# taz.de -- Nichtwähler*innen: Ohne Stimme | |
> Rund 12 Millionen Erwachsene und rund 14 Millionen Kinder und | |
> Jugendliche, die hier leben, dürfen nicht wählen. Mit einigen hat die taz | |
> gesprochen. | |
Bild: Bundestagswahl: Viele Menschen sind davon ausgeschlossen | |
## Nurefsan Öztürk will Klimaschutz | |
Meine Familie hatte in der Türkei Probleme aus politischen Gründen. Mein | |
Vater hat dort als Polizist mit hohem Rang gearbeitet, auf kommunaler Ebene | |
konnte er einiges entscheiden. Aber er wollte nicht mit der Regierung | |
zusammenarbeiten. Denn die will Entscheidungen nur zu ihrem eigenen Vorteil | |
erzwingen, nicht für das Volk oder den Staat. | |
Obwohl mein Vater unschuldig ist, kam er für zweieinhalb Jahre ins | |
Gefängnis. So ist es in der Türkei, wenn man nicht wie die Regierung denkt. | |
So vielen Familien geht es ähnlich wie uns. Unter den vielen unschuldig | |
Inhaftierten, sind auch Frauen, Kinder, Babys und sogar schwerkranke | |
Menschen. | |
Vor drei Jahren sind wir nach Deutschland gekommen, da war ich 25. Am Ende | |
haben wir uns wegen meiner Mutter dafür entschieden. Sie wollte nicht noch | |
einmal erleben, was meinem Vater passiert ist. Ich habe nach meiner Ankunft | |
erstmal Deutsch gelernt und dann ein neues Studium angefangen. In der | |
Türkei hatte ich Physiotherapie und Rehabilitation studiert. Hier in | |
Freiburg habe ich im vergangenen Herbst ein duales Studium in | |
Wirtschaftsinformatik begonnen. | |
Mein Ausbildungsbetrieb ist ein Energieunternehmen. Bis 2035 wollen wir | |
klimaneutral sein. Ich finde es gut, dass wir uns zum Ziel gesetzt haben, | |
von fossilen Energiequellen wegzukommen. Ich will die Energie- und | |
Wärmewende mitgestalten. Nur wenn die Transformation im Energiesektor | |
gelingt, kann der Klimawandel begrenzt werden. Zugleich sind wir als | |
Unternehmen sehr stark von den Entscheidungen der Bundesregierung abhängig. | |
Wenn es eine umweltfreundliche Regierung gibt, bedeutet das, dass die | |
Energieunternehmen bei der Transformation unterstützt werden. Wählen kann | |
ich in Deutschland nicht. Aber ich hoffe, dass die neue Bundsregierung | |
etwas für den Klimaschutz tut, nachhaltige Lösungen vorantreibt. | |
Wichtig ist mir auch, dass jeder Mensch gleiche Rechte hat und ein gutes | |
Leben führen kann, unabhängig davon, wie viel er verdient oder welchen | |
Status hat. Die Bundesregierung muss sich auch darum kümmern. | |
Chancengleichheit im Bildungsbereich und die Bekämpfung von Diskriminierung | |
voranzutreiben. Protokoll: Franziska Schindler | |
## Diana Werner ist staatenlos | |
Ich bin 29 Jahre alt, und seit 29 Jahren kann ich gar nichts tun als | |
abwarten. Ich habe ein deutsches Dokument, ein Passersatzpapier. Darin | |
steht, dass ich Russin bin – aber ich habe gar keine russische | |
Staatsbürgerschaft. Ich hänge total in der Luft, ich darf nirgends wählen | |
oder sonst wie teilhaben, weder in Deutschland, wo ich geboren bin, noch in | |
Russland. | |
Meine Eltern sind russische Staatsbürger, haben mich nach meiner Geburt | |
aber nicht beim Konsulat registriert. Mit zweieinhalb Jahren bin ich in | |
eine Pflegefamilie gekommen, das Sorgerecht ging damals ans Jugendamt. Das | |
konnte mich auch nicht beim Konsulat registrieren, das können laut | |
russischem Recht nur die Eltern. Also haben sie damals den Ersatzausweis | |
für Ausländer für mich beantragt, in den einfach eingetragen wurde, ich sei | |
Russin. Bis ich 18 wurde, hat das funktioniert, und es hat auch niemanden | |
interessiert. | |
Mit der Volljährigkeit haben aber die Probleme angefangen. Sechs Jahre lang | |
war ich ganz ohne Ausweis, weil ich für die Verlängerung meiner Dokumente | |
meinen „Heimatpass“ vorlegen sollte. Aber ich habe ja gar keinen und | |
bekomme ihn auch nicht. Meine Mutter ist inzwischen Deutsche und hat die | |
russische Staatsangehörigkeit abgegeben, mein Vater ist tot. Eingebürgert | |
werden kann ich hier aber auch nicht, auch dafür soll ich meine russische | |
Staatsangehörigkeit nachweisen, die ich nicht habe. | |
Ich bin staatenlos, aber werde vom Staat und den Behörden nicht als | |
staatenlos anerkannt. Für Fälle wie meinen gibt es keine geschriebenen | |
Regelungen, keine Richtlinien und keine Hilfestellung. Für mich entstehen | |
dadurch riesige Probleme im Alltag. Ich habe eine eigene Sicherheitsfirma, | |
darf aber aufgrund der Sanktionen und weil ich als Russin gelte nicht an | |
öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen. Ich darf nicht wählen, weder den | |
Bundestag noch den Bürgermeister, obwohl die Politik hier mich und meine | |
Arbeit ganz konkret betrifft. Ich kann wegen der fehlenden Dokumente nicht | |
heiraten. Ich bin ausgeschlossen. | |
Seit kurzem engagiere ich mich bei Statefree, einer Organisation, die die | |
Interessen Staatenloser vertritt. In Deutschland sind 126.000 Menschen von | |
Staatenlosigkeit betroffen. Als ich dort gelandet bin, war ich wirklich | |
verzweifelt. Ich war bei zig Anwälten, überall, keiner konnte mir helfen. | |
Statefree unterstützt mich jetzt dabei, meinen Einbürgerungsantrag zu | |
stellen. Und dann sehen wir, was passiert. | |
Bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurde es versäumt, an der | |
Situation unserer Community etwas zu verbessern. Neulich waren wir im | |
Bundestag zu einem parlamentarischen Frühstück, wo wir unsere Interessen | |
vortragen konnten. Es ist alles sehr mühsam. Aber es tat gut, dass wir | |
gehört worden sind – wenn wir schon sonst keine Stimme haben. Protokoll: | |
Dinah Riese | |
## Schüler*innen aus Eichwalde haben Maßnahmenkatalog für die | |
Bundesregierung aufgestellt | |
Vor der Bundestagswahl machen wir uns wie viele Jugendliche Gedanken um die | |
Zukunft. Wir sind eine Gruppe von Schüler*innen aus Eichwalde in | |
Brandenburg und treffen uns jede Woche Dienstags als AG „Schule ohne | |
Rassismus“. In diesem Rahmen beschäftigen wir uns mit gesellschaftlichen | |
Themen wie Sexismus, der derzeitigen Debattenkultur, vor allem aber damit, | |
wie wir die Demokratie stärken und Hass und Hetze verhindern können. | |
Wir sind 15 Schüler:innen, gehen in die achte bis zwölfte Klasse und haben | |
gemeinsam überlegt, was wir uns von der nächsten Bundesregierung wünschen. | |
Wir haben zwar teilweise unterschiedliche politische Positionen, aber | |
miteinander in Dialog zu treten ist uns wichtig. Auf folgenden | |
Maßnahmenkatalog konnten wir uns einigen: | |
1) Kommunikation zwischen Personen unterschiedlicher Meinungen ist | |
mittlerweile immer öfter von Vorurteilen, Hass und Schubladendenken | |
geprägt. Wir wünschen uns, dass Kommunikation zukünftig wieder auf | |
Augenhöhe stattfindet. Wir wollen, dass Menschen einander zuhören, ohne | |
eine Abwehrhaltung einzunehmen. Um das gesellschaftliche Zusammenleben zu | |
stärken, muss man Demokratiebildung in der Schule und an anderen | |
Ausbildungsorten priorisieren. | |
2) Insbesondere Deutschland hat in Europa und der Weltgemeinschaft die | |
große Verantwortung, eine wertebasierte Außenpolitik auf Grundlage des | |
Völkerrechts, der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Lehren | |
der jahrhundertelangen Kriegsphasen zu führen. Diese allgemeingültigen | |
Leitmotive müssen konsequent vertreten werden, um nicht den Eindruck zu | |
erwecken, abhängig von Konfliktort oder –partei mit unterschiedlichen | |
Maßstäben zu arbeiten. Internationale Institutionen waren eine Antwort auf | |
die blutigen Kriege der Kolonialmächte und sollten mit ihren globalen und | |
universellen Werten anerkannt werden. | |
3) Angesichts des rapide erfolgenden Klimawandels ist eine globale | |
Strategie für Umweltschutz und Migration, die für unsere Wirtschaft und | |
Gesellschaft unverzichtbar ist, notwendig. Mit der Förderung erneuerbarer | |
Energien, der Einhaltung von Klimazielen und dem Schutz der Biodiversität | |
hat Deutschland klare politische Ziele formuliert. Diese | |
Selbstverpflichtungen muss die neue Bundesregierung erfüllen, denn | |
besonders unsere Generation ist von den Folgen des Klimawandels betroffen. | |
4) Für eine freie, inklusive Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass | |
alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Die Gleichstellung und der Schutz | |
der Rechte marginalisierter Gruppen ist jedoch hart erkämpft worden und | |
immer noch nicht abgeschlossen. Derzeit von Parteien vorgeschlagene | |
Maßnahmen, wie die Abschaffung des Gesetzes über die Selbstbestimmung in | |
Bezug auf den Geschlechtseintrag gefährden bisherige Erfolge und den | |
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine feministische Politik hingegen | |
schließt alle Menschen in ihre Überlegungen ein und kommt ihnen zu Gute. | |
Wir brauchen auch mehr soziale Gerechtigkeit. | |
5) Wir wünschen uns von der neuen Bundesregierung, dass sie die Perspektive | |
junger Menschen in ihre Entscheidungen einbezieht: Wir brauchen | |
Partizipationsmöglichkeiten, eine Politik auf Augenhöhe und einen | |
zukunftsorientierten intergenerationellen Dialog. | |
## Deniss Hanovs wird am 25. Februar Deutscher | |
Wenn am 25. Februar früh am Morgen alles mit dem Nahverkehr funktioniert, | |
dann werde ich an dem Tag ohne Verspätung deutscher Bürger. Das | |
Einbürgerungsverfahren war beinahe mühelos. Ich war sogar sehr überrascht, | |
als die Einladung zur Einbürgerung gekommen ist, ein halbes Jahr, nachdem | |
ich den Knopf „Antrag einreichen“ gedrückt habe, die Einladung zur | |
Einbürgerung gekommen war. | |
Bald werde ich Mitglied der deutschen politischen Community sein, der | |
deutschen Nation und dadurch auch der deutschen Politik. Aber als | |
russischsprachiger Lette werde ich diese Politik auch aus einem dritten | |
Raum, einem kulturell gemischten Erfahrungsraum meiner mehreren Identitäten | |
beobachten – als schwuler Mann russisch-ukrainischer Herkunft, der die | |
deutsche Kultur und Musik seit Jahren akademisch untersucht und im Alltag | |
Deutsch als zweite Muttersprache wahrnimmt. | |
Ich wollte deutscher Bürger werden, weil Deutsch und deutsche Kultur seit | |
meiner Jugend in meiner Heimat Lettland ein wichtiger Teil meiner | |
Geschichte ist. Aber auch, weil meine erste Heimat es seit Anfang der 90er | |
Jahre nicht geschafft hat oder nicht schaffen wollte, die politische Kultur | |
der Inklusion zu entwickeln. Weil es nicht gelang oder nicht gelingen | |
sollte, die 1990 errungene Demokratie supraethnisch zu gestalten, | |
kulturelle Anerkennung und gleichberechtigte Teilhabe für alle | |
ethnisch-sprachlichen Gruppen zu gewährleisten. Stattdessen betreibt die | |
politische Elite die Rhetorik einer ethnisch und historisch geprägten | |
Hierarchiekultur. Kyrillische Buchstaben werden im öffentlichen Raum | |
stigmatisiert, das einzige russischsprachige Theater der Hauptstadt Riga | |
vor den Kommunalwahlen intensiv medial angriffen. Die lettischen | |
Intellektuellen schweigen – alle. | |
Meine neue Heimat, Deutschland, war bereits seit meiner Dissertation 2003 | |
meine intellektuelle, literarische und akademische Heimat geworden. Jetzt | |
auch meine politische Heimat, denn meine erste Heimat schafft es, mich, den | |
eingebürgerten Letten russischer Herkunft, Professor und Journalisten immer | |
noch diskursiv als Fremdling in dem eigenen Land zu gestalten und in den | |
nationalistischen Diskursen auszugrenzen, nur als Erbe der Okkupation zu | |
betrachten und auszuklammern, wenn ich zu kritisch werde. | |
Alle diese Emotionen und Erfahrungen habe ich in Deutschland nicht gemacht. | |
Trotzdem habe ich Angst um die deutsche Demokratie, wenn ich im | |
Deutschlandfunk tagelang die sich rasch radikalisierende politische | |
Debattenkultur beobachte. Umdenken des politischen Wortschatzes, wenn der | |
politische Konsens nach 1945 global zusammengebrochen ist, fehlt. | |
Umweltschutz, obwohl akut notwendig, zerbricht an der inneren Logik jeder | |
radikalen gesellschaftlichen Wende. | |
In dieser Situation einer Politik der gemütlichen Trägheit, wo | |
jahrzehntelang Rot und Schwarz in der Koalition einfach durch Proportion | |
der Wahlzettel ihre Dominanz unberührt erhalten konnten, wurde eine | |
gefährliche alternative Frucht reif. Dieser Verführungsapfel ist als Hybrid | |
aus Ängsten, Wut, Müdigkeit und Kurzsichtigkeit entstanden. Deren Saft ist | |
Gift, deren Fruchtfleisch ist Zerstörung der demokratischen Kultur in | |
Deutschland und geopolitisch gesehen europaweit. | |
Und dann komme ich als neuer Bürger und bringe meine Ängste und eingebaute | |
postsowjetische politische Warnsysteme mit. Aber auch ein tolles Gefühl, | |
eine noch lebendige und lebensfähige Demokratie kritisieren zu dürfen. Eine | |
luxuriöse Gewohnheit heute, in viele Ländern … Europas. Deniss Hanovs | |
## Toni hält nichts von Bildungsföderalismus | |
Ich bin siebzehn Jahre alt und gehe in die elfte Klasse des Gymnasiums in | |
Neustrelitz. In der Schule haben wir uns mit Gefahren für die Demokratie | |
auseinandergesetzt – Klimakrise, Lobbyismus, Politikverdrossenheit, und | |
viele andere. Ich habe ein Referat über Linksextremismus gehalten. Ich | |
interessiere mich sehr für Politik, habe Sozialkunde als Leistungskurs | |
gewählt und bin auch stellvertretender Schulsprecher. | |
Früher war ich für die FDP, aber inzwischen würde ich lieber einer | |
konservativeren Partei meine Stimme geben. Konservativer geworden bin ich | |
zum Beispiel in Bezug auf den Ukraine-Krieg. Am Anfang des Krieges haben | |
wir mit unserer Schule ein riesiges Friedenszeichen geformt. Damals war ich | |
zur Ukraineunterstützung noch positiver eingestellt. Mittlerweile finde ich | |
die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern und anderen Waffen falsch. | |
Für uns Jugendliche hier sind Themen wichtig, bei denen uns keine Partei so | |
richtig vertritt. Vor Kurzem wurde in Neustrelitz ein Jugendclub | |
weggekürzt, in dem ich mit meiner Clique viel Zeit verbracht habe. Außerdem | |
beschäftigt uns der öffentliche Personennahverkehr – eine Katastrophe. Um | |
zum Beispiel nach Greifswald mit dem Zug zu kommen, braucht man manchmal | |
drei Stunden. Für 100 Kilometer! Nach Rostock fährt momentan gar kein Zug. | |
Die einzige Verbindung, die einigermaßen funktioniert, ist die nach Berlin. | |
Für die Auszubildenden, die immer zwischen Schule und Ausbildungsbetrieb | |
hin und her fahren müssen, ist das ziemlich anstrengend. | |
Nach der Schule will ich zur Bundeswehr. Ich möchte die Erfahrung einfach | |
mal gemacht haben, und meinem Land dienen. Die Wehrpflicht oder ein | |
verpflichtendes soziales Jahr als Alternative finde ich gut, damit alle was | |
für die Gesellschaft tun. Das könnte die neue Bundesregierung einführen. | |
Ich darf zwar noch nicht wählen, aber von der neuen Bundesregierung würde | |
ich mir auch wünschen, dass sie die Migrationspolitik stark überarbeitet, | |
sodass Geflüchtete eher ins Wirtschaftssystem einwandern anstatt ins | |
Sozialsystem. Außerdem gehört das förderale System in der Bildung | |
abgeschafft. Und, wichtiger Punkt: Dass Politiker*innen wieder mehr | |
miteinander anstatt übereinander sprechen und auch bereit sind, Kompromisse | |
einzugehen. | |
Bei der U18-Wahl an unserer Schule ist die Linke mit über 30 Prozent der | |
Zweitstimmen stärkste Kraft geworden, danach kam die AfD mit 20 Prozent. | |
Ich habe darüber nachgedacht, AfD zu wählen, aber ich finde die zu krass. | |
Höcke zum Beispiel, der NS-Sprache benutzt. Bei uns in der Schule sind die | |
Meinungen sehr divers, da gibt es auch viele, die die AfD befürworten. | |
Für mich ist es wichtig, miteinander zu sprechen. Egal welche politischen | |
Ansichten einen trennen. Demokratie beginnt meiner Meinung nach, wenn man | |
gemeinsam Lösungen findet, anstatt sich abzuschotten. Ich persönlich finde | |
auch, dass Freundschaft über Politik steht. Auch ich mit meiner etwas | |
konservativeren Meinung habe Freunde, die eher links unterwegs sind. Für | |
mich ist das kein Problem, solang man sich auf Augenhöhe begegnen kann. | |
Protokoll: Franziska Schindler | |
## Auf Emine Yildiz' Enkelkinder ist Verlass | |
Ich kam 1972 das erste Mal nach Deutschland. Mein Mann kam bereits ein Jahr | |
früher als ich, als Gastarbeiter. So wie viele andere wollten wir nur kurz | |
bleiben, arbeiten, Geld sparen und dann zurück nach Istanbul. Doch daraus | |
wurde nichts, wir blieben. Zwei meiner Kinder sind in Deutschland geboren, | |
einer von ihnen hat den deutschen Pass. Darauf waren wir sehr stolz – der | |
Erste aus der Familie, der Deutscher wurde. Wir machten uns auch ein wenig | |
lustig über ihn und nannten ihn „Hans“. Und natürlich bewunderten wir | |
diesen roten Pass mit dem goldenen Adler darauf. | |
Ich habe die türkische Staatsangehörigkeit, darf in der Türkei wählen, aber | |
das ist doch blöd. Dort lebe ich seit über 50 Jahren nicht mehr! Und warum | |
darf ich nicht in dem Land wählen, in dem ich lebe? Das ist doch nicht | |
demokratisch, oder? | |
Ich erinnere mich an Willy Brandt, den damaligen Bundeskanzler. Er hielt | |
eine Rede auf unserem Marktplatz und setzte sich für uns ein, für die | |
Integration der Migranten. Er sorgte für den Ausbau von Bildungs- und | |
Sprachprogrammen für Gastarbeiter. Das war wichtig, denn er stellte sicher, | |
dass wir langfristig Teil der deutschen Gesellschaft werden konnten. Und | |
das sind wir ja auch geworden. Wir sind der Beweis. Aber die SPD hat ihren | |
Geist verloren. Sie ist nicht mehr das, was sie einmal war. | |
Manchmal denke ich: „Ja, Emine, vielleicht kommt ja irgendwann das | |
Wahlrecht für alle.“ Dann lache ich. Es gibt leider nur noch Anfeindungen. | |
Vielleicht sollten wir aber wieder mehr daran arbeiten, die Migranten zu | |
integrieren, anstatt sie in irgendwelchen Heimen abzuschotten und mit dem | |
Finger auf sie zu zeigen. Kein Wunder, dass die Leute verrückt werden. | |
Diese Migrationsdebatte geht die ganze Zeit. Was ist mit all den anderen | |
wichtigen Themen? Gesundheit zum Beispiel? Oder Bildung? Die jungen | |
Menschen wissen vielleicht nicht einmal, was der Holocaust war oder wie | |
viele Menschen dabei ums Leben kamen. Das ist schlimm. Ich würde so gerne | |
auch mit meiner Stimme ein Teil der Gesellschaft sein. Aber so bleibt mir | |
nur die Meinungsfreiheit – besser als nichts, sage ich immer. Die Frage ist | |
nur: Wie lange noch? Ich habe zum ersten Mal in den 53 Jahren, die ich hier | |
bin, Angst. Angst vor dem Faschismus in Europa und davor, was uns noch | |
bevorstehen könnte. | |
Wenn ich am Sonntag wählen könnte, dann würde ich auf jeden Fall die Linke | |
wählen. Beide Stimmen würde ich ihr geben. Aber immerhin habe ich noch | |
Enkelkinder, die wählen dürfen, weil sie Deutsche sind. Da bin ich sicher, | |
dass zumindest ein paar Stimmen aus meiner Familie nicht verloren gehen. | |
Protokoll: Derya Türkmen. Emine Yildiz ist ihre Großmutter | |
## Rizeq D. will fair behandelt werden | |
Ich komme aus Aleppo in Syrien. Im März werde ich 32 Jahre alt. Seit Juli | |
2019 lebe ich in Deutschland. Weil ich über Griechenland nach Deutschland | |
gekommen bin, ist mein Fall kompliziert, bis heute habe ich keinen | |
Aufenthaltstitel. Aber ich habe Deutsch bis B 2 gelernt und den B-1-Test | |
gemacht. Außerdem habe ich als Freiwilliger im Café eines Projekts namens | |
Refugio gearbeitet. Ich bin inzwischen ein wirklich guter Barista! | |
Wäre ich in Syrien geblieben, hätte das Assad-Regime mich zum Militärdienst | |
eingezogen. Aber ich wollte nicht einer von denen werden, die Unschuldige | |
töten. Nachdem das Regime gestürzt wurde, hat das Bundesamt für Migration | |
und Flüchtlinge alle offenen Fälle eingefroren, auch meinen. Wie es jetzt | |
weitergeht, weiß ich nicht. An den Neuwahlen darf ich nicht teilnehmen, was | |
wirklich traurig ist für jemanden, der seit fast sechs Jahren hier lebt und | |
einen Beitrag zur Gesellschaft leistet. Ich möchte ein echter Teil der | |
Gesellschaft sein und nicht nur eine Nummer in der Flüchtlingskrise. | |
Es ist jedes Mal so hart, wenn ich in den Nachrichten Sachen höre wie: | |
„Diese Leute arbeiten nicht, sie zahlen keine Steuern.“ Ich darf ja gar | |
nicht arbeiten. Ich habe sogar eine Umschulung im IT-Bereich gemacht, aber | |
wer soll mir einen Job geben, wenn ich keine Arbeitserlaubnis habe? Du | |
kommst hier an, und dann wartest du lange, lange Zeit. In meinem Fall gab | |
es überhaupt keine Möglichkeit, an einem Deutschkurs teilzunehmen. Ich habe | |
Sozialhilfe bekommen, aber ich hätte viel lieber gearbeitet. | |
Immer wenn nach einem Terroranschlag die populistischen Reden losgehen, bin | |
ich – wie viele Menschen – unter Stress. Wir tun wirklich unser Bestes und | |
versuchen, alles richtig zu machen. Die Menschen sind hierhergekommen, um | |
Frieden und Sicherheit zu finden. Wir lernen die Sprache und wir sind | |
bereit zu arbeiten. Im Gegenzug wollen wir fair behandelt werden, das ist | |
alles. | |
Ich wünsche mir von der neuen Regierung, dass sie nicht nur auf die AfD | |
schielt, sondern auf ihre eigentlichen Wähler. Dass sie sich nicht unter | |
Druck setzen lässt. Abschieben hilft nicht gegen Hass, Rassismus, Sexismus. | |
Das Einzige, was wir dagegen tun können, ist politische Bildung. | |
Fluchtursachen bekämpfen, heißt es immer. Wenn die Regierung das Problem | |
wirklich an der Wurzel löst, dann indem sie keine Waffen mehr an verrückte | |
Regierungen liefert. Wenn wir Kriege beenden wollen, müssen wir aufhören, | |
Krieg auf kapitalistische Weise zu führen. Denn das macht das Leben zur | |
Hölle und das bedeutet, dass die Menschen nicht in ihrer Heimat leben | |
können. Protokoll: Franziska Schindler | |
Anastasia Magasowa fragt sich, warum Deutschland nicht mehr funktioniert | |
Vor etwa 15 Jahren kam ich zum ersten Mal nach Deutschland. Damals, als | |
20-jährige Ukrainerin, war es meine erste Reise ins Ausland, und ich | |
verbrachte zwei Tage in Berlin. Das war für mich – wie man so schön sagt – | |
Liebe auf den ersten Blick. | |
Seitdem bin ich immer wieder nach Deutschland zurückgekehrt, bis ich Ende | |
2019 endgültig nach Berlin zog, kurz vor Beginn der Coronapandemie. Kein | |
besonders günstiger Zeitpunkt, um es milde auszudrücken. Aber eine durchaus | |
lehrreiche Erfahrung. | |
Heute habe ich das Gefühl, dass ich die deutsche Gesellschaft recht gut | |
verstehe und dass sie zu meiner eigenen geworden ist. Meine Begeisterung | |
für Deutschland begann bereits in der Schulzeit, als ich anfing, die | |
deutsche Sprache zu lernen. Die reiche kulturelle Tradition, die Fähigkeit, | |
Verantwortung für schreckliche Verbrechen zu tragen und Schuld zu sühnen, | |
sowie die Kraft, aus der Asche wieder aufzuerstehen – all das weckte mein | |
Interesse und meinen Respekt für dieses Land. | |
Ich nahm die deutsche Gesellschaft als eine wahr, die es jedem ermöglicht, | |
seinen Platz darin zu finden – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder | |
sexueller Orientierung. Ein Staat, in dem alle Prozesse durchdacht und | |
geregelt sind, in dem Bürgerinnen und Bürger nicht nur Pflichten, sondern | |
auch Rechte haben und in dem das Gesetz sowohl schützt als auch gerecht | |
bestraft. | |
Von außen schien Deutschland immer ein Land zu sein, in dem alles | |
funktioniert: Wo Züge pünktlich sind, wo hohe Steuern zwar gezahlt werden, | |
aber dafür auch ein umfassendes soziales System existiert. Die Realität von | |
innen erwies sich als weitaus härter. Oder hat sich in all den Jahren | |
vielleicht tatsächlich etwas grundlegend verändert? | |
Letzte Woche hatte ich einen Arzttermin. Die Behandlung begann mit einer | |
Stunde Verspätung. Als ich mich darüber beschwerte, erhielt ich die | |
Antwort: „Seien Sie froh, dass Sie überhaupt einen Termin bekommen haben – | |
in der Stadt gibt es für die nächsten zwei Monate keine mehr.“ | |
Nach dem Arztbesuch ging ich in den Supermarkt. Vor dem Eingang saß ein | |
junger Obdachloser, der perfektes Deutsch sprach und offen zugab, dass er | |
um Geld für Weed bettelte. Für den Heimweg wollte ich den Bus nehmen, doch | |
der kam auch zehn Minuten nach der geplanten Abfahrtszeit nicht. Also | |
beschloss ich, zu Fuß zu gehen. | |
Auf einer ruhigen Straße in Kreuzberg war der halbe Gehweg mit Müll und | |
Hundekot bedeckt. Und das nicht nur, weil nicht regelmäßig gereinigt wird, | |
sondern auch, weil Menschen selbst nicht auf ihre Umgebung achten. Ich kann | |
nicht genau sagen, wann etwas schiefgelaufen ist, aber so, wie es jetzt | |
ist, sollte es nicht sein. | |
Ich kann auch immer noch nicht glauben, wie rasant radikale Bewegungen in | |
Deutschland an Popularität gewinnen. Dass das Gefühl von Sicherheit und | |
Toleranz durch Angst und Hass ersetzt wurde. Dass ehemalige | |
Pazifist:innen heute bereit sind, einen Kriegsverbrecher zu umarmen. | |
Vor dem Hintergrund dieser inneren Herausforderungen werden nun auch in der | |
Außenpolitik noch größere Erwartungen an die deutsche Regierung gestellt. | |
Der amerikanische Präsident Trump hat mit seiner Bewunderung für Putin den | |
Europäer:innen unmissverständlich klargemacht, dass sie auf sich allein | |
gestellt sind. | |
Die europäische Sicherheitsarchitektur wird nicht mehr so sein, wie sie | |
nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde. Die Zeit des Nachdenkens ist | |
vorbei – es ist Zeit zu handeln. Ist Europa, angeführt von Deutschland, | |
bereit für diese Verantwortung und Selbstverteidigung? Es sieht nicht | |
danach aus, aber ich hoffe, dass es so sein wird. | |
Ich bin fast froh, dass ich bei diesen Wahlen kein Stimmrecht habe. Jede | |
der derzeitigen deutschen Parteien hat zahlreiche Fehler gemacht, einige | |
davon schwerwiegend. Dennoch sollten sich die Deutschen bei ihrer Wahl | |
daran erinnern, welche demokratischen Werte das Fundament ihres Staates | |
bilden – und welchen Preis sie für ihre Freiheit gezahlt haben. | |
Die Ukrainer:innen, von denen mittlerweile rund eine Million in Deutschland | |
leben, setzen große Hoffnungen auf die Weisheit des deutschen Volkes. Denn | |
inzwischen ist es ohne Zweifel unser gemeinsamer Krieg. Anastasia Magasowa, | |
16. Februar | |
Emil ist zehn und will wählen | |
Dass nur Erwachsene wählen dürfen, finde ich nicht gut. Klar gibt es | |
Kinder, die interessieren sich gar nicht für Politik, und die würden | |
vielleicht einfach das ankreuzen, was ihre Eltern gut finden. Wählen ist | |
schon eine Verantwortung. Aber mit 14 Jahren hat ja eigentlich jeder ein | |
Handy und kann sich informieren. | |
Mich interessiert es jedenfalls, wer in der nächsten Regierung sitzt. Auch | |
die anderen in meiner Klasse, ich gehe in die vierte Klasse, reden manchmal | |
über Politik. Viele finden es blöd, dass die AfD in den Umfragen gerade so | |
hoch steht. Einer von uns findet die CDU toll. Aber die meisten finden die | |
Grünen gut, weil die für die Umwelt sind. | |
Ich schaue gerne Nachrichten im Fernsehen und ich lese manchmal auch in der | |
Zeitung einen Artikel. Ich war ziemlich schockiert, als Merz mit der AfD | |
zusammengearbeitet hat. Er hat für ein Gesetz die Stimmen von der AfD | |
bekommen und er hat gesagt, er hat keinen Fehler gemacht. Dafür fand ich | |
dann die Rede von der Linken, [1][Heidi Reichinnek] richtig toll, als sie | |
gesagt hat, dass man Widerstand leisten soll. Ich war auch demonstrieren, | |
hier in Berlin, gegen die AfD. Ich hoffe, die Linke schafft es in den | |
Bundestag. | |
Die AfD ist für Abschiebung und dass man die Grenzen für Flüchtlinge | |
schließt. Das finde ich nicht gut. Außerdem arbeiten auch viele der | |
Menschen hier, zum Beispiel in den Restaurants, wir brauchen sie. Wenn die | |
AfD Macht bekommt, hätte ich selbst Sorge, dass ich dann nicht mehr | |
demonstrieren gehen darf. Dass sie die Protestierenden niederschlagen oder | |
so. | |
In meinem Wahlkreis kenne ich alle Direktkandidaten, ich sehe sie immer auf | |
den Plakaten, wenn ich zur Schule fahre. Die Grünen und die SPD wollen | |
Kitas und Schulen renovieren. Das finde ich gut. Aber wenn ich könnte, | |
würde ich den linken Kandidaten wählen, weil ich jetzt Linke-Fan bin. | |
Die zweite Stimme würden die Grünen bekommen. Das Klima ist mir sehr | |
wichtig. Ich finde es wichtig, dass Deutschland klimaneutral wird. Warum | |
strengen wir uns da nicht mehr an? Kann man die Erderwärmung eigentlich | |
auch wieder rückgängig machen? Jedenfalls will ich nicht, dass wieder | |
Atomkraftwerke gebaut werden. | |
Ich fände es auch gut, wenn die neue Regierung mehr Steuern von reichen | |
Leuten verlangt. Dann müssten zum Beispiel die Lieferando-Fahrer weniger | |
zahlen. Ich habe neulich den Wahl-O-Mat gemacht, da kam raus, dass ich | |
Grüne, SPD oder Linke wählen sollte. Das hab ich mir schon so gedacht. | |
Was die Regierung vermutlich nicht ändern kann: Das Essen in der Schule ist | |
nicht lecker. Ich habe oft mal Bauchschmerzen. Aber das müssen die Schulen | |
vermutlich selbst machen. Ich bin da im Schulparlament. Protokoll: Anna | |
Klöpper | |
## Puk Norwood kann nicht eingebürgert werden | |
Ich bin in Freiburg geboren und aufgewachsen, aber meine Eltern kommen aus | |
den USA. Als weiße Person habe ich nicht realisiert, dass ich Ausländer bin | |
– bis ich mit 18 Jahren einen Anruf von der Polizei bekam. Ich sei illegal | |
in Deutschland, wurde mir gesagt, weil ich mich nicht um meinen | |
Aufenthaltstitel gekümmert hatte. | |
In Deutschland ist die Staatsangehörigkeit an die Familie geknüpft, in den | |
USA daran, ob man dort geboren ist. Ich bin zwischen diesen beiden Ideen | |
von Staatsbürgerschaft auf die Welt gekommen und gehöre zu den zwölf | |
Millionen Erwachsenen, die in Deutschland nicht wählen dürfen. | |
Dabei war für mich immer klar, dass ich nach Deutschland gehöre. Mit 18 | |
habe ich mich nur deshalb gegen die Einbürgerung entschieden, weil außer | |
meinen Eltern und Geschwistern alle meine Verwandten in den USA leben. | |
Meine Großmutter zum Beispiel. Mir war es wichtig, dass ich sie schnell | |
besuchen kann, wenn sie krank wird, ohne erst ein Visum beantragen zu | |
müssen. Aber dann wurde Trump US-Präsident. Seitdem macht es mir Angst, nur | |
die US-Staatsbürgerschaft zu haben. Ich bin trans und mache gerade eine | |
Transition. Es kann gut sein, dass ich eines Tages nicht mehr in die USA | |
zurückkehren kann. | |
Aber seit die Ampel das Staatsbürgerschaftsrecht geändert hat, kann ich | |
nicht mehr Deutscher werden. Auch vorher galt schon, dass Menschen sich | |
nicht einbürgern lassen können, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Aber es gab | |
Ausnahmen für diejenigen, die nichts dafür können, dass sie auf solche | |
Leistungen angewiesen sind. Das wurde gestrichen. Mich betrifft das, weil | |
ich behindert bin und Eingliederungshilfe bekomme. | |
Die „guten“ und die „schlechten“ Migrant*innen auf diese Weise | |
voneinander zu trennen, das geht gar nicht! Alle Menschen, die hier leben, | |
sollten auch hier wählen dürfen. Das ist die einfache Antwort auf unsere | |
komplexe globale Gesellschaft. | |
Ich engagiere mich in der Initiative [2][Wahlkreis 100 %], die zum Bündnis | |
Wir Wählen gehört. Unsere Gruppe hält in Freiburg symbolische Wahlen ab. In | |
der ganzen Stadt stehen wir mit Wahlständen und laden die Menschen ein, | |
daran teilzunehmen. Hier in Freiburg ist jede fünfte erwachsene Person | |
wegen ihrer Staatsbürgerschaft von Wahlen ausgeschlossen. Wir zählen dann | |
die Stimmen aus und übergeben die Ergebnisse an die | |
Stadtpolitiker*innen. Wer an unseren Stand kommt und die deutsche | |
Staatsbürgerschaft hat, kann parallel an einer Unterschriftenaktion für das | |
Wahlrecht für alle teilnehmen. | |
Ich wünsche mir von der neuen Bundesregierung, dass sie Migration als etwas | |
Positives anerkennt. Sie gehört zum Menschsein dazu. Protokoll: Franziska | |
Schindler | |
## Nicole Zehnder will linke Politik | |
Ich bin in der Nähe von Basel aufgewachsen, nahe der französischen und der | |
deutschen Grenze. Während meines Studiums war ich in Frankreich, in | |
Portugal, im italienischen Teil der Schweiz – ich habe Europa immer als | |
etwas Ganzes erlebt, wo man sich aussuchen kann, wo man leben möchte. | |
Mein Partner ist Deutscher. Nach dem Studium ist er mit mir in die Schweiz | |
gekommen. Dort wurde damals über die „Masseneinwanderungsinitiative“ | |
abgestimmt, es ging überall darum, Einwanderung zu limitieren. Weil mein | |
Partner keinen unbefristeten Vertrag hatte, bekam er jedes halbe Jahr die | |
Aufforderung, doch bitte das Land zu verlassen. Das hat das Leben für uns | |
als internationales Paar sehr unattraktiv gemacht. | |
Nach Deutschland wollte ich nicht wirklich. Als Architektin ist die Arbeit | |
in der Schweiz viel spannender. Es war eher eine Entscheidung für Berlin: | |
Ich fand das toll, eine künstlerisch-alternative Stadt, sehr international, | |
mit einer linken Szene – das hat mir in der Schweiz immer gefehlt. Wir | |
haben einen kleinen Sohn. Hier ist die Kita gratis, wir konnten beide in | |
Elternzeit gehen. Für uns lebt es sich hier viel gleichberechtigter, als | |
das in der Schweiz möglich wäre. | |
Wenn ich mit Freund*innen über die Wahl rede, stutzen viele, wenn ich | |
sage, dass ich nicht wählen darf. Alle wissen, dass ich Schweizerin bin, | |
aber ich werde oft nicht als Ausländerin wahrgenommen, schon gar nicht als | |
Nicht-EU-Bürgerin. Ich bin in der Schweiz wahlberechtigt, vom Schulrat bis | |
zum Parlament. Aber das wird mir zunehmend fremd. Was hier passiert, ist | |
mir viel näher und betrifft mich viel direkter. | |
Das erste Mal über Einbürgerung nachgedacht habe ich, als Russland die | |
Ukraine angriff. Mich hat der Gedanke geängstigt, dass überall die Mauern | |
höher werden und wir als Familie mit unterschiedlichen Staatsbürgerschaften | |
da nicht reinpassen. Die Voraussetzungen erfülle ich, meinen Schweizer Pass | |
darf ich behalten – am Ende bin ich an der Überlastung der Berliner | |
Bürokratie gescheitert. Es hätte bis zu zwei Jahren gedauert, bis mein | |
Antrag bearbeitet wird. Gerade vor der Wahl fuchst mich sehr, dass mich das | |
so abgeschreckt hat. So war es schon, als nach der Berliner | |
Wiederholungswahl die CDU übernommen hat. Ich fand es schön, an einem Ort | |
zu leben, der links regiert wird. Wo Fahrradwege Priorität haben oder Kunst | |
für alle zugänglich ist. Ich fürchte, dass es nach der Wahl aber weiter | |
nach rechts geht. Manchmal denke ich: Dann geh ich halt. Andererseits – | |
wohin? Und dann denke ich umso mehr, dass ich mich einbürgern lassen, noch | |
mehr einbringen und engagieren sollte, auch im Lokalen. Um dem etwas | |
entgegenzusetzen. Protokoll: Dinah Riese | |
## Martin Bouko* will das Recht auf Familienleben | |
Ich kann nicht wählen, weil ich keinen deutschen Pass habe. Dabei hat die | |
Politik unmittelbare Auswirkungen auf mein Leben. Ich bin bei einer | |
Zeitarbeitsfirma beschäftigt und habe einen dauerhaften Aufenthaltstitel. | |
In drei Wochen werden meine drei Kinder aus Kamerun nach Deutschland | |
kommen. Zehn Jahre waren wir voneinander getrennt. Jahrelang habe ich für | |
den Familiennachzug gekämpft. | |
Was letzte Woche im Bundestag passiert ist, ist eine Katastrophe. Beinahe | |
hätte das Parlament für ein Gesetz gestimmt, das Tausende Familien für | |
immer getrennt hätte. Niemand verlässt seine Angehörigen einfach so. Die | |
Gründe dafür, nicht zusammen zu fliehen, sind meistens brutal: Kriege, | |
Natur- oder Klimakatastrophen, Verfolgung wegen Religionszugehörigkeit oder | |
sexueller Orientierung. | |
Jeder Mensch hat das Recht auf Familienleben, das ist ein grundlegendes | |
Menschenrecht. Die Bundesregierung muss dieses Recht achten und sich für | |
den Schutz von Familien einsetzen. Die enormen bürokratischen Hürden beim | |
Familiennachzug müssen abgebaut werden. Insgesamt sollten die Abgeordneten | |
Immigration nicht als Unglück sehen, sondern als Form der internationalen | |
Solidarität mit anderen Völkern. | |
Von der neuen Bundesregierung fordere ich, Asylverfahren nach den Standards | |
des internationalen Rechts durchzuführen. Und dass die Menschen, die hier | |
leben, eine Chance auf Integration bekommen. Dazu gehören Sprachkurse, dass | |
man arbeiten oder eine Berufsausbildung absolvieren darf. Anstatt Hass zu | |
säen, sollte die Politik Rassismus und alle anderen Formen der | |
Diskriminierung vehement bekämpfen. * Name geändert, Protokoll: Franziska | |
Schindler | |
## Stina Uebe ist fünf Monate zu jung zum Wählen | |
Ich bin 17 Jahre alt und hätte dieses Jahr eigentlich zum ersten Mal bei | |
einer Bundestagswahl teilnehmen sollen. Doch da die Wahl vorgezogen wurde, | |
klappt das jetzt nicht. Zwischen Februar und September werden viele | |
Jugendliche aus dem Jahrgang 2007 volljährig, die ihre Stimme nun nicht | |
abgeben dürfen. Das ist sehr ärgerlich. Es geht nur um wenige Monate! | |
Es verständlich, dass jüngere Kinder noch kein Wahlrecht haben, weil sie | |
noch nicht in der Lage sind, sich ausreichend zu informieren und dann eine | |
eigene Meinung zu bilden. Aber bei uns geht es nur um ein paar Monate, | |
wegen derer wir jetzt nicht über unsere Zukunft mitentscheiden dürfen. | |
Dabei gehören wir zu der Generation, die mit den Folgen politischer | |
Entscheidungen mit am längsten leben muss. | |
In unserem Alter sind wir durchaus in der Lage, politische Entscheidungen | |
zu durchdenken. Wir bekommen tagtäglich mit, was in der Welt geschieht. Man | |
kann sich ziemlich hilflos fühlen, wenn man dann von großen Entscheidungen | |
wie der über den neuen Bundestag ausgeschlossen wird. Es ist | |
angsteinflößend und frustrierend, wenn man realisiert, dass viele Menschen | |
in Deutschland politische Entscheidungen treffen, die man für falsch hält. | |
Gerade in solchen Momenten wünscht man sich, selbst Einfluss nehmen zu | |
können. | |
So viele Wahlberechtigte sind 70 Jahre und älter. Sie müssen die Folgen | |
einiger Entscheidungen nicht mehr so lange mittragen wie wir. Ob sie da | |
wirklich mit Blick auf die Zukunft unserer Generation wählen und nicht nur | |
auf die nächsten Jahre? Es macht mir Sorge, dass sie so viel Macht über | |
meine Zukunft haben. | |
Viele Leute wählen auch aus Angst vor der Zukunft AfD. Das hat sich zum | |
Beispiel im letzten Jahr bei den Landtagswahlen gezeigt. Da erhielt die AfD | |
die größte Zustimmung auf dem Land, wo die Wähler*innen ihre | |
wirtschaftliche Lage als eher schlecht beschrieben haben. Außerdem sind | |
viele Wähler*innen von den anderen Parteien enttäuscht und sagen, dass | |
die AfD durch ihr lautes und auffälliges Verhalten für sie „Stärke“ | |
verkörpert. Das alles spricht doch dafür, dass es umso wichtiger ist, | |
unsere Generation stärker einzubeziehen, zu informieren und uns Kontrolle | |
über unsere Zukunft zu geben, anstatt dies den Älteren zu überlassen. | |
Viele Jugendliche engagieren sich schon: bei Fridays for Future, Demos oder | |
in sozialen Medien. So wollen wir zeigen, dass wir Verantwortung übernehmen | |
können und auch wollen. Ich würde mir wünschen, dass wir nur, weil wir „zu | |
jung“ sind, nicht vergessen werden und andere Mitbestimmungsrechte | |
bekommen, um uns aktiv beteiligen zu können. Es geht schließlich um die | |
Gestaltung unserer Zukunft. | |
19 Feb 2025 | |
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[1] /Linke-Politikerin-Heidi-Reichinnek/!6063355 | |
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## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
Dinah Riese | |
Franziska Schindler | |
Anastasia Magasowa | |
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