# taz.de -- Proteste gegen Flüchtlingsunterkunft: Ein Dorf in Angst | |
> Im mecklenburgischen Ort Upahl gibt es seit Wochen rassistische Proteste | |
> gegen die Unterbringung von Geflüchteten. Wovor fürchten sich die | |
> Menschen? | |
Bild: Protest in Upahl gegen die Unterkunft für Geflüchtete | |
„Containerdorf nein, danke!“ Ein unübersehbares Schild steht auf dem | |
norddeutschen Deich, der Einfamilienhäuser mit kleinen Gärten gegen den | |
Lärm der Straße schützt. Etwas weiter hinten folgt ein aus Holz gesägtes | |
Grabkreuz mit der Aufschrift „R.I.P. Upahl“. Die Welt ist hier eindeutig | |
nicht zu Gast bei Freunden. Willkommen im Landkreis Nord-West-Mecklenburg. | |
Zwei ältere Damen mit Gehstöcken schlendern am Rande des Dorfes entlang. | |
Beide sind 82 Jahre alt und haben Ängste vor Fremden: „Die Männer, die | |
hierherkommen, lassen ihre Frauen und Kinder allein. Hier sind sie rundum | |
versorgt. Und wenn sie nicht arbeiten dürfen, dann wird das eine | |
potenzielle Gefahr“, seufzt die ehemalige Russischlehrerin Ursula | |
Rieckhoff. | |
Wer genau demnächst in weißen Containern auf einer grünen Wiese im | |
Industriegebiet leben wird, das wissen sie nicht. Der Landrat verrät, dass | |
es hauptsächlich männliche Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien seien, | |
und keine Frauen aus der Ukraine. „Wir haben erst zwei Tage vor der | |
Entscheidung gehört, dass so viele Flüchtlinge hierher kommen“, sagt Frau | |
Rieckhoff hinter ihrer Sonnenbrille. „400 sind zu viel“, steht auf einem | |
Plakat hinter ihr. Das Dorf selbst hat kaum mehr Einwohner. | |
Rieckhoffs Freundin, Brigitte Moll, wurde ebenfalls im Weltkrieg geboren: | |
„Ich musste als Kind aus Ostpreußen, aus dem heutigen Polen, mit nichts als | |
unseren Habseligkeiten fliehen. Mein Vater war Wehrmachtssoldat, wir Frauen | |
und Kinder wurden hier in Norddeutschland aufgenommen. Aber jetzt kommen | |
nur noch Männer. Die langweilen sich und wollen doch auch Frauen treffen. | |
Das macht uns Angst.“ | |
## Es brodelt in der Republik | |
Hinter Frau Moll rufen mehrere Schilder zum Widerstand und zur Revolte auf: | |
„Stoppt die deutsche Aufnahme von Flüchtlingen!“ Nicht wenige Wutbürger | |
wollen das Recht in die eigene Hand nehmen. So [1][brodelt es in vielen | |
Teilen der Republik]. | |
In Berlin veranstaltete Innenministerin Nancy Faeser (SPD) gerade [2][einen | |
Krisengipfel zum brisanten Thema]. Denn die Zahl der Neuankömmlinge ist | |
auch durch den Exodus aus der Ukraine ununterbrochen groß, wie schon beim | |
historischen Zustrom 2015, als die christdemokratische Kanzlerin Angela | |
Merkel Barmherzigkeit zeigte und Deutschland viele Geflüchtete aufnahm. | |
## Nicht weit vom Neonazidorf | |
Aber hier an der Ostsee, nicht weit vom als Neonazidorf berüchtigten Jamel, | |
wo völkische Siedler das Geschehen bestimmen, ist Willkommenskultur | |
gelegentlich schwer zu finden. Wenige wagen es, offen Zivilcourage | |
gegenüber Hass und Hetze zu zeigen, so wie Birgit und Horst Lohmeyer. Das | |
Ehepaar veranstaltet jährlich im Garten neben ihrem Backsteinhaus [3][das | |
Musikfestival „Jamel rockt den Förster“], umgeben von offen rechtsextremen | |
Nachbarn wie Ex-Häftling und „Dorfchef“ Sven Krüger, der mal automatische | |
Waffen besaß. | |
Seine Jünger hatten jahrelang im Thing-Haus in Grevesmühlen ihren | |
Rückzugsort. Da gab es Kampfsportlehrgänge, wurden NPD-Kader ideologisch | |
geschult. Ihr Ziel: eine ethisch-homogene „Volksgemeinschaft“. Die | |
Nazi-Partei war lange im Schweriner Landesparlament vertreten, wo jetzt die | |
AfD stark ist. | |
## „Die werden in Brand gesteckt“ | |
Zurück nach Upahl, ein paar Kilometer entfernt. Am Dorfkern steht die | |
26-jährige Marin Zweigle, dunkles Haar und rot gefärbte Strähnen, auf ihrer | |
Pferdewiese zwischen ihren Hunden im Schlamm. Sie hat eine diffuse Angst, | |
dass die Neulinge zu Verbrechern mutieren werden. „Wir junge Frauen können | |
dann nicht mehr um den Häuserblock Gassi gehen. Oder alleine von der | |
Bushaltestelle nach Hause kommen.“ | |
In einem nahegelegenen Industriegebiet sind Arbeiter dabei, den Rasen zu | |
entfernen. Ein Bagger bereitet den Boden vor. Um die wenigen Hektar werden | |
Zäune errichtet. In ein paar Wochen werden 250 Wohncontainer hierher | |
kommen. „Die werden dann in Brand gesteckt“, sagt eine Frau unverfroren, | |
ohne mit der Wimper zu zucken. | |
## Furcht vor dem Fremden | |
Unlängst brannte unweit von hier eine Flüchtlingsunterkunft direkt an der | |
Ostsee aus, wobei die BewohnerInnen noch drinnen waren. Erinnerungen an die | |
Zeit vor dreißig Jahren, an [4][das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und die | |
raue, rassistische Gewalt] kommen hoch. Zweigle aber fürchtet das Fremde – | |
die dunkle Vergangenheit lässt sie kalt. | |
Nun kommen bald Ausländer dorthin, [5][wo kaum Infrastruktur für sie | |
besteht]. Kein Geschäft, keine Sprachschule weit und breit. „Es gibt hier | |
kaum einen Bus, und selbst ein Deutscher versteht die Routen nicht“, sagt | |
ein Ingenieur, der an der Baustelle gerade Mittagspause macht. „Ich habe | |
selbst Leute aus der Ukraine aufgenommen, aber diese Lösung hier führt | |
nicht zur Integration.“ | |
## Rechtsextreme, Reichsbürger, Hools | |
Vor Kurzem tagte der örtliche Kreistag in Grevesmühlen. An der Tür konnte | |
die Polizei nur mit drohenden Knüppeln verhindern, dass wütende Menschen | |
das Verwaltungsgebäude stürmten. „Der Protest der Upahler wurde von | |
Rechtsextremen, Reichsbürgern und Hooligans von Hansa Rostock übernommen“, | |
resümierte ein Polizeisprecher. | |
Drinnen saß damals und heute Tino Schomann, 35 Jahre alt – und der | |
zuständige Landrat. Er wurde für sieben Jahre gewählt und ist Mitglied der | |
CDU. Der etwa zwei Meter große Landwirt empfängt seine Besucher in der | |
ehemaligen Malzfabrik, wo seine Beamten arbeiten. Nebenbei hat er einen | |
Hühnerbetrieb. | |
## „Nein, nein, nein“ | |
„Wir müssen uns an die Gesetze halten“, sagt Schomann mit strenger Stimme. | |
„Wir müssen eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen für das Land | |
Mecklenburg-Vorpommern aufnehmen. Ich habe überall versucht, Häuser oder | |
Gebäude zu bekommen. Aber bei 83 Kommunen habe ich immer wieder gehört: | |
‚Nein, nein, nein.‘“ | |
Der Leiter des Landratsamt erzählt, dass die Sporthallen in Wismar bereits | |
voll seien und mehrere Tausend geflüchtete Frauen vor allem aus der von | |
Russland überfallenen Ukraine in privaten Unterkünften untergebracht seien. | |
Doch in der vergangenen Woche [6][protestierten die Anwohner wieder | |
lautstark vor dem Amt], während Schomann sich mit Bürgermeistern beriet. | |
„Leistet Widerstand“, rief der Organisator, der 68-jährige Rentner Michael | |
Krieger, in sein Megafon. Hundert Polizisten sorgten für Ordnung. | |
## „Zahlen höher als 2015“ | |
Die rechtsextreme, prorussische AfD unterstützt den Protest. Bei einer | |
hitzigen Versammlung in einem Gemeindehaus in Upahl wurde Hilfe bei der | |
Gründung eines Vereins und bei der Annahme von Spenden angeboten. Der | |
örtliche Vertreter der „Alternative für Deutschland“ erhielt Beifall. | |
Das eigentliche Problem sei – laut Landrat Schomann – die hohe Zahl der | |
Neuankömmlinge: „Deutschland darf laut gesetzlicher Obergrenze maximal | |
200.000 pro Jahr aufnehmen. Letztes Jahr waren es fast 50.000 mehr. Die | |
Zahlen des letzten Monats sind höher als 2015.“ Höher als zu der Zeit, als | |
die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel [7][ihren historischen Aufruf | |
„Wir schaffen das!“] machte. | |
## Angst vor Verbrechen | |
Inzwischen dauert die Bearbeitung eines Asylantrags in etwa acht Monate, | |
mit Klagen sogar bis zu 24 Monate. Das Landratsamt an der Ostsee ist indes | |
gezwungen, weiter Menschen aufzunehmen. Schomann spricht von | |
gesellschaftlichem Sprengstoff: „Die Regierung hat nach 2015 nichts | |
gelernt, was die Steuerung und Begrenzung von Migration angeht, und schickt | |
nicht die 320.000 geduldeten Migranten zurück, die alle Rechtsmittel | |
ausgeschöpft haben.“ Dabei hat es seit 2015 tatsächlich fast jährlich | |
Asylrechtsverschärfungen gegeben. | |
Unter den Protestierenden von Upahl werden Verbrechen von Ausländern wie | |
unter einer Lupe beobachtet. So wie kürzlich beim Asylbewerber Ibrahim A., | |
der in einem Zug in Brokstedt zwei Jugendliche mit einem Messer tötete. | |
Brokstedt ist nicht weit von Upahl. Vier Fahrgäste wurden von dem | |
staatenlosen Palästinenser, der bereits eine lange Strafakte hatte, | |
niedergestochen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) war zur Gedenkfeier für | |
die Opfer gekommen. Auch beim Attentat von Anis Amri, 2016 auf dem Berliner | |
Weihnachtsmarkt, [8][hatte die Nachlässigkeit von Justiz und | |
Sicherheitskräften fatale Folgen]. Attentate durch weiße Deutsche wie in | |
Halle und Hanau spielen für die Dorfbewohner keine Rolle. | |
## Brandstiftungen | |
Sie fürchten sich vor mehr Kriminalität durch Ausländer. So wie Marko | |
Duchow, einem 47-jährigen Tischler, der seinen Lebensunterhalt in den | |
Niederlanden verdient. Er und viele Dorfbewohner von Upahl haben Sorge | |
davor, wie sich der Ort wandeln könnte, wenn nun fast so viele neue | |
Bewohner kommen wie die gesamte aktuelle Einwohnerzahl. In einem anderen | |
Dorf in der Nähe wurde kürzlich eine Unterkunft für Geflüchtete aus der | |
Ukraine in Brand gesteckt. Der Bauernhof in Groß-Strömkendorf nahe Blowatz | |
hatte ein Strohdach, unter dem sieben Frauen, ihre Kinder und einige ältere | |
Menschen Schutz suchten, erklärt Bürgermeister Tino Schmidt. | |
„Zwei Tage vor dem Brand wurde ein Hakenkreuz vor das Gebäude geschmiert“, | |
erklärt der Ehrenamtliche, der auch Bundespolizist ist. „Erst fliehen sie | |
vor einem Krieg nach Deutschland, dann werden sie auch dort angegriffen“, | |
sagt DRK-Mitarbeiter Andrej Bondartschuk, ein Schiffsingenieur, der selbst | |
aus der Ukraine stammt, und sich um die Unterbringung seiner Landsleute | |
kümmerte: „Dies ist eine weitere traumatische Erfahrung.“ Vor einiger Zeit | |
wurde ein örtlicher Feuerwehrmann verhaftet, weil er das Feuer mutmaßlich | |
gelegt hatte. | |
22 Feb 2023 | |
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