Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- SPD-Generalsekretärin über Wahlen: „Die Demokratie ist sozial g…
> Wahlen drohen zur Exklusivveranstaltung für die Mittel- und Oberschicht
> zu werden, sagt SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Politische Parteien
> müssten eingreifen.
Bild: „Wir müssen raus ins Leben“: SPD-Chef Gabriel auf der Kirmes
taz: Frau Fahimi, seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung. Besorgt Sie das?
Yasmin Fahimi: Die wachsende Politikverdrossenheit sehe ich schon als
Gefahr für unsere Demokratie. Nehmen Sie nur die Landtagswahl in Bremen:
Wenn gerade mal die Hälfte der Wahlbeteiligten noch zur Wahl geht, ist das
ein Alarmsignal.
Warum? Parlamente funktionieren doch auch, wenn nur wenige gewählt haben.
Eine offene Gesellschaft muss von möglichst vielen Bürgern akzeptiert
werden, das festigt sie nach innen und außen. Denn Demokratie braucht
Legitimation. In Bremen hat jeder Zweite entschieden: Der Staat
interessiert mich nicht. Aber der Staat regelt nun mal viele Aspekte
unseres Zusammenlebens.
Studien belegen, dass gerade arme und bildungsferne Menschen nicht wählen.
Sind Wahlen überhaupt noch repräsentativ?
In der Tat gibt es einen Zusammenhang: Je prekärer das Milieu, desto
niedriger die Wahlbeteiligung. Wahlergebnisse liefern deshalb längst kein
repräsentatives Abbild der Gesellschaft mehr. In Bremen gingen die zehn
Prozent der Bürger mit den höchsten Haushaltseinkommen doppelt so häufig
zur Wahl wie die zehn Prozent mit den niedrigsten Einkommen.
Warum wählen abgehängte Milieus nicht mehr?
Viele Menschen fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie haben
die Hoffnung verloren, dass Politik ihr Leben spürbar verbessern könnte.
Sie fragen sich, warum sie sich an der Demokratie noch beteiligen sollen.
Was bedeutet das?
Wahlen drohen zur Exklusivveranstaltung für die Mittel- und Oberschicht zu
werden. In Deutschland können wir diesen Trend bereits beobachten. Deshalb
sehe ich alle Parteien in der Pflicht, etwas dagegen zu unternehmen.
Sie haben bereits mit Generalsekretären der anderen Parteien über Rezepte
gesprochen. Welche Vorschläge machen Sie?
Als Generalsekretärin der SPD bin ich überzeugt, dass wir mehr Elemente
direkter Demokratie brauchen. Sie zeigen den Menschen, dass sie Politik
unmittelbar beeinflussen können. Und wir müssen Politik wieder stärker am
Alltag der Menschen andocken. Zwei Beispiele: Es gibt Jugendparlamente auf
kommunaler Ebene, in denen junge Leute Entscheidungen treffen. Und es gibt
in vielen Schulen Juniorwahlen, die parallel zu Bundestagswahlen
durchgeführt werden.
Die Jugendlichen dürfen ihren Schuldirektor wählen?
(lacht) Leider nicht. Die Juniorwahlen spielen die Bundestagswahl nach. Die
Schülerinnen und Schüler engagieren sich in Parteien, wählen
Spitzenkandidaten, es gibt Live-Debatten im Klassenzimmer. Am Schluss
wählen alle Schüler, das Ergebnis wird verglichen mit dem Ausgang der
Bundestagswahl.
Was bringt diese Simulation?
Einerseits merken Jugendliche sehr schnell, dass Politik verdammt spannend
sein kann. Und sie politisieren sich und ihre Eltern. Plötzlich wird beim
Abendbrot zu Hause über Politik diskutiert. Untersuchungen haben gezeigt,
dass die Wahlbeteiligung bei den Familien, deren Kinder an solchen
Projekten teilnahmen, deutlich höher lag.
Sie haben vor einiger Zeit vorgeschlagen, Wahlen an anderen Orten als im
Wahllokal möglich zu machen...
Ich bin dafür, dass wir den Wahlzeitraum ausweiten. Statt nur am Sonntag
könnten die Bürger am ganzen Wochenende wählen, von Freitag bis Sonntag.
Und ich finde, wir sollten Wahlen stärker ins Alltagsleben integrieren.
Wählen muss wieder eine Selbstverständlichkeit werden. Da hilft es, seine
Stimme unkompliziert in mobilen Wahlkabinen in Fußgängerzonen oder an
Bahnhöfen abgeben zu können.
Für die Vorschläge haben Sie damals viel Häme geerntet. Warum eigentlich?
Einige sparten mit Häme nicht, von vielen anderen erhielt ich jede Menge
Zuspruch.
CSU-Generalsekretär Scheuer lästerte, Sie hielten die Wähler für „bequem
und faul“.
Ach, der Herr Scheuer. Mit meinen Vorschlägen die Demokratie zu stärken,
habe ich jedenfalls mehr Aufmerksamkeit für das Thema geweckt als alle
wohlfeilen Appelle an Wahlsonntagen zuvor.
Ich habe eine These, warum Sie aus der Union so scharf kritisiert wurden.
Oh, jetzt wird es interessant.
Die niedrige Wahlbeteiligung stabilisiert die Mehrheiten der Union.
Vielleicht wollen CDU und CSU das gar nicht ändern?
Nein, denn so zynisch blickt selbst die Union nicht auf die Demokratie. Ich
bin überzeugt, dass alle Demokraten ein Interesse daran haben, dass sich
möglichst viele an Wahlen beteiligen.
In Bremer Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit lag die Wahlbeteiligung
bei 31 Prozent. Im reichen Villenviertel Bremen-Horn lag sie bei 77
Prozent. CDU und FDP schafften hier Traumergebnisse.
Es ist richtig: Unsere Demokratie ist sozial gespalten. Gut gestellte
Milieus sind in Wahlergebnissen überrepräsentiert. Davon profitieren eher
Parteien des konservativen Spektrums, während die SPD oder die Linkspartei
darunter leiden. Traurig für uns, aber wahr.
Angela Merkel verdankt ihre Kanzlerschaft auch einer Strategie namens
„asymmetrische Demobilisierung“.
Wenn Sie das sagen.
Die CDU versucht Wähler links der Mitte von der Urne fernzuhalten, indem
sie Themen wie den Mindestlohn kopiert. Warum sollte sie hohe
Wahlbeteiligungen fördern?
Umso mehr freue ich mich, dass CDU und CSU sich jetzt an der
parteiübergreifenden Initiative beteiligen wollen. Mir ist wichtig, dass
wir nicht nur reden, sondern auch zu guten Ergebnissen kommen. Ich bin sehr
dafür, Pilotprojekte in einzelnen Bundesländern zu testen.
CDU-Generalsekretär Tauber sagt, das Nichtwählen könne Ausdruck der
Zufriedenheit mit einer Regierung sein. Stimmen Sie zu?
Ganz und gar nicht. Die Ergebnisse der Studien belegen: Frustrierte
Menschen bleiben zu Hause. Sie versprechen sich nichts mehr von Parteien
und sind resigniert. Das ist ja gerade die Gefahr. Nur Wohlhabende können
sich einen schwachen Staat leisten, weil sie ihre Kinder auf Privatschule
schicken und viele Angelegenheit mit Geld regeln können. Arme und Schwache
brauchen hingegen einen starken, einen funktionierenden Staat. Leider
entziehen gerade ausgerechnet die, die ein Interesse am Staat haben
müssten, der Demokratie ihr Vertrauen.
Was kann die SPD gegen Merkels Demobilisierung tun?
Wir müssen deutlich machen, wo die Unterschiede liegen zwischen SPD und
Union. Wir müssen eine Politik anbieten, die die Menschen direkt anspricht.
Leute sorgen sich um ihre kranken Eltern, um die Schule ihrer Kinder, um
ihren Arbeitsplatz oder ihren Kiez. Da müssen wir als SPD wieder genauer
hinschauen. Wir müssen diese Gruppen gezielt ansprechen, etwa indem wir
unsere Aktivisten auf Spielplätze schicken oder junge Leute zu Azubis in
den Betrieb. Wir müssen raus ins Leben – mit dem SPD-Bus aufs
Nachbarschaftsfest, mit der Gulaschkanone vor den Betrieb. Das
Ortsvereinstreffen unter dem Hirschgeweih allein reicht nicht mehr.
Sind eigentlich arme und abgehängte Menschen eine Zielgruppe für die SPD?
Natürlich, die SPD ist eine Volkspartei. Uns geht es um den inneren
Zusammenhalt der Gesellschaft und um Solidarität. Wir versuchen, den Trend
der wachsenden sozialen Spaltung zu stoppen.
Hat die SPD mitgeholfen, Menschen in die Demokratiemüdigkeit zu treiben?
Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.
Die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen stehen für soziale Kälte, für das
Gegenteil also von dem, wofür die SPD historisch warb. Ist das korrekt?
Vieles an der Agenda 2010 war richtig. Die damaligen Sozialhilfeempfänger
standen schlechter da als heutige Hartz IV-Empfänger, das sind immerhin 2,9
Millionen Menschen gewesen.1 Aber richtig ist auch, dass die Reformen
Fehler hatten. Wir haben zum Beispiel mit dem Arbeitslosengeld II die
Lebensarbeitsleistung von Menschen nicht ausreichend genug berücksichtigt.
Diese Reformen haben Ängste in der arbeitenden Mitte erzeugt, auch wenn
viele dort davon gar nicht direkt betroffen waren.
Als Gerhard Schröder 1998 das Kanzleramt erkämpfte, lag die Wahlbeteiligung
bei 82,2 Prozent. Seitdem schrumpft sie, ähnlich sieht es bei
SPD-Ergebnissen aus. Ist das Zufall?
Die SPD hat seit Schröder mit einigen Regierungsprojekten ihre eigenen
Wähler überproportional gefordert, viele auch frustriert oder verschreckt.
Viele haben uns übel genommen, dass wir die Rente mit 67 mitgetragen haben.
Solche Wähler müssen wir jetzt mühsam zurückgewinnen.
20 Jul 2015
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
SPD
Wahl in Bremen
Yasmin Fahimi
Studie
Schwerpunkt Überwachung
Nichtwähler
Arbeitslosigkeit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Studie zu Nichtwählern: Wer arm ist, bleibt zuhause
Typische Nichtwähler stammen fast ausschließlich aus Milieus der
Unterschicht. Das zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.
SPD und Vorratsdatenspeicherung: Ein Opfer für Sigmar Gabriel
Der kommende SPD-Konvent diskutiert die geplante Vorratsdatenspeicherung.
Die Partei lässt sich von Gabriels Alleingang demütigen.
Orte der sozialen Spaltung: Wo die Nichtwähler wohnen
Obwohl die Lage im ehemaligen Brennpunkt Tenever stetig besser wird, ist
die Wahlbeteiligung bei der Wahl auf ein Rekord-Tief gesunken. Ein Besuch
vor Ort.
Wachsende Politikverdrossenheit: Arm, abgehängt, ohne Stimme
Arme Menschen gehen nicht mehr wählen. Das belegen zahlreiche Studien.
Parteien richten sich folglich an die bürgerliche Mitte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.