# taz.de -- Der Hausbesuch: Neuanfang im Neuwirtshaus | |
> Als der Krieg gegen die Ukraine begann, nahm Stephan Wichmann Geflüchtete | |
> in seinem Hotel auf. Sie leben mit regulären Gästen zusammen. | |
Bild: Stephan Wichmann hat Geflüchtete in sein Hotel aufgenommen | |
Womöglich wird in Stephan Wichmanns „Neuwirtshaus“ etwas häufiger geweint, | |
als in anderen Hotels. Es sind Tränen der Trauer und der Freude, und so | |
mancher Gast wundert sich. | |
Draußen: Am nordwestlichen Rand von Stuttgart liegt der Stadtteil | |
Neuwirtshaus, Bezirk Zuffenhausen, direkt am Industriegebiet. Wo die | |
Bundesstraße 10 und eine Landstraße kreuzen, steht das Hotel | |
„Neuwirtshaus“. Autos rauschen vorbei. Auf den ersten Blick kein Ort zum | |
Verweilen. Hotelchef Stephan Wichmann sieht das anders. Man müsse nur über | |
die Kreuzung gehen, sagt er. Da gäbe es Spielplätze und den schönen kleinen | |
Wald. | |
Drinnen: Im Hotel ist es am Nachmittag ruhig, obwohl es fast voll belegt | |
ist. Eine Mutter mit ihren zwei Kindern erscheint an der Rezeption. Sie | |
sprechen Russisch oder Ukrainisch. Der Unterschied ist für Unkundige nicht | |
einfach herauszuhören. Aktuell leben knapp 65 Ukrainer:innen im Haus. | |
Stephan Wichmann führt in das Hotelrestaurant, die Tische sind für die | |
abendlichen Gäste hergerichtet. Weiße Tischdecken, Trockenblumen, und graue | |
Kissen schmücken die hellen Bänke. | |
Kriegsausbruch: Der Hotelchef erinnert sich genau an den Moment, als er vom | |
[1][russischen Angriff auf die Ukraine] erfuhr. „Ich hatte Corona und war | |
zu Hause in Quarantäne, als es in den Nachrichten kam. Ich habe dann die | |
ganze Nacht ferngeschaut. Das war so furchtbar und ich fühlte mich eine | |
Woche lang wie gelähmt“, sagt er. Schon kurz nach Kriegsausbruch, Ende | |
Februar 2022, sprach eine Lokalpolitikerin seinen 79-jährigen Vater an. Ob | |
die Wichmanns zwei ukrainische Frauen mit deren fünf Kindern kurzfristig | |
bei sich zu Hause aufnehmen könnten? „Wir sind in der Not eingesprungen“, | |
sagt Stephan Wichmann. In seinem Bekanntenkreis hätten das viele ebenfalls | |
gemacht. Knapp zwei Monate blieben die Frauen, bevor sie etwas anderes | |
fanden. | |
Notunterkunft: Anfang März schrieb der Hotelverband Dehoga Hoteliers an. | |
Die Städte suchten für die große Zahl ankommender Geflüchteter [2][dringend | |
Notunterkünfte]. Dafür zahle die Stadt 30 Euro pro Person für die | |
Übernachtung und 15 Euro fürs Essen, hieß es. Das ist nicht viel, habe | |
Wichmann nach der schweren Pandemiezeit aber Planungssicherheit gegeben. | |
Nun leben zwischen 50 und 65 Geflüchtete im Hotel. Zusätzlich zu den bis zu | |
20 regulären Gästen. | |
Verirrt: Wichmann hat in den vergangenen zwei Jahren viel vom Leben seiner | |
Gäste erfahren. Eine Familie brachte ihren demenzkranken Vater mit. Als sie | |
den Mann mal alleine ließen, begab er sich auf Erkundungstour durchs Hotel. | |
„Er rannte hin und her, wollte immer wieder, dass wir ihm die Türen | |
aufschließen, obwohl er einen Schlüssel hat“, erinnert sich der Hotelchef. | |
Am Ende habe der Senior eine Tür eingetreten und Wichmann samt Angestellten | |
wussten nicht so recht, was tun. | |
Tränen: Zum Alltag gehören auch bangende Familien, wenn sie etwa den an der | |
Front kämpfenden Vater nicht erreichen. Manchmal erhielten sie Gewissheit, | |
dass er nie wieder erreichbar sein würde. Da sei so viel Verzweiflung. Aber | |
auch Tränen der Erleichterung gäbe es im Hotel. Etwa, als eine Familie | |
endlich erfährt, dass der Vater bald zu ihnen stößt. „Man hat schon Wochen | |
vorher gemerkt, wie die darauf hingefiebert haben“, sagt Wichmann. Als der | |
Mann dann da war, haben sie alle vor dem Hotel beisammen gesessen und mit | |
einem Glas Wein angestoßen. „Es gibt viel Schönes. Ein paar Babys sind hier | |
zur Welt gekommen“, sagt er. | |
Kinder: Überwiegend beherbergt er Frauen und Kinder. Wichmann bemühe sich, | |
den Kindern im Hotel ein Stück Normalität zu bieten. So habe er mit | |
Bekannten für ein Kind Ringtraining organisiert, für ein anderes | |
Geigenunterricht und für alle ein Keyboard ins Haus geholt. „Mit | |
Spendengeldern haben wir für ein behindertes Kind einen speziellen | |
Rollstuhl beschafft.“ Im Restaurant stellte er kurzerhand eine | |
Spendenkasse auf. Auf den Tischen lag ein Hinweis für die regulären Gäste. | |
Das zusätzliche Geld investierte man in Spielsachen oder Cola und Säfte. | |
Denn in den fünf Euro pro Mahlzeit, die zur Verfügung stünden, seien solche | |
Extras nicht drin. | |
Motivation: „Ich will mich nicht als Gutmensch hinstellen. Wir kriegen Geld | |
für die Unterkunft und das hat uns nach der Pandemie gutgetan. Aber der | |
ursprüngliche Impuls kam, weil ich furchtbar fand, was da passierte.“ Für | |
ihn sei völlig klar gewesen, dass er helfen wolle. Stephan Wichmann, selbst | |
Vater, findet, dass die Ukrainer:innen auch für unsere Freiheit kämpfen. | |
Seine Befürchtung: Hätte Putin seinen Plan innerhalb von drei Wochen | |
umgesetzt und einen „Regimetausch dort durchgekriegt“, wäre er vielleicht | |
als Nächstes an der Grenze eines Nato-Landes gestanden. „Dann sind es | |
unsere Soldaten, die sterben.“ Er möchte nicht, dass seine kleine Tochter | |
in so einer Welt aufwächst. | |
Hotelgäste: Die regulären Gäste frühstücken Tisch an Tisch mit den | |
ukrainischen Bewohner:innen und auf den Fluren ist es auch mal laut, | |
wenn Kinder spielen. Die meisten Gäste zeigen Verständnis. Doch manchmal | |
bekäme er Anrufe von Menschen, die fragten, ob noch Ukrainer bei ihm | |
lebten, weil wenn ja, dann würden sie nicht kommen. „Zack, wird aufgelegt.“ | |
Wer ein Zimmer bucht, wird vom Personal im Vorfeld über die Umstände | |
aufgeklärt. Auch, dass beim Frühstücksdienst mal jemand gebrochen Deutsch | |
spreche. Sechs Ukrainer:innen hat Wichmann Minijobs im Hotel gegeben. | |
International: Wichmann ist es gewohnt, verschiedene Kulturen zu | |
beherbergen. Das Hotel ist genau genommen ein Boardinghaus. Die Zimmer | |
haben eine Kochnische, weil hier größtenteils internationale | |
Mitarbeiter:innen großer Firmen für einige Wochen ein Zimmer buchen. | |
In Zuffenhausen hat nicht nur Porsche seinen Hauptsitz, sondern viele | |
weitere Industrieunternehmen. „Dieses Multikulti war immer ein bisschen | |
mein Ding. Unsere Gäste kommen aus Indien, Korea, Japan, Brasilien, aber | |
auch viel Europa wie aus Ungarn oder der Türkei.“ Als sein Vater, ein | |
Hobbypilot, noch jünger gewesen sei, flog er japanische Gäste mit einer | |
Cessna herum. Das sei die beste Werbung gewesen, findet er. | |
Ärger: Mehr als die Hälfte der Menschen im Bezirk Zuffenhausen haben einen | |
Migrationshintergrund, in manchen Teilen des Bezirks sogar drei von vier. | |
Im kleinen Stadtteil Neuwirtshaus sind es nicht einmal ein Viertel. Hier | |
leben gerade einmal 800 Menschen. Die Stuttgarter Stadtverwaltung braucht | |
dringend Wohnungen für Geflüchtete und möchte Container für 250 Menschen | |
auf dem Sportplatz des einzigen Sportvereins aufstellen. Der liegt | |
gegenüber von Wichmanns Hotel. Die Bewohner:innen des Stadtteils | |
protestieren, finden die Zahl unverhältnismäßig. Bei einer Sitzung des | |
Bezirksbeirats im Herbst machten sie ihrem Unmut Luft. | |
Mission: Wichmann bedauert die Reaktionen. Hätte er das gewusst, wäre er in | |
die Sitzung gegangen, hätte von seinen Gästen erzählt, von dem | |
Demenzkranken oder der Influencerin, die in der Ukraine eine Berühmtheit | |
sei, nun aber mit ihren Kindern in einem kleinen Zimmer lebe. Oder von dem | |
ukrainischen Soldaten, der acht Jahre gedient habe und stolz auf die | |
deutschen Waffen gewesen sei. Das treffe auf Verständnis bei seinen | |
Gesprächspartner:innen. Es scheint ein bisschen Wichmanns Mission zu sein, | |
er möchte dazu beitragen, sagt er, dass sich bloß keine Gewöhnung | |
einstelle, weil der Krieg schon so lange dauere. „Ich habe dann nicht die | |
Welt verändert – natürlich. Aber so ein kleines bisschen. Vielleicht“, sa… | |
Wichmann. | |
24 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Marta Popowska | |
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