergrenze auch nicht. Wie in | |
Großbritannien könnte es hier mehr Scheinselbstständigkeit geben. | |
Vielleicht stehen mit Einführung des Mindestlohns in den Schnellgaststätten | |
dann keine Angestellten, sondern „Teilhaber“ hinter dem Tresen. | |
## Stücklöhne sind anzupassen | |
Manche Arbeit wird nach Stücklohn abgerechnet. Zeitungsausträger | |
beispielsweise werden pro ausgetragenem Blatt bezahlt und erreichen damit | |
nur sehr niedrige Stundenlöhne. Künftig müssten die Stücklöhne dann so | |
angepasst werden, dass ein Träger mit der Zustellung auf 8,50 Euro die | |
Stunde kommt. Die Gewerkschaft Ver.di wirft den Arbeitgebern aber heute | |
schon vor, mit Akkordvorgaben zu agieren, die nicht mal „athletische | |
Marathonläufer schaffen“, wie es in einem Online-Kommentar heißt. | |
Mit dem Mindestlohn dürften die Gestaltungsmöglichkeiten in der privaten | |
Dienstleistung nicht verschwinden, sondern umso intensiver genutzt werden, | |
um Kosten zu drücken. Mehr Regulierung durch den Mindestlohn führt so am | |
Ende zu mehr Deregulierung. | |
Vielleicht sogar zu paradoxen Effekten: Praktika nach einem fertigen | |
Studium sollen den künftigen Mindestlöhnen unterliegen. Aber gänzlich | |
unbezahlt, quasi als „Ehrenamtliche“ dürfen Hospitanten auch weiterhin | |
tätig sein. Das könnte eine bisher geringe Bezahlung von Praktikanten auf | |
null drücken. | |
Die Arbeitsbedingungen muss man also mitdenken und überwachen, wenn man | |
über den Mindestlohn spricht. Das wird noch spannend. An der Untergrenze | |
führt politisch trotzdem kein Weg vorbei. | |
3 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
## TAGS | |
Mindestlohn | |
Lohndumping | |
Lohnuntergrenze | |
Tarifvertrag | |
Inflation | |
Andrea Nahles | |
Mindestlohn | |
Vermögen | |
Hartz IV | |
Rentenpolitik | |
Niedriglohn | |
Job | |
Kindergeld | |
Mindestlohn | |
Mindestlohn | |
Mindestlohn | |
Schlachthof | |
EU | |
Tarifabschluss | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mindestlohn kommt fast ohne Ausnahme: Kein Flickenteppich | |
Die SPD setzt sich bei Lohnuntergrenze weitgehend durch. Ausgenommen sind | |
nur sehr wenige Gruppen, darunter Jugendliche unter 18 Jahren. | |
Aufweichung des Mindestlohns: DGB-Chef warnt die Arbeitgeber | |
Der geplante Mindestlohn soll nicht mit zahlreichen Ausnahmeregelungen | |
umgangen werden. DGB-Chef Michael Sommer kündigt massiven Widerstand an. | |
Vermögenssituation in Deutschland: Die soziale Kluft bleibt | |
Das Vermögen der Deutschen ist extrem ungleich verteilt, konstatiert eine | |
Studie. Besonders benachteiligt sind Frauen und Ostdeutsche. | |
Hartz-IV vor Bundessozialgericht: Mehr als der Rückkaufwert | |
Wegen zweier Monaten Hartz-IV-Bezug soll eine Frau ihre Lebensversicherung | |
vorzeitig kündigen. Die Frau wehrt sich – mit einem Teilerfolg. | |
Debatte Rentenpolitik: Haltlose Schreckensszenarien | |
Alte gegen Junge – der gefühlte Generationenkonflikt verdeckt die Sicht auf | |
die ökonomischen Interessen im Rentenstreit. | |
Niedriglöhne und Tarifverträge: Aufwärts dank Mindestlohndebatte | |
Immer mehr tarifliche Stundenlöhne erreichen die Schwelle von 8,50 Euro. | |
Die Aussicht auf den allgemeinen Mindestlohn belebt die Tarifpartnerschaft. | |
Lohn reicht nicht aus: Jeder Elfte hat zwei Jobs | |
Über 2,6 Millionen Arbeitnehmer verdienen sich etwas hinzu. | |
Grünen-Politikerin Pothmer kritisiert, dass ein Job offenbar nicht zum | |
Leben reicht. | |
Pläne der Familienministerin: Mehr Kinderzuschlag für Aufstocker | |
Soll das Kindergeld angehoben werden oder nicht? Familienministerin | |
Schwesig findet nicht. Sie will lieber sozial schwache Familien stärker | |
unterstützen. | |
Ausnahmen vom Mindestlohn: Weniger Geld für zwei Millionen | |
Die Union fordert Ausnahmen vom Mindestlohn. Die würden nach Berechnungen | |
der Hans-Böckler-Stiftung zwei Millionen Menschen treffen. | |
Gerangel um den Mindestlohn: Rückenwind für 8,50 Euro | |
Ein Gutachten von Rechtsexperten des Bundestags stellt klar: Bestimmten | |
Gruppen den Mindestlohn vorzuenthalten, dürfte schwierig werden. | |
Gutachten des Bundestags: Warnung vor Mindestlohn-Ausnahmen | |
Die geplanten Ausnahmen beim Mindestlohn für Studenten und Rentern könnten | |
gegen die Verfassung verstoßen. Zu diesem Ergebnis kommt der | |
wissenschaftliche Dienst. | |
Ein weiterer Mindestlohn: 7,75 Euro fürs Tiereschlachten | |
Die Tarifpartner einigen sich auf einen Mindestlohn für die | |
Fleischindustrie. Davon profitieren vor allem Beschäftigte mit | |
Werkverträgen. | |
Lohndumping in Europa: Schutzlose Wanderarbeiter | |
Viele Arbeitgeber halten die Rechte von Wanderarbeitern nicht ein. Die | |
EU-Kommission will die Kontrollen nun weiter einschränken. | |
Kommentar Tarifabschluss: Der Mindestlohn wirft Schatten | |
Das Ausgliedern von billigen Arbeitskräfte entspricht nicht mehr der Zeit. | |
Das ist Folge der angepeilten Lohnuntergrenze. |