# taz.de -- Chronik zur Vorratsdatenspeicherung: Kampf um das Privatleben | |
> Der Europäische Gerichtshof kippt die EU-Richtlinie zur | |
> Vorratsdatenspeicherung. Diese sorgt seit Jahren für Streit – auf | |
> EU-Ebene und in der deutschen Politik. | |
Bild: Die Zeit ist eine andere, die Botschaft dieselbe: Aufruf gegen die geplan… | |
Berlin taz | Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden: Die | |
EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung [1][ist nicht mit EU-Recht | |
vereinbar]. Das Thema hat in den vergangenen Jahren für viel Wirbel | |
gesorgt. Die Debatte geht aber zurück bis ins Jahr 1983. Damals entschied | |
das Bundesverfassungsgericht, dass die Menschen das Recht haben, über ihre | |
Daten selbst zu bestimmen. Seitdem hat sich viel getan. | |
## Dezember 1983 - Datenschutz: | |
Das Bundesverfassungsgericht erlässt das [2][richtungsweisende | |
„Volkszählungsurteil“]. Darin wird Datenschutz erstmals als Grundrecht | |
anerkannt. Der Bürger habe ein Recht auf „informationelle | |
Selbstbestimmung“, die Datensammlung mit moderner Informationstechnik sei | |
für die Betroffenen unbeherrschbar. Deswegen würden Menschen aus Vorsicht | |
ihr Verhalten ändern. Laut diesem Urteil muss jede Datenerhebung durch ein | |
Gesetz geregelt sein. Eine Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat | |
und zu unbestimmten Zwecken schließt das Gericht aus. Anlass war eine für | |
1983 geplante Volkszählung, die aufgrund des Urteils erst 1987 stattfand. | |
## Juli 2002 - Privatsphäre im Netz: | |
[3][L:2002:201:0037:0047:de:PDF:In einer Richtlinie verpflichten] das | |
Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die | |
Mitgliedsstaaten zum Schutz der Privatsphäre auch im Bereich der | |
elektronischen Kommunikation. Verkehrs- und Standortdaten müssten von | |
Netzbetreibern gelöscht oder anonymisiert werden, sobald sie nicht mehr | |
benötigt werden. Ausnahmen – etwa zum Erhalt der öffentlichen Ordnung – | |
müssten „notwendig, angemessen und verhältnismäßig“ sein. | |
## Juli 2005 - Angst vor Terrorismus: | |
Bisher setzte die EU auf Datenschutz. Die Diskussion über den | |
internationalen Terrorismus ändert das. Bei Anschlägen in Madrid 2004 und | |
in London 2005 [4][kommen etliche Menschen ums Leben]. Der Europäische Rat | |
verurteilt die Anschläge und betont, die EU müsse so schnell wie möglich | |
gemeinsame Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung erlassen. Dies wurde im | |
März 2004 schon einmal in einer Erklärung zum Kampf gegen den Terrorismus | |
angesprochen. | |
## März 2006 - EU beschließt Vorratsdatenspeicherung: | |
Das Europäische Parlament und der Rat beschließen die | |
Vorratsdatenspeicherung [5][32006L0024:DE:HTML:in einer neuen Richtlinie]. | |
Laut dieser müssen die nationalen Gesetzgeber Telekommunikationsunternehmen | |
zur [6][mehrmonatigen Speicherung sämtlicher Verbindungsdaten] | |
verpflichten. Die Daten sollen zur „Ermittlung, Feststellung und Verfolgung | |
schwerer Straftaten“ zur Verfügung stehen. Ein besonderer Anlass für die | |
Speicherung – [7][etwa einen Verdachtsfall] – ist dabei nicht nötig. Die | |
Daten sollen mindestens sechs Monate und höchstens zwei Jahre gespeichert | |
werden. Genau diese Richtlinie ist es, die der EuGH nun für unrechtmäßig | |
befunden hat. | |
## Januar 2008 - deutsche Umsetzung: | |
[8][Deutschland setzt die Richtlinie der EU] mit dem „Gesetz zur | |
Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter | |
Ermittlungsmaßnahmen“ um. Deutsche Telekommunikations- und Internetanbieter | |
müssen nun Verkehrs- und Standortdaten sechs Monate auf Vorrat speichern | |
und sie den Strafverfolgungsbehörden zugänglich machen. Ab 2009 sollen | |
zusätzlich die Internet-Provider registrieren, wer wem wann eine E-Mail | |
schreibt und wer mit welcher IP-Adresse ins Netz geht. Die Inhalte der | |
Gespräche, Mails und angesehenen Webseiten sollen nicht gespeichert werden. | |
Die schwarz-rote Bundestagsmehrheit beschließt das von Justizministerin | |
Brigitte Zypries (SPD) vorgelegte Gesetzespaket. FDP, Linke und Grüne | |
lehnen es ab. Verschiedene FDP-Politiker und Bürgerrechtler reichen Klage | |
ein. Der AK Vorrat reicht Ende Februar außerdem die [9][Klagen von 34.000 | |
Bürgern nach] – die bis dahin größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten. | |
## März 2010 - Gesetz unrechtmäßig: | |
Das Bundesverfassungsgericht erklärt das Gesetz für | |
//www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20100302_1bvr025608.html | |
:unvereinbar mit dem Grundgesetz. Die Vorratsdatenspeicherung befördere das | |
Gefühl des „unkontrollierbaren Beobachtetwerdens“ und habe somit | |
„nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung.“ Für d… | |
Speicherung zu Zwecken der Strafverfolgung müsse ein begründeter Verdacht | |
vorliegen. Die Daten müssten auch weiterhin dezentral bei den Firmen | |
gespeichert werden und [10][nicht zentral beim Staat]. Das Gesetz sei | |
jedoch – anders, als von Kritikern vorgebracht – nicht „schlichtweg | |
unvereinbar“ mit Artikel 10 des Grundgesetzes. Dieser garantiert die | |
Unverletzlichkeit von Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Eine Anpassung | |
des Gesetzestextes sei also möglich. | |
In den folgenden Monaten kommt es [11][wegen des Urteils zum | |
Koalitionskrach]: Während die CDU/CSU verlangt, Justizministerin Sabine | |
Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) solle schnellstmöglich einen | |
Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Vorratsspeicherung vorlegen, | |
[12][lehnt die die anlasslose Massenspeicherung von Bürgerdaten strikt ab]. | |
## Mai 2012 - EU verklagt Deutschland: | |
Die EU-Kommission [13][verklagt Deutschland beim EuGH], weil die Regierung | |
in Berlin die EU-Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt hat. Fristende war | |
September 2007. Durch das Urteil des Verfassungsgerichtes 2010 und den | |
Streit zu dem Thema zwischen CDU/CSU und FDP wurde noch kein neues Gesetz | |
verabschiedet. Die Brüsseler Behörde fordert in ihrer Klageschrift ein | |
tägliches Bußgeld von über 315.000 Euro ab dem Tag der Urteilsverkündung | |
bis zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht. Die Regierung weist | |
Versäumnisse zurück. | |
## Dezember 2013 - GroKo beschließt Vorratsdatenspeicherung: | |
Die Große Koalition beschließt die [14][Umsetzung der EU-Richtlinie im | |
Koalitionsvertrag]. Die Vereinbarung sieht vor, dass ein „Zugriff auf die | |
gespeicherten Daten nur bei schweren Straftaten und nach Genehmigung durch | |
einen Richter so wie zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben | |
erfolgen“ darf. Die SPD ist eigentlich gegen Vorratsdatenspeicherung, geht | |
den Kompromiss aber ein. Dafür fordert sie, die Speicherdauer auf drei | |
Monate zu reduzieren. | |
## | |
Generalanwalt Pedro Cruz Villalón fordert den Europäischen Gerichtshof auf, | |
die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für rechtswidrig zu erklären. | |
Sie sei mit der [15][Charta der EU-Grundrechte unvereinbar]. Auch sei die | |
Forderung, gesammelte Daten sollten zur Aufklärung und Verhütung „schwerer | |
Straftaten“ beitragen, zu unpräzise. Statt dessen hätten konkrete | |
Straftatbestände aufgezählt werden sollen. Außerdem müsste geregelt werden, | |
dass nicht mehr benötigte Daten gelöscht und Betroffene über eine Abfrage | |
ihrer Daten informiert werden. Auch Villalón stellt nicht die Zulässigkeit | |
der Vorratsdatenspeicherung an sich in Frage. | |
## | |
Nach der Forderung Villalóns verkündet Bundesjustizminister Heiko Maas | |
(SPD), [16][die Vorratsdatenspeicherung zunächst nicht einführen] zu | |
wollen. Er wolle statt dessen das Urteil des EuGH abwarten. Wenn das | |
Gericht der Richtlinie eine Absage erteile, sei die „Geschäftsgrundlage für | |
den Koalitionsvertrag komplett entfallen“, sagte Maas. „Dann müssten wir | |
über die Vorratsdatenspeicherung ganz neu reden. Bis dahin liegt das | |
Instrument für mich auf Eis.“ | |
## | |
Der EuGH befindet, dass die Speicherung von Kommunikationsdaten ohne | |
Verdacht auf Straftaten nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die Regelung | |
„beinhaltet einen Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die | |
Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz | |
personenbezogener Daten, der sich nicht auf das absolut Notwendige | |
beschränkt.“ Das Gericht kippt mit diesem Urteil die EU-Richtlinie zur | |
Sicherung von Telefon- und Email-Informationen. | |
[17][Jetzt beginnt die Deutungsschlacht.] Eigentlich wollten Maas und | |
Innenminister Thomas de Maiziere (CDU) direkt nach dem Urteil einen | |
Gesetzentwurf vorlegen. Das sieht jetzt anders aus. Während de Maiziere | |
weiterhin eine „rasche, kluge, verfassungsgemäße und mehrheitsfähige | |
Einigung“ fordert, blockt Maas weitere Schritte vorerst ab. Mit dem Urteil | |
sei die „Grundlage für die Vereinbarung im Koalitionsvertrag“ entfallen. | |
„Deutschland ist nicht mehr zu einer Umsetzung der Richtlinie | |
verpflichtet.“ Auch Strafzahlungen an die EU drohten nun nicht mehr. | |
8 Apr 2014 | |
## LINKS | |
[1] /EuGH-Urteil-zur-Vorratsdatenspeicherung/!136364/ | |
[2] /!5038/ | |
[3] http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ | |
[4] /1/archiv/archiv/ | |
[5] http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX | |
[6] /1/archiv/archiv/ | |
[7] /1/archiv/archiv/ | |
[8] /!7396/ | |
[9] /1/archiv/archiv/ | |
[10] /!ui=taz_akt_258895/ | |
[11] /1/archiv/archiv/ | |
[12] /1/archiv/archiv/ | |
[13] /!94371/ | |
[14] /Netzpolitik-im-Koalitionsvertrag/!128887/ | |
[15] /!129252/ | |
[16] /!130398/ | |
[17] /SPD-Politiker-ueber-Vorratsdatenspeicherung/!136377/ | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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