# taz.de -- Der Hausbesuch: Frauenwahlrecht in der Schweiz | |
> Isabel Rohner war zehn, als im Kanton Appenzell über das Frauenwahlrecht | |
> abgestimmt wurde. Gleichberechtigung wurde ihr Lebensthema. | |
Bild: Die 43-jährige Isabel Rohner in ihrer Berliner Wohnung | |
Wer erlebt hat, wie den Frauen die Eignung für die politische Mitbestimmung | |
abgesprochen wird, kann nur Feministin werden. Davon ist die Schweizerin | |
und Wahlberlinerin Isabel Rohner überzeugt. | |
Draußen: Das Eckhaus in Kreuzberg, in dem Rohner mit ihrem Mann lebt, ist | |
eher unscheinbar. An einer Seite liegt eine wild befahrene | |
Hauptverkehrsstraße mit U-Bahn-Station, an der anderen eine Einbahnstraße | |
mit vielen Graffiti. | |
Drinnen: Aus allen Fenstern der zweistöckigen Maisonette-Wohnung blickt man | |
auf den begrünten Innenhof. Die Einrichtung ist maximalistisch: An den | |
roten, grünen und gelben Wänden hängen große Gemälde in knalligen Farben. | |
Einige stammen von Rohners Großvater, „der war Kirchenmaler“, andere von | |
ihrem Mann, „der malt bislang nur für uns“. Isabel Rohner bietet | |
frischgebackenen Apfelkuchen nach Mutters Rezept an. | |
Sich binden: Ihr Mann hat sich in die obere Etage zurückgezogen. Als sie | |
jünger war, dachte Rohner, dass sie niemals zum Standesamt gehen würde: | |
„Ich habe die Ehe immer als Institution gesehen, die Frauen unterdrückt.“ | |
Heute meint sie: „Ehe bedeutet, sich ganz zu jemandem zu bekennen.“ | |
Geballte Faust: Dass Gleichberechtigung ihr Thema ist, zeigt sich überall | |
in der Wohnung: Über dem Klavier hängt ein Porträt von Virginia Woolf, im | |
Bad liegen feministische Comics, auf einem Stiftehalter im Arbeitszimmer | |
steht der Slogan „Paygap schließen“. Und am orangefarbenen Kühlschrank | |
hängt das Cover des von Isabel Rohner in der Schweiz herausgegebenen Buches | |
„50 Jahre Frauenstimmrecht“. Darauf: eine Frau mit geballter Faust. | |
Vor und zurück: In Deutschland dürfen Frauen seit 1918 wählen: Folgerichtig | |
heißt Rohners deutsches Äquivalent zum Schweizer Buch: „100 Jahre | |
Frauenwahlrecht – Ziel erreicht! … und weiter?“ Auf die Frage nach dem | |
Stand der Frauenrechte meint sie: „Wir sind weiter als vor 100 Jahren. | |
Trotz Backlash.“ Bei Backlash, also Rückschritt, fällt ihr spontan | |
Afghanistan ein, wo die Taliban [1][Frauen erneut die Grundrechte | |
weggenommen haben]. „Aber wenn Leute jetzt sagen, es sei ein Fehler | |
gewesen, da reinzugehen, sage ich: ‚Nein!‘ In den Jahren, in denen die | |
Taliban nicht da waren, haben Mädchen Schulbildung erhalten. Allein dafür | |
war es das wert.“ | |
Lösungsansätze: Auch in Deutschland gebe es viel zu tun: „Frauen übernehmen | |
mehr Sorgearbeit und stecken beruflich zurück.“ Sie sieht die Politik in | |
der Pflicht, den Rahmen zu setzen für eine wirkliche Gleichberechtigung. | |
Dazu würde beispielsweise gehören, Elternzeit partnerschaftlich aufzuteilen | |
Misogynie: Am langen Holztisch im Wohnzimmer erzählt Isabel Rohner, dass | |
ihr Bewusstsein für Frauenrechte mit der Diskussion über die [2][Einführung | |
des Frauenwahlrechts im Kanton Appenzell] begonnen habe. Ihre Patentante | |
wohnt dort. Appenzell liegt mitten in ihrem Herkunftskanton St. Gallen, wie | |
ehemals Westberlin in der DDR. Okay, den Vergleich findet sie hart, aber | |
sei’s drum. „Damals habe ich im Fernsehen und Radio lauter misogyne Stimmen | |
gehört. So was wie: ‚Aber können Frauen überhaupt wählen?‘ Oder: ‚Sol… | |
Frauen wirklich über den Bau einer Turnhalle mitbestimmen dürfen?‘“ Rohner | |
macht den Ton der Herren im Radio nach und sagt dann: „Wenn Frauen nicht | |
mitwählen dürfen, ist eine Demokratie keine Demokratie.“ Die Debatten seien | |
besonders absurd gewesen, da auch die Appenzellerinnen seit 1971 auf | |
Bundesebene wahlberechtigt waren. Auf kantonaler Ebene wurde ihnen das | |
Wahlrecht jedoch verwehrt. | |
Gerechtigkeit: Ihre Eltern hätten sich immer bemüht, Rohner und ihre Brüder | |
gleich zu behandeln: „Alle mussten helfen.“ Zudem lebten sie ihnen eine | |
gleichberechtigte Partnerschaft vor: „Die haben sich beide aufgeregt, wenn | |
meine Mutter eine Unterschrift von meinem Vater brauchte, um beispielsweise | |
eine Anschaffung zu machen.“ Durch ihre selbstbestimmte Mutter, die ihr | |
schon als Kind Bücher über die Geschichte der Suffragetten geschenkt habe, | |
entwickelte auch sie früh ein Gespür für Ungleichheiten in der Behandlung | |
von Jungs und Mädchen: „Meine Brüder haben oft Geld geschenkt bekommen, ich | |
Schokolade.“ Die Brüder beneideten sie: „Aber ich fand es doof. Mit Geld | |
kann man mehr machen.“ | |
Kindheitsheldinnen: Da sie in Büchern und Filmen keine Rollenvorbilder | |
fand, erschuf sie selbst welche: „Ich habe Jamie Bond oder Tarzanina | |
gespielt.“ Auch in den Geschichten, die sie zu schreiben begann, spielten | |
Mädchen die Hauptrollen: „Das waren krimiähnliche Texte, inspiriert von den | |
‚Drei Fragezeichen‘.“ | |
Gesellschaftssatire: Heute schreibt sie mitunter Krimis, die sie als | |
„trojanische Pferde“ bezeichnet, und die, wie ihre Sachbücher, in einem | |
Verlag rauskommen, der sein frauenspezifisches Profil nie aufgeweicht hat. | |
„Die Geschichten sind vermeintlich unterhaltsam, dabei geht es um ernste | |
Themen wie Sexismus und Gewalt gegen Frauen“ – wie in Rohners neuestem Buch | |
„Kalte Sophie“. Gelabelt werden ihre Romane als feministische Kicherkrimis: | |
„Wäre ich ein Mann, würde man sie als politische Gesellschaftssatire | |
bezeichnen.“ Mit ihrem Schreiben sieht sie sich in der Tradition Hedwig | |
Dohms, der Publizistin, Romancière und Literaturkritikerin, die bereits | |
1873 das Stimmrecht für Frauen forderte und für deren rechtliche, soziale | |
und ökonomische Gleichstellung eintrat – „etwas, was wir bis heute nicht | |
erreicht haben“. | |
Vorbild: Entdeckt hat sie Hedwig Dohm im Germanistikstudium. Der Roman | |
„Schicksale einer Seele“ stand auf der Literaturliste: „Ich war | |
fasziniert.“ Rohner fragte sich damals: „Warum kenne ich sie nicht? Was ist | |
der Unterschied zwischen ihr und Fontane?“ Ab 1998 begann sie, alles von | |
Hedwig Dohm zu sammeln. | |
Wiederentdeckung: „Erst in den 70er Jahren wurden einige wenige Texte von | |
Hedwig Dohm neu aufgelegt, waren dann aber schnell wieder vergriffen.“ Die | |
Frauen der damaligen Frauenbewegung seien über die Entdeckung erstaunt | |
gewesen, sagt Isabel Rohner: „Sie hatten doch gemeint, dass sie die ersten | |
seien, die erkannten, dass sie auf die Mutterrolle reduziert werden.“ | |
Rohner wirft ihre Arme in die Luft, als ergebe sie sich: „Der Witz ist, | |
dass jede Frauenbewegung denkt, sie müsste das Rad neu erfinden.“ Dabei | |
habe es auch schon vor Hedwig Dohm Frauenrechtlerinnen gegeben. „Die | |
Geschichte der Frauen ist eine unerzählte – bis heute“, sagt sie. | |
Kanon: Die Gründe, warum die zu ihren Lebzeiten wirklich bekannte Hedwig | |
Dohm kurz nach ihrem Tod im Jahr 1919 weitestgehend vergessen wurde, sind | |
laut Rohner mannigfaltig: Dohm, übrigens die Großmutter von Katja Mann, der | |
Frau von Thomas Mann, stammte aus einer jüdischen Familie, deren Nachfahren | |
unter den Nazis Deutschland verlassen mussten. Auch hatte Dohm ihren | |
Nachlass nicht geordnet: „Und der Fokus auf Frauen, die sich politisch | |
äußern, war ohnehin nie groß.“ Sowieso seien Autorinnen bis heute weniger | |
sichtbar als Autoren. Rohner zitiert aus einer Studie der Universität | |
Rostock: „In allen Medien wird Autoren bei Besprechungen mehr | |
Aufmerksamkeit entgegengebracht: Zwei Drittel der rezensierten Bücher sind | |
von Männern verfasst.“ Und dass, o[3][bwohl mehr Frauen] Bücher lesen als | |
Männer. „Als Leserin beschäftigt man sich ständig mit dem männlichen | |
Blick.“ | |
Durchhalten: Seit 2006 arbeitet Isabel Rohner gemeinsam mit einer | |
Historikerin an einer mehrbändigen Gesamtausgabe der Werke Dohms: „Hätten | |
wir, wie sonst bei solchen Editionen üblich, eine Förderung erhalten, wären | |
wir längst fertig. So machen wir alles auf unsere Kosten und müssen aufs | |
Rentenalter warten, um Zeit für den Rest zu finden.“ | |
Kraft: Hauptberuflich arbeitet Rohner in der Bildungspolitik: „Ich habe | |
vier bis fünf Wochen im Jahr frei, in denen ich zum Schreiben komme.“ Damit | |
sei sie glücklich: „Ich habe einen Traumjob, eine große Sinnhaftigkeit.“ | |
Ihr Schreiben sieht sie nicht als Arbeit: „Jeder Mensch braucht doch etwas, | |
woraus er Kraft schöpft.“ | |
Humor: Dass es keine Fördergelder für die Gesamtausgabe Dohms gegeben habe, | |
hält Isabel Rohner nicht für Zufall. Ein möglicher Geldgeber habe gesagt: | |
„Ich fasse das mal zusammen: Sie wollen das Werk einer toten Feministin | |
rausbringen. Und sind zwei lebende Feministinnen. Das sind gleich drei | |
Gründe für eine Absage.“ So etwas sitzt. „Ohne Humor können sich | |
Feministinnen nur einen Strick nehmen“, sagt sie | |
13 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Zwei-Jahre-Machtuebernahme-in-Afghanistan/!5949937 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenstimmrecht_in_der_Schweiz | |
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1341969/umfrage/haeufigkeit-… | |
## AUTOREN | |
Eva-Lena Lörzer | |
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