# taz.de -- Debatte Rentenpolitik: Haltlose Schreckensszenarien | |
> Alte gegen Junge – der gefühlte Generationenkonflikt verdeckt die Sicht | |
> auf die ökonomischen Interessen im Rentenstreit. | |
Bild: Die Grenze verläuft nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen ob… | |
Auf einem Foto aus dem Jahr 1986 steigt der damalige Arbeitsminister | |
Norbert Blüm auf eine Leiter und klebt ein Plakat an eine Litfaßsäule. | |
Darauf der Text: „denn eins ist sicher“. Als ich das Bild zum ersten Mal | |
sah, ergänzte ich spontan: „Der Tod.“ Wie naiv! „Die Rente“, belehrte … | |
Blüm mit zufriedenem Lächeln. | |
Dutzende andere Politiker kletterten in den vergangenen Jahren auf diese | |
Leiter und verkündeten ebenso stolz: „Die Rente ist sicher.“ Die Botschaft | |
soll eine Beruhigungspille für die aufgeregte deutsche Seele sein – die | |
Behandlung schlägt jedoch fehl. Wie ein Bumerang kommt die Frage, ob „die | |
Rente sicher“ ist, immer wieder zurück. | |
Übers Gehalt redet man selten. Über die Rente ständig: Rente mit 67, Rente | |
mit 63, Frührente, Mütterrente. Es nervt. Kaum ein Thema scheint | |
hierzulande mehr zu interessieren als die Altersvorsorge. Die eigene, | |
wohlgemerkt. | |
Was fällt manchem zu der vergangenen Großen Koalition spontan ein? Die | |
Rente mit 67. Welches Projekt packt die neue Große Koalition als Erstes an? | |
Richtig: die Rente. | |
Nicht, dass ich das Thema an sich verwerflich fände. Im Gegenteil. Nur: Es | |
wird regelmäßig eine Diskussion öffentlich ausgetragen, die sich im Kreis | |
dreht und mit immer neuen Ressentiments aufgeladen wird. Die | |
Argumentationsmuster bleiben gleich, die Gegenüberstellung „Alte gegen | |
Junge“ aber wird heftiger, die Schreckensszenarien, die in die Zukunft | |
projiziert werden, düsterer. Dabei greift man gerne auf schwammige Begriffe | |
zurück: Es droht eine Katastrophe, es könnten Zigtausende Arbeitsplätze | |
vernichtet werden. | |
## „Aufstand der Leistungsträger“ | |
Zwei Ängste addieren sich bei dieser Diskussion: Geld- und Zukunftsängste. | |
Das Ergebnis: eine dauernde Aufregung. Im Jahr 2003 sprach der | |
Bundesvorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, von | |
„Generationenverrat“. Skandal! Fünf Jahre später warnte Altbundespräside… | |
Roman Herzog vor einer „Rentnerdemokratie“. Unerhört! Neulich fragte eine | |
deutsche Tageszeitung junge Unternehmer, was sie von der Rentenreform von | |
Andrea Nahles halten, und veröffentlichte die Antworten unter dem Titel: | |
„Aufstand der Leistungsträger“. Nähme man die Häufigkeit der medialen | |
Aufstände der Leistungsträger als Maßstab, dann wäre Deutschland ein | |
ziemlich rebellionsfreudiges Land. | |
Der Mitherausgeber der FAZ Frank Schirrmacher schrieb im Jahr 2004 in | |
seinem viel diskutierten Buch „Das Methusalem-Komplott“: „Manches spricht | |
dafür, dass jene demografischen Veränderungen, die 2014 zweifellos schon | |
für jedermann mit Händen zu greifen sein werden, das 20. Jahrhundert | |
beerdigen werden. Was uns bevorsteht, kommt mit der Wucht einer | |
Naturgewalt.“ (Zitiert nach einem Vorabdruck im Spiegel.) Heute, zehn Jahre | |
später also, sollen die Deutschen, wenn Schirrmachers Prognose zuträfe, | |
mitten in der Naturkatastrophe stecken – und streiten darüber, ob es | |
gerecht sei, Müttern 28 Euro mehr Rente im Monat zur Verfügung zu stellen. | |
Die Daueraufregung lenkt von anderen Themen ab. Warum wird zum Beispiel | |
nicht genauso engagiert über ein gerechteres Bildungssystem diskutiert? | |
Warum beschäftigt man sich mehr mit der Möglichkeit der künftigen | |
Altersarmut als mit der Realität der heutigen Armut? Es fällt zudem auf, | |
dass die Rentendiskussion häufig mit Verweis auf die zusätzlichen Lasten | |
für „die Jüngeren“ geführt wird. Warum aber die Lage und die Zukunft der | |
„Jüngeren“ keine so wichtige Rolle spielen, wenn es um Bildungschancen, um | |
höhere Löhne, bessere Arbeitsverhältnisse oder mehr Kitaplätze geht, bleibt | |
rätselhaft. | |
Und was nutzen Titel wie „Exportweltmeister“ oder „Stabilitätsanker“, … | |
die Menschen das Gefühl haben, dass ihre Rente immer mehr in Richtung | |
Sozialhilfe sinkt? Dass ihre Lebensleistung nicht ausreichend gewürdigt | |
wird? Generationendebatten verkommen so zu Neiddisputen und vertiefen die | |
gesellschaftlichen Gräben immer mehr. | |
## Italien war lange großzügig | |
Je länger ich in Deutschland lebe, desto mehr fällt mir auf, dass in | |
Italien, meinem Geburtsland, nicht so häufig und nicht so heftig über die | |
Renten gesprochen und gestritten wird. Und das, obwohl es durchaus Grund | |
dafür gäbe. Die Reformen der letzten Jahre in Italien führten zu | |
signifikanten Rentenkürzungen. Der Rentenbeitrag ist der höchste unter den | |
OECD-Ländern nach Ungarn und liegt bei 33 Prozent (9,2 Prozent für die | |
Arbeitnehmer und 23,8 Prozent für die Arbeitgeber) gegenüber 18,9 Prozent | |
hierzulande. Die öffentlichen Rentenausgaben waren bisher höher als in | |
jedem anderen OECD-Land. Das effektive Renteneintrittsalter bleibt rund | |
drei Jahre niedriger als der OECD-Durchschnitt. Und erst im November warnte | |
die OECD vor dem Armutsrisiko für die jungen Italiener mit prekären Jobs. | |
Auf der anderen Seite kann man sagen, dass das System in Italien im | |
Vergleich lange eher großzügig war. Die Nettoersatzquoten lagen laut OECD | |
in Italien zuletzt je nach Einkommen noch zwischen 81 und knapp 84 Prozent, | |
in Deutschland zwischen 55 und 57 Prozent. Wer soll in Zukunft dieses | |
System finanzieren, wenn viele junge Italiener keine Stelle haben oder in | |
prekären Verhältnissen arbeiten? Eine breit geführte Diskussion über den | |
Generationenkonflikt in Bezug auf die Rente gibt es jedoch trotzdem kaum. | |
Warum? | |
Tito Boeri, Wirtschaftsprofessor an der renommierten Universität Bocconi in | |
Mailand, führt mehrere Gründe an. Erstens: die Familie. Sie habe | |
traditionell eine große Bedeutung als lohnunterstützendes System, da das | |
Einkommen einzelner Familienmitglieder interfamiliär umverteilt werde. | |
Junge Italiener ziehen beispielsweise später aus dem elterlichen Haus aus | |
und profitieren so von den finanziellen Transfers auch der Großeltern – | |
also von deren Renten. Zweitens: Manche Eltern subventionieren die Jungen | |
zudem etwa durch den Kauf einer Immobilie. Drittens: Vielen sei nicht | |
bewusst, wie ihr Rentensystem funktioniert. Und viertens: Ende des Jahres | |
werden keine Mitteilungen mit der voraussichtlichen Höhe der Rente | |
verschickt. Fazit: Die Italiener wissen eigentlich nicht, wie viele | |
Beiträge sie bezahlt haben – und wie viel Rente sie bekommen werden. Das | |
alles befördert, dass nicht darüber geredet wird. | |
Ganz anders in Deutschland. Die Renten-Obsession produziert eine | |
Renten-Schizophrenie: Laut einer Allensbach-Umfrage für die FAZ glauben 66 | |
Prozent der Deutschen, es sei absehbar, dass sich die finanzielle Lage der | |
Rentenkasse in Zukunft wieder verschlechtern werde. Gleichzeitig halten 74 | |
Prozent der Befragten die Rente mit 63 für eine gute Sache – obwohl sie | |
viel Geld kostet – und 52 Prozent sind der Meinung, dass Deutschland sich | |
das leisten kann. | |
## Den Blick vom eigenen Rentenbescheid abwenden | |
Könnte es sein, dass es über die nationalen Unterschiede oder die viel | |
beschworene „German Angst“ hinaus andere Gründe für das permanente Gerede | |
über die Rente gibt? Der Statistikprofessor Gerd Bosbach glaubt, dass | |
hinter den Schreckensszenarien und den Warnungen vor Altersarmut feste | |
Interessen stecken: die der Arbeitgeber zum Beispiel, die die | |
Lohnnebenkosten senken möchten. Und die der Versicherungsunternehmen. | |
„50-Jahres-Prognosen haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun“, schreiben | |
Bosbach und Jens Jürgen Kroff im Buch „Armut im Alter“. Und weiter: | |
„Steigende Armut, auch im Alter, ist keine Folge demografischer | |
Verwerfungen, sondern eine Folge der Umverteilung des wachsenden | |
gesellschaftlichen Reichtums.“ Wenn es so ist, dann wäre es wohl an der | |
Zeit, den Blick von dem eigenen Rentenbescheid abzuwenden und sich noch | |
mehr mit der Umverteilung von unten nach oben zu beschäftigen. | |
Glaubt man hingegen dem Professor für Finanzwissenschaft Bernd | |
Raffelhüschen, einem Verfechter neoliberaler Ideen, dann passiert was ganz | |
Anderes: Dann nämlich wandert in Europa die Demografie-Debatte nach Süden. | |
Es wurde in Skandinavien damit begonnen, dann kamen Deutschland und andere | |
zentraleuropäische Länder dazu. In zehn Jahren werde der Alterungsprozess | |
Italien also treffen. Ich bin schon auf den ersten italienischen Politiker | |
gespannt, der auf eine Leiter steigt und ein Plakat klebt: „perché una cosa | |
è certa: la pensione“ – denn eins ist sicher: die Rente. | |
15 Feb 2014 | |
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