| # taz.de -- Wachsende Politikverdrossenheit: Arm, abgehängt, ohne Stimme | |
| > Arme Menschen gehen nicht mehr wählen. Das belegen zahlreiche Studien. | |
| > Parteien richten sich folglich an die bürgerliche Mitte. | |
| Bild: Eine Demokratie kann es sich nicht leisten, dass zunehmend Wahlzettel im … | |
| BERLIN/BREMEN taz | Die Meinungsforscher von Infratest dimap taten so, als | |
| seien die Nichtwähler bei der Bremen-Wahl eine Partei. Sie verteilten alle | |
| Wahlberechtigten neu und errechneten ein fürchterliches Ergebnis. Die | |
| Nichtwähler-Partei läge mit 50 Prozent weit vorn, weit dahinter käme die – | |
| offiziell stärkste – SPD mit 15,9 Prozent. Die klaren Wahlsieger waren also | |
| die Politikverdrossenen. | |
| Eigentlich ist die [1][Wahl der Bremer Bürgerschaft] irrelevant für die | |
| Bundespolitik. Der Stadtstaat, zu dem auch Bremerhaven gehört, ist zu | |
| klein, um Trends für die ganze Republik abzuleiten. Doch diese Wahl sandte | |
| eine dramatische Botschaft in die Berliner Parteizentralen: Die | |
| Wahlbeteiligung lag so niedrig wie in keinem anderen westdeutschen | |
| Bundesland seit Gründung der Bundesrepublik. | |
| Das bröckelnde Vertrauen der Bürger ist einer der Gründe, warum der | |
| bisherige Bürgermeister Jens Böhrnsen seinen Rücktritt erklärte. | |
| Welchen Rückhalt hat Politik noch, wenn nur noch die Hälfte der | |
| Wahlberechtigten ihr Votum abgibt? Wie interessiert man jene für die | |
| Demokratie, denen sie egal zu sein scheint? Oder ist das alles egal, weil | |
| das System ja einfach weiterfunktioniert? | |
| Wie unter dem Brennglas zeigt sich in Bremen ein gesellschaftlicher Trend, | |
| der bei allen Wahlen der vergangenen Jahre deutlich wurde. Es sind vor | |
| allem die Armen und Abgehängten, die an Wahlsonntagen zu Hause bleiben, | |
| während die wohlsituierte Mittel- und Oberschicht ihre Interessen | |
| artikuliert. Die Demokratie, mahnen Soziologen, drohe zur | |
| Exklusivveranstaltung für Wenige zu werden. | |
| Bremen illustriert diese These beispielhaft. In Bremerhaven, das deutlich | |
| ärmer als Bremen ist, lag die Wahlbeteiligung nur knapp über 40 Prozent. | |
| Der nördliche Stadtteil Blumenthal ist arm, die Industriebrache der einst | |
| weltgrößten, 2008 stillgelegten [2][Baumwollkämmerei, sein Wahrzeichen]. | |
| Ein Viertel der Bevölkerung hier bezieht Hartz IV. Dort lag die | |
| Wahlbeteiligung bei 31 Prozent. | |
| ## Villenbesitzer wählen FDP | |
| Gleichzeitig war die Quote falsch oder unvollständig angekreuzter | |
| Wahlzettel besonders hoch. Ganz anders im Villenviertel Bremen-Horn, in dem | |
| das mittlere Jahreseinkommen bei knapp 110.000 Euro liegt. Hier lag die | |
| Wahlbeteiligung bei 77 Prozent. Die CDU bekam in dieser Gegend fast 42 | |
| Prozent der Stimmen, die FDP sensationelle 22 Prozent. | |
| Die hohe Wahlbeteiligung der Oberschicht stabilisiert generell die | |
| Parteien, die ihre Interessen am besten schützen. Die Konservativen und die | |
| Liberalen profitieren also von der Abmeldung der Marginalisierten, während | |
| Parteien links der Mitte eher eine Klientel verlieren, die für sie | |
| ansprechbar wäre. Kleinparteien mit Neigung zu Extremen hingegen gewinnen | |
| durch schlechte Wahlbeteiligungen, weil ihre Klientel in der Regel voll | |
| mobilisiert ist – siehe Einzug der AfD in die Bürgerschaft. | |
| Es existieren stapelweise Studien, die den Rückzug der Unterprivilegierten | |
| belegen. Eine der wichtigsten ist die Untersuchung „Prekäre Wahlen“ der | |
| Bertelsmann Stiftung, bei der Sozialwissenschaftler das Wahlverhalten | |
| sozialer Milieus bei der Bundestagswahl 2013 untersuchten. | |
| ## Von der Demokratie ausgeschlossen | |
| Der Befund: „Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger Menschen | |
| gehen wählen“, schreiben die Autoren. Die Demokratie werde zu einer | |
| exklusiven Veranstaltung für Menschen aus den mittleren und oberen | |
| Sozialmilieus, während die sozial prekären Milieus deutlich | |
| unterrepräsentiert blieben. Ein Fazit: „Das Wahlergebnis der Bundestagswahl | |
| 2013 ist sozial nicht mehr repräsentativ.“ | |
| Vor allem Arbeitslosigkeit machen die Forscher als Indikator fürs | |
| Nichtwählen aus. Aber auch die Kaufkraft und der Bildungsstand | |
| beeinflussten das Wahlverhalten. Zudem driftet das Wahlverhalten der | |
| sozialen Milieus immer weiter auseinander: „Der Unterschied zwischen den | |
| Wahlkreisen mit der höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung hat sich seit | |
| der Bundestagswahl 1972 nahezu verdreifacht.“ | |
| Die Autoren stellen eine brisante Frage: „Wird Deutschland zu einer | |
| Demokratie der Besserverdienenden?“ Die Parteien richten sich an der | |
| bürgerlichen Mitte aus, die Nachfrage bestimmt das Angebot. SPD und Grüne | |
| geben gerade die Idee auf, von Reichen höhere Steuern zu fordern, um zum | |
| Beispiel bessere Schulen zu finanzieren. Sie verabschieden sich von | |
| Reformen, die armen Schichten Aufstiegschancen böten. Sie fürchten den | |
| Liebesentzug der Eliten. | |
| ## Ein Warnsignal | |
| Der Ehrgeiz der Parteien, das Phänomen zu bekämpfen, ist unterschiedlich | |
| groß. SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi gehört zu denen, die sich Sorgen | |
| machen. Die Bremer Wahlbeteiligung sei „ein Warnsignal“, sagte sie am | |
| Montag. Ein Grund sei, dass viele Kommentatoren geschrieben hätten, es | |
| bleibe sowieso alles, wie es ist. | |
| Aber die Parteien müssten auch überlegen, wie der Akt der Wahl erleichtert | |
| werden könne. Dazu hat sie schon im Dezember 2014 Vorschläge gemacht: eine | |
| ganze Wahlwoche, nicht nur ein Wahltag. Mobile Wahlkabinen an öffentlichen | |
| Orten wie Bahnhöfen. Fünf statt vier Jahre Zeit zwischen den | |
| Bundestagswahlen. Diese Ideen trugen ihr vor allem Spott und Häme ein. | |
| Entsprechend vorsichtig formuliert sie inzwischen. Ihre Vorschläge seien im | |
| Gespräch, sagte Fahimi. | |
| Einfach ist es nicht, die Bürger wieder für Politik zu begeistern. In | |
| Bremen hatten sie extra Wahlzettel in einfacher Sprache gedruckt, damit | |
| auch Ungebildete alles gut verstehen. Das Ergebnis ist bekannt. | |
| 11 May 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rot-Gruen-bleibt-in-Bremen/!159699/ | |
| [2] http://de.wikipedia.org/wiki/Bremer_Woll-K%C3%A4mmerei | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
| Ulrich Schulte | |
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