Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Orte der sozialen Spaltung: Wo die Nichtwähler wohnen
> Obwohl die Lage im ehemaligen Brennpunkt Tenever stetig besser wird, ist
> die Wahlbeteiligung bei der Wahl auf ein Rekord-Tief gesunken. Ein Besuch
> vor Ort.
Bild: Wenn Politiker hierher kommen, dann um sich mal am "Brennpunkt" sehen zu …
BREMEN taz | Ein grell-oranger Zettel ist in Tenever der letzte sichtbare
Hinweis auf die Wahl. „Hier geht es zum Wahllokal“, steht da – darunter e…
Wort mit 17 Ausrufezeichen: „Hingehen“. Viel gebracht hat’s nicht: Mit 31…
Prozent hat das Hochhausquartier am Stadtrand die niedrigste Beteiligung in
Bremen.
Die Bertelsmann-Stiftung hat bereits nach der [1][Bundestagswahl 2013]
konstatiert: Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger wird
gewählt. In Tenever sind 21,3 Prozent der Menschen arbeitslos, fast 70
Prozent haben Migrationshintergrund. Die seit Freitag vorliegende
[2][Anschlussuntersuchung] zur Bremen-Wahl bestätigt dieses Bild – die
Schere hat sich sogar noch weiter geöffnet. „Deutschland ist längst eine
sozial gespaltene Demokratie“, sagt Robert Vehrkamp, der die Studie
durchgeführt hat.
In Tenever ist die Situation sogar noch drastischer als die Zahlen angeben.
Denn viele MigrantInnen dürfen gar nicht wählen und tauchen darum auch
nicht in der Statistik auf. Einer, der darf, aber nicht will, ist Abdin Öz:
„Die falsche Politik will ich nicht mit meiner Stimme legitimieren“, sagt
er. Er meint Rüstungsexporte und Kriege. Aus Sicht der Forscher ist er als
politisch motivierter Nichtwähler allerdings eine Seltenheit in dieser
Gegend.
„Ich mache da nicht wieder mit“, sagt eine ältere Frau an der
Bushaltestelle, „hier kommt ja nichts mehr.“ Früher habe sie „immer
pünktlich gewählt“, sagt sie. Beim letzten Mal: Helmut Kohl. „Mir ist das
unwichtig“, sagt ein junger Mann, der zum Rauchen vors Haus gegangen ist.
Auch von seinen Freunden sei keiner gegangen, sagt er. In der Schule hätten
sie noch darüber gesprochen. Eigentlich wollte er auch. Am Wahlsonntag sei
er dann aber doch zu Hause geblieben. „Keine Ahnung weshalb.“ Im gut
situierten Schwachhausen dagegen kam es in Stoßzeiten zu Staus an den
Wahllokalen. Familien spazierten geschlossen zur Wahl, dann weiter ins
Café. Wer in Tenever zur Wahl gegangen ist, war ein Sonderling.
Dabei gab es durchaus Versuche, die Menschen aus den Hochhäusern an die
Urne zu bringen. Solche wie den orangen Wegweiser mit den Ausrufezeichen.
Der stammt aus dem Büro von Quartiersmanager Jörn Hermening. „Ja, die Zahl
ist sehr beunruhigend“, sagt er. Die eigentlichen Probleme aber seien hier
Arbeitslosigkeit und Bildung. Dass die Abgehängten nicht in Scharen zur
Wahl rennen, wundere ihn nicht. Trotzdem war das Schild nicht der einzige
Versuch. „Wir haben ständig mit den Leuten darüber gesprochen, warum wählen
wichtig ist“, sagt Hermening.
Auch die Parteien haben es schon versucht: Bremen Bürgermeister Jens
Böhrnsen (SPD) war mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zu einem
seiner seltenen Wahlkampf-Auftritte ausgerechnet hier in Tenever. Und die
im Bezirk sogar überdurchschnittlich erfolgreiche Linke hat mit Gregor Gysi
ihren größten Promi gleich um die Ecke der Hochhäuser antreten lassen.
„Trotzdem“, sagt Silvia Suchopar vom Bewohnertreff, „haben die Leute keine
Idee, wen sie wählen sollten.“ Wenn mal ein Politiker nach Tenever käme,
dann doch nicht, um mit den Menschen zu sprechen – sondern um sich mal am
Brennpunkt blicken zu lassen.
Dabei hat sich im Quartier auch finanziell viel getan: 80 Millionen Euro
sind in die Sanierung des ehemaligen Problemviertels geflossen. Hunderte
Projekte hat das Quartiersmanagement auf den Weg gebracht, für mehr als
250.000 Euro im Jahr. Das alles demokratisch niedrigschwellig unter enger
Einbeziehung der BewohnerInnen.
Über die selbst verwalteten Budgets ist politische Macht nach unten
abgegeben und dort erfolgreich genutzt worden: im Mütterzentrum zum
Beispiel, einem viel genutzten sozialen Begegnungsraum. Oder in den
Stadtteil-Opern, die Kammerphilharmornie und Gesamtschule-Ost in
Kooperation aufführen. Beide Projekte wurden erst kurz vor der Wahl mit dem
Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon ausgezeichnet. All das ist zwar
hoch gefördert, im Kern aber doch selbst gemacht. Vielleicht liegt es auch
daran, dass kaum jemand hier diese Erfolgsgeschichte mit dem Rathaus und
den Wahlen in Verbindung bringt.
17 May 2015
## LINKS
[1] http://www.wahlbeteiligung2013.de/
[2] http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/mai/na…
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Nichtwähler
Brennpunkt
Bürgerschaftswahl 2015
Wahlbeteiligung
Nichtwähler
Hochhaus
Studie
SPD
Bremische Bürgerschaft
Bremen
Bremen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nichtwähler*innen: Ohne Stimme
Rund 12 Millionen Erwachsene und rund 14 Millionen Kinder und Jugendliche,
die hier leben, dürfen nicht wählen. Mit einigen hat die taz gesprochen.
Studentisches Hochhauskonzept: Die Angst vorm hohen Haus
Architekturstudierende aus Kassel stellen ein Hochhauskonzept für Bremen
vor. Ihre Vorschläge sind eine Wohltat für hiesige Debatte.
Studie zu Nichtwählern: Wer arm ist, bleibt zuhause
Typische Nichtwähler stammen fast ausschließlich aus Milieus der
Unterschicht. Das zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.
SPD-Generalsekretärin über Wahlen: „Die Demokratie ist sozial gespalten“
Wahlen drohen zur Exklusivveranstaltung für die Mittel- und Oberschicht zu
werden, sagt SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Politische Parteien
müssten eingreifen.
Wahlrechtsdebatte neu entflammt: Schwinden der Wähler
Seit nur jeder Zweite am 10. Mai wählte, wird intern wieder ums Wahlrecht
gestritten - im Bremer taz- Salon jetzt auch öffentlich.
Paradoxien des Bremer Wahlsystems: Mehr oder weniger Demokratie
Die Wähler von Thomas vom Bruchs (CDU) haben ihn aus dem Bremer Parlament
gevotet: Für Wahlrechtsforscher ein verfassungswidriger Systemfehler.
SPD nach der Wahl in Bremen: Sieling soll Bürgermeister werden
Nach dem Rücktritt des bisherigen Bürgermeisters Böhrnsen präsentiert die
Bremer SPD die Nachfolge: den Finanzpolitiker Carsten Sieling.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.