# taz.de -- Junges Theater im grauen Hochhaus: Schauspiel auf der Kegelbahn | |
> Das Junge Theater Bremerhaven zieht in das Gebäude der | |
> Kreishandwerkerschaft ein. Um es schon mal anzutesten, wird es mit | |
> Uraufführungen bespielt. | |
Bild: Auf der Kegelbahn der Handwerker verfällt Jennifer Sabel als Tochter ein… | |
BREMERHAVEN taz | Was für ein Klotz! Welche Chance? Am Treffpunkt | |
vielspurig kreuzender und querender Hauptverkehrsadern reckt sich eine | |
Bausünde aus den autogerechten Stadtplanungssünden Bremerhavens empor: das | |
Haus der Kreishandwerkerschaft, Bildungsstätte und Repräsentationsort für | |
400 Betriebe des ehemaligen Landkreises Wesermünde. | |
1972 wurden der 16-etagige Zweckbau hochgezogen, nachkriegsmodern Grau in | |
Grau designt und mit Waschbetonplatten verziert. In den oberen zwölf Etagen | |
sind alle 40 Eigentumswohnungen angesichts des tollen Nordseeausblicks | |
ständig ausgebucht. Darunter aber herrscht seit Längerem und in zunehmend | |
größerem Umfang: Menschenleere. | |
Wenigstens diese Nutzungssünde wird jetzt gesühnt - 500 Quadratmeter des | |
Erdgeschosses darf das Stadttheater mieten. Ab Mitte September wird dort | |
die Kinder- und Jugendtheatersparte einziehen. Derzeit werden die Räume | |
theatral angetestet - und Supersünden als traditionelle Untugenden in einem | |
Parcours szenischer Uraufführungen aktualisiert, nämlich als „Praktiken | |
eines beschädigten Lebens, als Anleitung zum Unglücklichsein“ gezeigt, so | |
das dramaturgische Konzept. | |
Als Katalog der menschlichen Hauptverfehlungen haben die sieben Todsünden | |
die christliche Morallehre über Jahrhunderte bestimmt. Klar, dass unsere | |
Schaubühnen als moralische Anstalten versuchen, die Top sieben der Laster | |
dramatisch darzustellen. Bremerhaven bat Autoren um Kurztexte, wie | |
traditionellen Untugenden heute als Allzweckwaffen im alltäglichen | |
Geschlechter- oder Familienkrieg genutzt werden und als Stachel | |
funktionieren, mit dem man sich selbst piesackt, nachdem man wieder mal an | |
seinen Ansprüchen gescheitert ist. Heute sündigt man nicht mehr gegen Gott, | |
sondern gegen andere. Oder sich. | |
Lisa Danulat, 2014 Vechtaer Artist in Residence, nahm sich in „Ja! Nein!“ | |
des Themas Völlerei an, lässt eine Kundin im Supermarkt vor lauter medial | |
angefütterter Bedenkenträgerei gar nicht zum Einkaufen kommen, sie wird | |
verhungern müssen, weil es nichts ernährungspolitisch Korrektes zu erwerben | |
gibt. Gespielt wird im Festsaal der Handwerkerschaft. | |
Für „.docxxx“ befragte die Dramatikerin Sexarbeiterinnen aus den | |
Schaufenstern der Bremerhavener Lessingstraße zur Wollust, wobei es weniger | |
um ausschweifende Beischlafpraktiken, eher um sozialarbeiterische | |
Kuschelstunden, Geschlechterbilder für die eigene Identität und den Umgang | |
mit dem eigenen Körper geht. Gespielt wird in der Bierkneipe des Hauses, | |
die im kitschseelig-musealen Originalzustand verspinnwebt. | |
Höhepunkt ist Thomas Köcks Monolog „Splitter“: Die Tochter eines Opfers d… | |
NSU-Morde verfällt in ohnmächtigem Zorn ins Fantasieren über die | |
verlöschenden Bilder im durchschossen Kopf ihres Vaters. Gespielt wird in | |
der Kegelbahn der Handwerkerschaft. | |
Auch sind die Zuschauer zu einer von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel | |
dialogisierten Grillparty bei Rassisten eingeladen und mäandern mit | |
Elfriede Jelineks „Ikarus“ durchs Themenfeld „Hochmut“. Schauspielerisch | |
äußerst intensiv, vom Text her äußerst ärgerlich: John von Düffels Versuc… | |
einem Junkie Trägheit des Herzens vorzuwerfen, weil er auf das Umgangsrecht | |
mit seiner Tochter nicht verzichten will. Immerhin ist der Vorwurf im | |
authentisch zynischen Jugendamtsmitarbeitertonfall formuliert - also selbst | |
ein Vorwurf. Gespielt wird in einer fensterlosen Abstellkammer der | |
Handwerkerschaft. | |
Regisseur Tim Egloff mischt inszenatorisch perfekt Profanes, Pathetisches | |
und Politisches und legt die Szenen zumeist ambivalent an. Schließlich | |
funktioniert das Leben nicht ohne Sünde, das Heilsame braucht das Unheil | |
als fördernde Kraft. Wollust macht doch auch kreativ, Neid erfolgreich, | |
Hochmut fleißig. | |
Diese Räumen werden am 20. September als Junges Theater Bremerhaven (JUB) | |
eröffnet. Es war unter dem Namen JUP seit 2011 im „Pferdestall“ | |
untergebracht, hafennah gelegen deuteten Tränken und Tröge auf die einstige | |
Nutzung des 1905 errichteten Gebäudes hin. In den ersten vier Jahren hat | |
sich das Junge Theater etabliert, dank eines Kooperationsvertrags sind mit | |
sieben Grund- und 15 Oberschulen/Gymnasien mehr als 70 Prozent aller | |
Bremerhavener Schulen Partner des Theaters, hinzu kommen vier aus dem | |
Umland. So spielt es inzwischen über 100 Vorstellungen für 6.500 Besucher | |
pro Saison. | |
Trotzdem ist es nicht todsündig dem Hochmut verfallen - sondern hat sich | |
still und leise den nächsten Entwicklungsschritt verdient: Es bekommt als | |
eigene Sparte ein eigenes Haus. Ein charmefrei turnhalliger Saal im | |
Zentrum, einst für Sitzungen, Bälle, Infoveranstaltungen genutzt. Da alles | |
dort bisher komplett verschont ist von Aufhübschungen, die dem Geschmack | |
der 70er-Jahre-Moderne widersprechen, steht einige Arbeit an. Licht-, Ton-, | |
Tribünenanlagen fehlen zudem komplett. | |
Mindestens 30.000 Euro versucht das Stadttheater erstmal mittels | |
Förderverein einzuwerben für den Umbau. Miete und Betriebskostenzuschuss | |
soll mit JUB-Taler finanziert werden: „Mit einem Zuschlag auf alle | |
Vollpreistickets für Oper, Ballett und Schauspiel könne wir jährlich 95.000 | |
Euro einnehmen“, hat die Betriebsdirektorin errechnet. Strukturell aber | |
soll erst mal alles bleiben wie es war. | |
Die Vorfreude ist groß. „Pro Vorstellung passen mehr Zuschauer in den Saal | |
als zuvor, keine sichtbehindernden Säulen mehr, wir können häufiger | |
spielen, da wir den Ort nicht mehr mit anderen Mietern teilen müssen, und | |
haben endlich auch Proben- und Lagerraum“, schwärmt Leiterin Tanja | |
Springer. | |
Bis 5. Juli, jeweils 19.30 Uhr | |
24 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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