# taz.de -- Der Hausbesuch: Tanzender Wandervogel | |
> Die Jugendbewegung hat Hedo Holland politisiert. Heute ist er 90 Jahre | |
> alt. Zum Glücklichsein gehört für ihn nicht viel. | |
Bild: Hedo Holland war früher in der SPD, dann bei den Grünen. Viele in der G… | |
Auf dem Klingelschild steht: „Rabenhof – Hedo Holland“. Detlef Walter | |
Wilhelm Holland soll hier wohnen, warum „Hedo“? Es sei sein | |
Wandervogel-Name, erklärt er. Er will so genannt werden. Denn die | |
Jugendbewegung habe ihn geprägt. | |
Draußen: Das Dorf Lüttenmark in Mecklenburg-Vorpommern, das „kleine | |
Festung“ bedeutet, liegt abgeschieden. Hamburg ist 50 Kilometer entfernt, | |
der nächste Bahnhof 12. Die Taxis, die für das Verkehrsunternehmen als | |
„Rufbus“ hier rausfahren, lassen sich nur alle zwei Stunden bestellen. Auf | |
dem Weg zu Hollands Haus kommt man an einem Friedhof mit Kapelle vorbei, | |
vor allem aber an Schafen und Hühnern. Zwischen den vereinzelt stehenden | |
Häusern sind große Abstände. Einen Dorfkern oder einen Laden gibt es nicht. | |
Nur Felder und Weite. Vermeintlich ist es eine Idylle. Doch Wahlprognosen | |
sehen die [1][AfD hier als stärkste Kraft]. | |
Drinnen: Schon der Vorbau des 240 Quadratmeter großen ehemaligen | |
Bauernanwesens strahlt durch viel Holz Wärme aus. In einem Raum mit | |
niedrigen Decken, in dem einst Schweine gehalten wurden, stehen heute | |
Tische und Bänke. Außerdem gibt es einen Tanzsaal, eine Bibliothek, einen | |
Gesprächsraum, einen Schlafsaal mit Matratzen, ein Gästezimmer, ein | |
Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und Bäder. Im 5.000 | |
Quadratmeter großen Garten eine Jurte mit Feuerschale, Baumhaus, Bungalow | |
und Bienenhaus. „Der Großteil ist für die Gemeinschaft. Ich brauche nicht | |
viel.“ | |
Wandervogel: Er habe, erzählt Holland an einem großen Holztisch in der | |
Wohnküche, das Haus vor 30 Jahren für den „Wandervogel“ gekauft und | |
ausgebaut. Seit 1947 gehört er der 1901 entstandenen und während der | |
NS-Zeit und später in der DDR verbotenen Bewegung an. Sein Vater habe nach | |
dem Krieg neue Horten, also Gruppen, aufgebaut: „Durch den Wandervogel bin | |
ich politisch, bin ich Lehrer geworden.“ Und unabhängig von Ideologien | |
geblieben. Der Grundsatz dort laute: „Ich will mein Leben mit eigener | |
Verantwortung und nach innerer Überzeugung selbst gestalten, nach | |
Möglichkeit in Gemeinschaft.“ | |
Glücksregeln: „Singen, musizieren, tanzen, essen, trinken, lieben, | |
philosophierende Gespräche führen, wandern und unterwegs sein, im Geiste | |
und innerlich“, so die Wandervogel-Regeln. „Wer die vollzieht, hat ein | |
fröhliches Leben. Wer drei Freuden am Tag hat, ist glücklich“, sagt | |
Holland. Als Grund für sein eigenes Glück und seine Fitness im Alter sieht | |
er noch seine Frau: „Also eine gute Beziehung.“ In dem Moment kommt Monia | |
Holland herein, seine zweite Frau, die die Hälfte der Woche 100 Kilometer | |
entfernt in ihrem eigenen Haus lebt. Sie umarmt ihn lächelnd: „Guten Tag, | |
Herr Holland.“ | |
Tanz und Musik: Es ist ein Donnerstagmittag. Wie jeden Donnerstag trifft | |
sich hier am Abend eine Folklore-Tanzgruppe. Die „Rabentänzer“ kommen auch | |
aus angrenzenden Gemeinden, um Gemeinschaftstänze zu tanzen. Musik spielt | |
eine große Rolle in Hollands Leben: Seit „erst 45 Jahren“ hat er eine Band, | |
die „Elbraben“, genauso lange gibt er das Folkmagazin heraus. In seiner | |
Familie sei immer viel gesungen worden, Holland hat neben dem Magazin zwei | |
Bücher mit seinen Liedern publiziert: „Das dritte liegt beim Drucker.“ Die | |
meisten Lieder seien selbst komponiert: „Bei anderen habe ich neue Texte | |
gedichtet.“ Er holt eines der Bücher und singt. | |
Kindheit und Jugend: Geboren ist er 1933, im Jahr der Machtergreifung durch | |
die Nazis, in Hamburg. „Da wurde ich natürlich indoktriniert.“ Mit 11 | |
sollte er zur Ausbildung an der Panzerfaust. Mit Waffen aber wollte er | |
nichts zu tun haben. „Da bin ich abgehauen.“ Zurück bei seinen Eltern im | |
zerbombten Hamburg sei es hart gewesen. Die einst wohlhabende Familie hatte | |
alles verloren, der Vater war vom Krieg traumatisiert. „Wir haben dann 15 | |
Jahre beengt in einem Haus mit nur einem Zimmer gelebt.“ | |
Beruf: Auf Wunsch seines Vaters machte er nach dem Realschulabschluss | |
zunächst eine kaufmännische Ausbildung. Anschließend holte er sein Abitur | |
nach und studierte. Später arbeitete er als Lehrer an einer Haupt- und | |
Realschule und leitete nebenbei ein Kulturzentrum, das nicht von der Stadt | |
Hamburg, sondern durch Beiträge finanziert wurde. „Ich habe mich selbst | |
ausgebeutet. Aus einem Idealismus heraus.“ | |
Politisches Engagement: Seit den 60ern verortet er sich politisch links. 20 | |
Jahre lang war er Mitglied der SPD. Nun ist er schon seit über 40 Jahren | |
bei den Grünen, erzählt, er habe die Partei mitgegründet: „Aber mein | |
Grünsein ist anders als das offizielle.“ Seine Leitlinien seien nicht die | |
der Partei, sondern Mitmenschlichkeit und Frieden. Seit ungefähr 20 Jahren | |
ist er auch Vorsitzender des Nabu-Landkreisvereins, hat mit seiner Frau den | |
Fahrradweg vom Dorf in die Stadt veranlasst. | |
Abgehängt: Viele, sagt er, wählten aus Protest AfD. „Die werden mit ihren | |
Problemen nicht gesehen, fühlen sich abgehängt.“ Über zwei Stunden erzählt | |
er, was aus seiner Sicht schiefläuft, und das ist einiges: von | |
Wendeverlier*innen, geringen Gehältern, unbezahlten Überstunden bis zum | |
Glyphosat, das jahrelang über die Felder geweht sei, weshalb kein Obst mehr | |
wuchs. Vom Breitband-Internet, das immer noch nicht funktioniere. Vom | |
Rufbus-System, das nicht ideal sei, und den weiten Arbeitswegen bei | |
steigenden Spritpreisen. Und von der Angst der Menschen vor politischen | |
Entscheidungen wie in Upahl. | |
Containerdorf: [2][In Upahl], einer nahegelegenen Gemeinde mit 400 | |
Einwohner*innen, wurde ein Containerdorf gebaut, in dem 400 geflüchtete | |
Menschen unterkommen sollten. Holland schüttelt den Kopf: „In einem Dorf | |
ohne jegliche Infrastruktur, ohne Anbindung.“ Er findet, Integration müsse | |
sofort geschehen, durch Einbindung, durch Erlernen der Sprache. Die Sprache | |
sei das A und O: „Und die lernt man nur im ersten Vierteljahr.“ Er wisse, | |
wovon er spreche: „Ich hatte die Boatpeople in meinen Klassen.“ | |
Lösungsvorschläge: Auch sonst hat Hedo Holland viele Ideen, was die Politik | |
machen müsste, um das politische Klima auf dem Land zu verbessern: | |
„Nachhaltige Kulturförderung“ beispielsweise. Und eine bessere Anbindung an | |
den Rest der Welt. Eben durch funktionierendes Breitband und ein | |
Sammelbestellsystem statt dem jetzigen Rufbus: „Ein Bus, der auf Anmeldung | |
alle Dörfer anfährt und am Bahnhof ankommt, wenn die Züge fahren.“ | |
Medienkritik: Die Berichterstattung in den Medien sieht er kritisch, | |
meint, die taz beispielsweise berichte über Randständiges, „statt | |
Hintergründe zu den Themen zu liefern, die mir unter den Nägeln brennen“. | |
Er würde sich wünschen, dass Zeitungen auch Nachrichten für Kinder bringen. | |
Und im Feuilleton mehr über europäische Folklore. Auf die Frage, wen man | |
seiner Meinung nach in der Musikszene kennen sollte, schüttelt er erst den | |
Kopf. „In der Folkmusik gibt es keine Stars.“ Dann denkt er noch einmal | |
nach und sagt: „‚Die Grenzgänger‘ aus Bremen.“ Ihm selbst seien die Te… | |
allerdings bisweilen zu kommunistisch. | |
Das Alter: Nach wie vor arbeitet er sechs Stunden am Tag am Computer und | |
fährt noch Auto. Während er Kaffee zubereitet, sagt er, er sei im Kopf eher | |
fitter geworden. „Ich vergesse mehr, aber ich kann Dinge schneller und | |
besser einordnen.“ Die meisten seiner Freunde sind gestorben. „Jeden Monat | |
stirbt ein weiterer.“ Er hat eine Tochter, einen Sohn und zwei Enkel. | |
Einsamkeitsverdorbenheit: Viel an dem, was schiefläuft, führt er auf | |
mangelnde Gemeinschaft zurück. „Einsamkeitsverdorben in der Großstadt“ ist | |
die Formulierung, die er dafür findet. Allerdings geht es laut seinen | |
Erzählungen auf dem Dorf genauso viel oder wenig gemeinschaftlich zu. Er | |
sagt, er habe keine Freunde hier, sei für die anderen immer ein Fremder | |
geblieben, angesehen, aber nicht beliebt: „Die nennen mich den | |
Dorfprofessor.“ Zu seinen Tanzabenden seien sie nie gekommen. Er sei | |
dennoch glücklich im Dorf und mache unbeirrt sein eigenes Ding. | |
Sinn: Der Sinn unserer Existenz sei doch, „möglichst viel glücklich zu | |
sein“, sagt Hedo Holland. Und: „dazu beizutragen, die Kultur und das Leben | |
auf der Erde zu fördern“. | |
8 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Lena Lörzer | |
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