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# taz.de -- Wahltheater: Sieben für Bremen
> Nach Jens Böhrnsens Abgang hat Jan Böhmermann in Bremen die Macht
> ergriffen, die SPD sucht nach einem Senats-Chef, Journalisten wollen
> Show. Die taz weiß, wie alle zufrieden werden.
Bild: Lauter Top-KandidatInnen: Das Bremer Rathaus wird nicht leer bleiben
## Ein Mann mit gutem Programm
Jetzt hat Jan Böhmermann die [1][Macht ergriffen] in Bremen. Gleich Montag,
kurz nach Jens Böhrnsens Abschied, hat er sein Volk über diesen Schritt
informiert - per Videobotschaft aus Köln. Böhmermann nämlich ist aus
Sicherheitsgründen, so wie die wichtigsten Dokumente der Bremer Historie,
in Köln untergebracht - jene im Stadtarchiv, dieser im Bunker unterm Rhein.
Für seinen Schritt beruft er sich auf Artikel 114 a der Landesverfassung:
Präsident des Senats wird, wer im Telefonbuch über dem alten steht - indes
nur "bei Totalausfall eines Bremer Bürgermeisters".
Ob das auf Böhrnsen zutrifft - nein, die juristische Klärung des
Sachverhalts hat er nicht abgewartet, so dass fraglich bleibt, ob sein
Vorgehen demokratisch war. Indes, Bremen braucht zupackende Typen wie den
Showmaster, dessen Plan zur De-Gentrifizierung des Stadtteils
"[2][Viertel]" im Wahlkampf ihm mehr Aufsehen bescherte, als alle Parteien
zusammen bekamen. Schon hat er - durch Erlass eines Armutsverbots - Bremens
soziale Spaltung überwunden: Böhmermann, der als Staatsform an einer
Diktatur light festhält, scheint der rechte Mann im rechten Moment. Und der
Ort? In der Internet-Zeit kein Problem. BES
## Mit dem Pathos des Opfers
Wenn die Wahl in Bremen eines zeigt, dann dies: Menschen mit
Migrationshintergrund werden besonders oft nach vorne gewählt, auch wenn
die eigene Partei sie hinten auf der Liste versteckt hat. Und nicht nur das
spricht für Murat Kurnaz. Natürlich denkst du: Ist das der Show-Typ mit dem
gewissen "Bauer sucht Frau"-Appeal, den Bremen jetzt so dringend braucht?
Nee, natürlich nicht, aber die Sache ist ja auch viel raffinierter: Kurnaz
hat das Pathos des Opfers. Und das lässt sich gewinnbringend einsetzen,
gerade bei den jetzt anstehenden Bund-Länder-Finanzverhandlungen. Das
rettet Bremen, besser als jede Gürtel-noch-enger-schnallen-Politik.
Wir haben ja noch was gut, in Berlin - schließlich haben die Geheimdienste
und Minister Frank-Walter Steinmeier lange dafür gesorgt, dass unser
unschuldiger Kurnaz immer weiter in Guantanamo gefoltert wurde. Bremens
moralisches Gewicht lässt sich dabei noch weiter steigern: Durch Kurnaz
kommt es zur Versöhnung in der großen Koalition - mit seinem Feind von
einst, dem damaligen und künftigen Innensenator Thomas Röwekamp (CDU). Auch
da gilt: Das passt nur auf den ersten Blick so gar nicht zusammen. Denn wer
verkörpert das von der SPD ausgerufene Wahl-Motto "Miteinander" besser als
das Team Kurnaz & Röwekamp? MNZ
## Seid erfunden, Millionen!
Die Sehnsucht nach neuen Darstellern in der Politik ist ja vor allem eine
altgedienter Politikredakteure. Also jenen, die noch wissen, wie es war,
als der Bürgermeister Henning Scherf hieß und überall Omas knutschte. Der
ist ein großer Schauspieler, zudem umso beliebter, je weiter man sich von
Bremen entfernt. Er kann sich gut Wahrheiten ausdenken und mit völlig frei
erfundenen Millionen den Haushalt retten. Hat nicht auch die Kanzlerin
gesagt, Bremens Zeiten seien rosiger gewesen, als hier nicht nur gespart,
sondern ordentlich investiert wurde, mit Hilfe der CDU? Eben! Und wenn
einer die große Koalition anführen kann, obwohl er vorher klar für Rot-Grün
einstand, ist das Scherf. Keiner von denen, die heute Politik spielen,
reicht ihm das Wasser. Ganz klar: Früher war mehr Lametta. Wir wollen
unseren alten Kaiser, äh, quatsch, Henning Scherf wiederhaben! MNZ
## Er ist jetzt immer da, wo wir nicht sind
Die besten Zeiten von "Element of Crime" sind vorbei, die Geschichte von
Herrn Lehmann ist auserzählt und nächste Woche ist Sven Regener eh in
Bremen. Der ist gut vernetzt, aufgewachsen, wo SPD & Wahlbeteiligung
schwächeln und als nachdenklicher Pop-Literat mit Hornbrille auch im
urbanen Ökospießermilieu bestens aufgehoben. Zumal er der taz sagte: "Ich
bin kompetent, was das Spielplatzthema angeht." Ohne ihn wäre Delmenhorst
nicht das, was es ist. Jenen, die behaupten: Den kümmert nur das
Urheberrecht und die Piratenpartei, sei gesagt: Der war mit 15 schon im
Spielmannszug des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands. Und der brachte
mit Winfried Kretschmann schon ganz andere Ministerpräsidenten hervor. MNZ
## Die rettende Stimme
Wenn eine Kölner Schauspielerinnendarstellerin seit Jahrzehnten die
Ermittlerin im - von Böhmermann zum Glück jetzt verbotenen -
Bremen-"Tatort" geben darf, kann auch eine frischgebackene Berliner
"Tatort"-Kommissarin die Bremer Bürgermeisterin spielen. Zumal, wenn sie in
Bremen geboren ist, so wie Meret Becker.
Die ist, wenn in dem Amt Show-Qualitäten entscheidend sind, zweifellos
erste Wahl. Becker, die mit Avantgarde-Größen wie Blixa Bargeld und
Regie-Guru [3][Herbert Fritzsch] gearbeitet hat, kann das intellektuelle
Milieu beeindrucken. Hat aber auch in massenkompatiblen
Unterhaltungsproduktionen mitgewirkt - bis runter zur
Til-Schweiger-Komödie, und Berührungsängste mit dem für FDP-WählerInnen
wichtigen [4][Fachblatt Gala] sind ihr fremd. Zum Glück, denn eine
Bürgermeisterin-Darstellerin darf sich für nix zu fein sein. Vor allem aber
kann Meret Becker in ihre extrem wandlungsfähige Stimme einen panischen
Willen zum Überleben legen - wie jeder weiß, der die "[5][Resident
Evil]"-Filme auf Deutsch kennt.
Wer sollte Bremen würdiger im Kampf gegen die Zombies des Stabilitätsrats
auf der einen, gegen "Red Queen" Kristina Vogt (Die Linke) auf der anderen
Seite vertreten als die deutsche Stimme von Alice - solange [6][Milla
Jovovich] nicht zu kriegen ist? BES
## Staatstragend schon aufm Platz
Gegen Marco Bode kann in Bremen niemand was haben (nicht mal die AfD, der
Mann war immerhin mal Nationalspieler). Wahrscheinlich würde ihn die
Bürgerschaft einstimmig zum Präsidenten des Senats wählen. Vom Profifußball
hat er sich nach der aktiven Karriere lange fern gehalten - viele vermuten,
weil er zu klug ist. Nun ist er Aufsichtsratschef bei Werder Bremen, also
eine Art Politiker, bei einem Club, dem Haushaltsnotlagen mindestens so
vertraut sind wie dem Stadtstaat selbst. In dieser Eigenschaft hat er
neulich im taz Salon gesagt, er könne nicht dafür garantieren, dass Werder
"den Giftschrank" geschlossen lasse. Das klang schon nach einer Bewerbung
fürs höchste Amt.
Politisch hat er immer sorgsam Äquidistanz zu SPD und Grünen gewahrt. Mit
Vor-Vorgänger Henning Scherf hat er vor Jahren die Integrationsparty "Nacht
der Jugend" bespielt, heute teilt er mit ihm das Ehrenamt des Vorlesers.
Sogar auf dem Fußballplatz hatte Bodes Spielweise etwas Präsidiales - immer
fair, mit Weitblick, nie überhastet. Vielleicht schon wieder etwas zu viel
Böhrnsen-Faktor. JANK
## Frischer Wind in alte Ärsche
Die Bremer Semiotikerin Reyhan Sahin ist eine der hoffnungsvollsten
Wissenschaftlerinnen Deutschlands. Die politische Künstlerin und
Selfmade-Unternehmerin war auch als Journalistin tätig, bis Radio Bremen
sie - dumm, aber wahr - rausschmiss. Als Verfechterin der Empowerment-Idee
ist Sahin die Richtige, um, wie schon der Wissenschaft, (taz vom 23. 4.),
nun dem Land Bremen und seiner männerlastigen SPD "[7][frischen Wind in den
Arsch]" zu pusten. Und mal ehrlich: Wer hätte es nötiger als die?
Die Erfinderin und Darstellerin der Kunstfigur "Lady Bitch Ray" gäbe in
einer großen Koalition Elisabeth Motschmann (CDU) Gelegenheit, ihr im
Wahlkampf behauptetes Selbstbild als moderne Großstadtfrau zu überprüfen,
den Grünen böge sie bei, dass der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt, gerade
wenn der eine Fotze ist. Sie spricht fließend und unmissverständlich
Deutsch, Türkisch, Proll, Französisch, Englisch sowie Akademisch und vermag
bürgermeisterInnenhaft zwischen Codes zu switchen: Wird ihr Bitchsm-Style
sensationalistisch missgedeutet, geht sie hin und [8][analysiert] ihn
selbst - trocken wie Haushaltspolitik. Kann sie also auch. In einer guten
Welt triumphiert am Schluss die Heldin. Und Bremen ist eine gute Welt. Und
am Ende ist es auch. BES
12 May 2015
## LINKS
[1] http://www.youtube.com/watch?v=RiAF1w-mSek
[2] http://www.youtube.com/watch?v=C39MQbuhTpw
[3] http://www.hamlet-x.de/
[4] http://www.gala.de/lifestyle/kultur/tv/meret-becker-deshalb-wollte-sie-die-…
[5] http://www.youtube.com/watch?v=AHk5OmxKhNQ
[6] http://www.millaj.com/
[7] /!158639/
[8] http://lecture2go.uni-hamburg.de/veranstaltungen/-/v/16589
## AUTOREN
Jan Kahlcke
Benno Schirrmeister
Jan Zier
## TAGS
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