Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aktivist Beck für Wahlrechtexperimente: „Wir brauchen einen Neus…
> Wieder droht ein AfD-Wahlerfolg, das Vertrauen in die Demokratie sinkt.
> Ralf-Uwe Beck von Mehr Demokratie fordert „Experimente“ beim Wahlrecht.
Bild: Auch bei einer 3-Prozent-Hürde würde es für Kleinparteien wie Volt sch…
taz: Herr Beck, die Bundestagswahl naht und es drohen – wie schon bei den
[1][jüngsten Landtagswahlen im Osten] – Wahlerfolge der rechtsextremen AfD.
Die Demokratie steht unter Druck. [2][Ihr Verein] fordert deshalb einen
„Innovationsschub“ für die Demokratie und „Experimente“. Was genau?
Ralf-Uwe Beck: Es gibt eine große Unzufriedenheit, wir verzeichnen ein
sinkendes Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Der Eindruck
vieler Menschen ist, dass „die da oben“ machen, was sie wollen. Sie wenden
sich ab oder wählen, schlimmer noch, Extremisten. Da muss uns etwas
einfallen. Deshalb sollte sich die Politik bewegen und den Bürgerinnen und
Bürgern signalisieren, dass ihr Mittun wertvoll ist für die Demokratie. Wir
brauchen einen Neustart der Demokratie, Innovationen und Experimentierräume
bei der Bürgerbeteiligung, aber auch bei Wahlen.
Sie fordern etwa die Absenkung der Fünf-Prozent-Hürde auf eine
Drei-Prozent-Hürde. Was würde das helfen?
Beck: Für Wahlen gilt das Gleichheitsprinzip: Alle Stimmen wiegen gleich
schwer, die des 18-Jährigen genau wie die der 80-Jährigen, die der
erfolgreichen Unternehmerin genauso wie die des Bürgergeldempfängers. Hier
scheint die Vision einer gerechten Gesellschaft auf, in der alle Menschen
dieselben Chancen haben, dieses Land zu gestalten. Das wird mit einer
Sperrklausel ausgehebelt, weil dann Stimmen einfach unter den Tisch fallen,
also nicht im Parlament repräsentiert sind – bei Landtagswahlen sind das
zehntausende, bei Bundestagswahlen gar Millionen.
[3][Laut aktuellen Umfragen] könnte das bei der jetzigen Bundestagswahl bis
zu 20 Prozent der Stimmen betreffen – wenn BSW, Linke, FDP und kleinere
Parteien nicht in den Bundestag einziehen.
Beck: Genau. Das wirft die Frage auf, ob der Eingriff in die
Wahlrechtsgrundsätze durch die Sperrklausel, jedenfalls in dieser Höhe,
noch gerechtfertigt ist. Es könnte gut sein, dass dies auch mit einer
Drei-Prozent-Hürde erreicht wird. Die fünf Prozent sind jedenfalls nicht in
Stein gemeißelt.
Das Ziel der Fünf-Prozent-Hürde – eine Zersplitterung der Parlamente zu
verhindern und stabile Regierungen zu ermöglichen – sehen Sie als überholt?
Beck: Das sehen wir doch gerade [4][in Thüringen], wo nach den Wahlen eben
keine demokratische Mehrheit mehr zustande kommt. Und die AfD hat in
Brandenburg und Thüringen nun eine Sperrminorität, in Sachsen ist sie knapp
daran vorbeigeschrammt – was nicht der Fall wäre, wenn noch andere Parteien
im Landtag säßen, in Brandenburg etwa die Grünen. Eine Absenkung der
Fünf-Prozent-Hürde würde Regierungsbildungen wieder erleichtern und
Sperrminoritäten verhindern.
Die Sperrklausel ganz abschaffen wollen Sie aber nicht?
Beck: Nein. Aber es wäre der Auftrag des Gesetzgebers, die Prozenthürde
regelmäßig zu überprüfen, ob sie noch angemessen ist.
Sie fordern auch die Einführung einer Ersatzstimme. Was hat es damit auf
sich?
Beck: Das wäre eine Ergänzung – umso mehr, wenn die Fünf-Prozent-Hürde
Bestand hat. Das bedeutet, dass ich auf meinem Wahlzettel eine zweite
Option ankreuzen kann, falls meine favorisierte Partei vermutlich nicht ins
Parlament einzieht. Damit würde die Stimme nicht unter den Tisch fallen.
Aber es würde die Wahlzettel noch komplizierter machen.
Beck: Das glaube ich nicht. Sie haben Recht: Das Wahlrecht muss
verständlich sein. Aber man könnte das zum Beispiel mit Ziffern machen.
Eine Partei wähle ich mit einer „1“, eine andere mit einer „2“. So
kompliziert wäre das nicht.
Aber schon bei der jüngsten Wahlrechtsreform im Bund hat man gesehen, wie
umkämpft dieses Thema ist. Die Union will diese Reform im Falle eines
Wahlsiegs direkt wieder zurücknehmen.
Beck: Ja, Wahlrechtsreformen sind wirklich dicke Bretter. Da gibt es enorme
Vorbehalte der Parteien. Es wird immer durchkalkuliert, ob das für sie mehr
oder weniger Stimmen bringen würde. Deshalb machen wir noch einen
Vorschlag: Lasst uns Innovationen erstmal im Kommunalen ausprobieren. Mit
der Aufnahme einer Experimentierklausel ins Kommunalwahlrecht wäre das
möglich.
Experimentierklausel, was wäre das jetzt wieder?
Beck: Das wäre eine Klausel, die es Kommunen ermöglichen würde, bei
Kommunalwahlen das eine oder andere Instrument für eine Modernisierung des
Wahlrechts auszuprobieren. Diesen Instrumentenkasten müsste man definieren
– wie ein Innovationsbuffet, an dem sich die Kommunen bei ihren
Bürgermeister- oder Gemeinderatswahlen bedienen könnten.
Nennen Sie bitte mal ein Beispiel für ein Instrument.
Beck: Ein Beispiel wurde zu Corona-Zeiten erprobt: Eine Briefwahl für alle,
also die automatische Zustellung der Briefwahlunterlagen. Man konnte
dennoch ins Wahllokal gehen, aber es haben sich sehr viel mehr Menschen für
die Briefwahl entschieden als früher. Das hat die Wahlbeteiligung um 15
Prozentpunkte gesteigert. Was im Krisenmodus probiert wurde, könnten wir
zum Normalfall werden lassen, es mindestens zum Ausprobieren anbieten.
Haben Sie noch ein Beispiel?
Beck: Die Einführung einer Proteststimme. Wenn Sie sich bisher enthalten
und kein Kreuz auf dem Wahlzettel machen, ist Ihre Stimme ungültig.
Sinnvoller aber wäre ein weiteres Kästchen, mit dem man die Möglichkeit
hat, anzukreuzen, dass man sich bei keiner der Parteien wiederfindet. Für
Menschen, die einfach die Schnauze voll haben und bei Wahlen kein Angebot
finden. Weshalb viele dann die Partei wählen, die den größten
gesellschaftlichen Wirbel verursacht. Und das sind dann eben oft die
Rechtsextremisten.
Aber viele wählen die AfD inzwischen nicht mehr aus Protest, sondern weil
sie genau deren Politik wollen.
Beck: Das stimmt. Aber der Anteil der Protestwähler unter den
AfD-Wählerinnen und Wählern ist immer noch nennenswert. Er lag vor Jahren
bei 65 Prozent, zuletzt geschätzt aber immer noch bei rund 35 Prozent. Und
wenn von diesen etliche nicht mehr die AfD wählen, sondern ihr Kreuz bei
einer Proteststimme machen und sich so enthalten, wäre das ein Gewinn.
Aber wäre es nicht letztlich ein folgenloses Ventil?
Beck: Ja, es wäre ein Ventil, aber ein sichtbares, ein Hilferuf. Diese
Stimme würde ja im Wahlergebnis mit ausgewiesen und von Medien sicher
aufgegriffen. Es wäre ein Schuss vor den Bug der anderen Parteien, sich um
diese Wähler zu kümmern.
Sie fordern auch deutlich mehr direkte Demokratie und Senkung der Hürden
für Petitionen, Volksbegehren oder digitale Beteiligung. Woran hapert es
da?
Beck: Es gibt auf Bundesebene keine Volksbegehren oder Volksentscheide –
ich halte das für die größte Demokratiebaustelle in Deutschland. Und in
einigen Bundesländern haben diese Instrumente meist so hohe Hürden, dass
sie Bürgerrechte nur vorgaukeln. Sachsen hat bundesweit die höchsten
Unterschriftenhürden. In Brandenburg werden die Menschen gezwungen, für
eine Unterschrift aufs Amt zu gehen, statt sie an der Haustür oder online
abzugeben. In Thüringen gilt ein Finanztabu, da darf über nichts abgestimmt
werden, das etwas kostet – was absurd ist, weil alles, was politisch
entschieden wird, etwas kostet, und die Bürger mit ihrem Steuergeld jede
Zeche zahlen. Die direkte Demokratie wird mit einem Misstrauen belegt, das
nicht zu rechtfertigen ist. Diese Hürden müssen weg, sonst fühlen sich die
Leute vergackeiert.
Etwas direkte Demokratie gibt es ja: [5][Im Bundestag etwa können
Petitionen eingereicht werden]. Knacken diese ein Quorum von 30.000
Unterschriften, wird das Anliegen in einem Ausschuss angehört.
Beck: Nun, direkte Demokratie nennen wir nur, was zu verbindlichen
Entscheidungen führt. Aber das Petitionsrecht ist exzellent, um den Dialog
zwischen Initiativen und Parlament zu befördern. Es gibt solche
Öffentlichen Petitionen auch in sechs Landtagen – wir brauchen sie überall.
Ich habe selbst so eine Anhörung bei mir in Thüringen miterlebt. Man wird
angehört, kann mit den Abgeordneten diskutieren – das ist großes Kino. Es
gibt keinen Grund, das nicht überall einzuführen.
Instrumente der direkten Demokratie können aber auch von AfD und
Rechtsextremen hetzerisch genutzt werden.
Beck: Das ist richtig. Deshalb ist es sehr wichtig, möglichst lange Fristen
für die Unterschriftensammlungen zu haben und die Menschen vor
Entscheidungen ausgewogen zu informieren. Für Volksbegehren gilt in allen
Ländern zudem, dass Grund- und Minderheitenrechte nicht angetastet werden
können.
In der Schweiz konnten die [6][Rechtsaußen der SVP Abstimmungen für sich
nutzen] und etwa ein Minarettverbot durchsetzen.
Beck: Diese Volksbegehren wären in keinem der deutschen Bundesländer
zugelassen worden. Die SVP hat sich ein paar Mal durchgesetzt. Aber
mittlerweile hat die Zivilgesellschaft gelernt, sich nicht auf Umfragen
zurückzuziehen, nach dem Motto „Wird schon nichts passieren“, sondern dass
sie kämpfen muss. Und nun setzt sich die SVP viel weniger durch.
Sie plädieren auch für einen Volkseinwand, wie es ihn in der Schweiz gibt.
Was bewirkt dieser?
Beck: In der Schweiz ist es das älteste direktdemokratische Instrument.
Damit treten neue Gesetze erst 100 Tage, nachdem sie beschlossen wurden, in
Kraft. In diesen hundert Tagen können die Bürger, wenn sie das Gesetz nicht
überzeugt, dagegen Unterschriften sammeln. Unterschreibt ein Prozent der
Stimmbevölkerung, tritt das Gesetz nicht in Kraft, sondern es gibt einen
Volksentscheid darüber. Es ist nicht so, dass dieses Mittel inflationär
genutzt würde, aber der Effekt ist, dass mehr mit den Menschen geredet und
weniger über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Gibt es diesen
Volkseinwand, würde weniger auf „die da oben“ gezeigt, weil sie eben doch
nicht machen können, was sie wollen. Außerdem: Wenn die AfD wirklich mal in
eine Regierung käme, hätte die Zivilgesellschaft ein Instrument in der
Hand, um die Rechtsextremen zu stoppen und Gesetzgebung wieder
zurückzuholen.
Und all das würde die Demokratie reparieren?
Beck: Viele Menschen schieben in diesem 35. Jubiläumsjahr der Deutschen
Einheit Frust, weil das Versprechen, eine gemeinsame Verfassung
auszuarbeiten und dann die direkte Demokratie auch auf Bundesebene
vorzusehen, nicht eingelöst wurde. Allein die Diskussion über eine
Weiterentwicklung der Bürgerrechte würde schon wirken wie ein
Frustschutzmittel. Und käme es zu echten Reformen, hätten der Bund und die
Länder die Chance, Verfassungsschutzgeschichte zu schreiben.
11 Feb 2025
## LINKS
[1] /Wahlen-in-Ostdeutschland-2024/!t5993946
[2] https://www.mehr-demokratie.de/
[3] /Schwerpunkt-Bundestagswahl-2025/!t5007549
[4] /Regierungsbildung-in-Thueringen/!6051368
[5] https://www.bundestag.de/petitionen
[6] /Parlamentswahlen-in-der-Schweiz/!5965216
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Direkte Demokratie
Mehr Demokratie
Demokratie
Wahlrecht
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Fünf-Prozent-Hürde
GNS
Social-Auswahl
Nichtwähler
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Repräsentation
Wahlkampf
Wahlen in Ostdeutschland 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nichtwähler*innen: Ohne Stimme
Rund 12 Millionen Erwachsene und rund 14 Millionen Kinder und Jugendliche,
die hier leben, dürfen nicht wählen. Mit einigen hat die taz gesprochen.
Generaldebatte im Bundestag: Streit und Einigkeit
Merz und Scholz fallen in der letzten Bundestagssitzung der
Legislaturperiode noch mal übereinander her. Doch es gibt auch Szenen der
Übereinkunft.
Redesign demokratischer Repräsentation: Wählen nicht mehr für die Tonne
Wahlurnen symbolisieren den Kern der Demokratie, aber sehen aus wie
Mülltonnen. Ein Projekt in Hamburg sucht neue Designs und will das Wählen
weiterentwickeln.
Demokratie in 100 Jahren: Stell dir vor, es ist Wahlkampf und es geht um Inhalte
Unsere Kolumnistin verzweifelt über die Kampagnen zur Bundestagswahl. Doch
ihr zeitreisender Freund macht ihr Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Nach den Wahlen in Ostdeutschland: Zivilgesellschaft, was nun?
Diese Menschen haben engagiert für die Demokratie gekämpft, doch die
Wahlerfolge der AfD konnten sie nicht verhindern. Wie geht es weiter?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.