# taz.de -- Festival „Jamel rockt den Förster“: 48 Stunden Gegenwind | |
> Jamel wurde von Rechtsextremen unterwandert. Seit 15 Jahren wollen | |
> Künstler:innen ihnen mit einem jährlichen Festival etwas | |
> entgegensetzen. Mit Erfolg? | |
Bild: Die Band Deichkind lädt die Jugend Jamels dazu sein, zur Demokratie zur�… | |
JAMEL taz | Bis in die hinteren Reihen schieben sich satte Bässe durch das | |
Publikum. Wieder und wieder schickt die für ihre technoiden Abrisspartys | |
bekannte [1][Hamburger Band Deichkind] sie den schrägen Hang der | |
Festivalwiese in Jamel hinauf. Dort tanzt, jumpt und wogt der Großteil der | |
2.500 Besucher:innen am Samstagabend, singt die Hits der Band mit. Im | |
Publikum sieht man jede Menge Slogans wie „Besser leben ohne Nazis“ oder | |
„FCK NZS“ auf T-Shirts gedruckt oder gleich eintätowiert. Und auch einer | |
der Sänger von Deichkind ruft eine klare Botschaft ins Mikrofon: „Sehr | |
geehrte Faschisten da drüben – wir verachten Sie!“ | |
Mit den „Faschisten da drüben“ sind die Bewohner:innen von Jamel | |
gemeint. Rechtsextreme haben in dem Ort in der Nähe von Wismar in | |
Nordwestmecklenburg von den frühen Nullerjahren an ein | |
„nationalsozialistisches Musterdorf“ aufgebaut. Sven Krüger, vorbestrafter | |
Neonazi und NPD-Mitglied, kaufte gezielt Immobilien im Dorf und siedelte | |
seinesgleichen an. Heute leben 30 Erwachsene und 12 Kinder in Jamel. Und | |
nur zwei haben sich und ihr Leben dem zivilgesellschaftlichen Widerstand | |
gegen rechts verschrieben: Birgit und Horst Lohmeyer, 63 und 65 Jahre alt. | |
Sie veranstalten einmal im Jahr das Festival „Jamel rockt den Förster“, am | |
vergangenen Wochenende bereits zum 15. Mal. | |
Alles begann 2007 mit einem kleinen Selfmade-Festival mit etwa 30 | |
Besucher:innen. Seither richten die Lohmeyers die Veranstaltung – wenn | |
nicht gerade Pandemie ist – jährlich auf ihrem 8.000-Quadratmeter-Hof aus. | |
Als 2015 jemand ihre Scheune niederbrannte – mutmaßlich ein rechter | |
Anschlag –, spielten [2][die Toten Hosen spontan ein Solikonzert]. In den | |
Jahren danach traten fast alle Großen des deutschen Pop in Jamel auf, | |
darunter Grönemeyer, Kraftklub, Jan Delay, die Ärzte. Seit ein paar Jahren | |
bleibt das Line-up geheim. | |
Unter den Überraschungsgästen in diesem Jahr: die Metalband Kreator, die | |
Indierocker Sportfreunde Stiller und Rapperin Hayiti. Sie alle bekommen nur | |
ihre Kosten erstattet, verzichten auf Gage, kommen für die Sache. Genauso | |
wie die rund 100 Helfer:innen, angereist von überall her. „Jamel rockt den | |
Förster“ hat sich längst bundesweit einen Namen gemacht. Doch was bewirkt | |
das Festival vor Ort? Ändert es etwas an den rechtsextremen Strukturen? | |
## Lieber totschweigen | |
Birgit Lohmeyers Antwort fällt knapp aus: Nein. Wenige Tage vor dem | |
Festival erklärt sie der taz: „Das Problem ist, dass das Festival nicht | |
geschätzt wird in der Region. Die meisten hier wären froh, wenn die | |
Lohmeyers endlich aufhören würden, mit diesem blöden Festival so eine Welle | |
zu machen.“ Die Leute würden die Probleme mit den Nazis lieber | |
totschweigen. In ihren Augen seien die Lohmeyers die Unruhestifter. | |
Das Paar – sie Schriftstellerin, er Musiker – fühlt sich alleingelassen mit | |
der Demokratiearbeit vor Ort. Doch nachlassen, sich zurückziehen, das kommt | |
nicht infrage. Mittlerweile organisieren sie auch Vorträge und Workshops an | |
Schulen und konfrontieren so junge Menschen mit dem, was in Jamel und an | |
anderen Orten passiert. „Und wir erklären ihnen, wie man sich verhalten | |
sollte, wenn man in einer demokratischen, offenen Gesellschaft leben | |
möchte: Nicht weggucken, nicht tolerieren, nicht sagen:,Ach, das sind doch | |
die Jungs von hier, die sind doch so nett und hilfsbereit'“, sagt Lohmeyer. | |
Für ihr Engagement wurden die beiden zigfach ausgezeichnet, unter anderem | |
mit dem Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage 2011. Und wenn das Festival | |
stattfindet, verschieben sich in Jamel die Kräfteverhältnisse: | |
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) ist | |
Schirmherrin des Festivals, Innenminister Christian Pegel (SPD) spricht | |
beim Jubiläum zur Eröffnung. | |
Und obwohl danach alles zur Normalität zurückkehrt, gibt es den Lohmeyers | |
Kraft, weiterzumachen: „Drei Tage mit vielen gleichgesinnten Menschen | |
zusammenzukommen, ist für unseren Psychohaushalt sehr wohltuend. Von den | |
Begegnungen und Gesprächen zehren wir das ganze Jahr über“, sagt Birgit | |
Lohmeyer. Weil die Rechtsextremen in Jamel durchweg ideologisch gefestigt | |
seien, glaubt sie nicht daran, dass aus den Familien jemand aussteigt. „Die | |
sind für die Gesellschaft verloren.“ | |
An den Festivaltagen ist das Dorf zweigeteilt. Hier die Nazisiedlung, da | |
das Festivalgelände, dazwischen die Polizei, rund 50 bis 60 Einsatzkräfte | |
pro Tag. An dem Gebäude, in dem Neonazi Sven Krüger seine Firma für | |
Abbrucharbeiten hat, weht eine Reichskriegsflagge, im Infokasten des Dorfs | |
wird Brauchtum und Heimatliebe propagiert, an einer Garage prangt ein | |
Mural, das eine arische Vorzeigefamilie zeigt, daneben der Schriftzug: | |
„Treu sind Mecklenburger Herzen, von Freiheit singt der Wind“. | |
Doch wer Jamel bloß als versprengte völkische Sekte abtut, irrt. Sven | |
Krüger wurde mit seinem Bündnis „Wählergemeinschaft Heimat“ 2019 [3][in … | |
auch für Jamel zuständigen Gemeinderat Gägelow gewählt]. Mit 281 Stimmen | |
bekam er das zweitbeste Ergebnis eines Einzelkandidaten. Birgit Lohmeyer | |
ließ sich für die SPD aufstellen, sie bekam gerade mal 37 Stimmen. Die | |
Nazis werden alles andere als ausgeschlossen, erst 2018 wurde eine zentrale | |
Wiese des Dorfes [4][von der Gemeinde an Krüger verpachtet] – wenn auch mit | |
der Auflage, sie einmal im Jahr für das Festival „Jamel rockt den Förster“ | |
freizugeben. | |
Dort wehen dann für ein Wochenende die Regenbogenflaggen und | |
Refugees-Welcome-Fahnen und die auftretenden Künstler:innen loben die | |
Lohmeyers für ihre Standhaftigkeit: „Vielen Dank für das langjährige | |
Engagement. Ich bin ehrlich: Ich würd mich das nicht trauen“, sagt Amewu, | |
ein Rapper ghanaisch-deutscher Herkunft, bei seinem Auftritt. | |
Er spricht auch von seinen „mixed feelings“ und seinen Ängsten vor | |
rassistischen Übergriffen bei der Anreise. Der Berliner Künstler ist eine | |
der Entdeckungen des Wochenendes. In praller Nachmittagssonne feiert das | |
Publikum ihn für seinen Conscious Rap, geprägt von Hip-Hop-Gruppen wie De | |
La Soul und Arrested Development. Seine Songs [5][„Amewuga“] und [6][„Ken… | |
meine Fehler“] werden bejubelt, sein smoother Hochgeschwindigkeitsrap sorgt | |
für offen stehende Münder. | |
Für Vielfalt steht Jamel auch in musikalischer Hinsicht, von erfrischenden | |
Punkrock-Shows (Team Scheisse, Shirley Holmes) über Trap bis zu Pop | |
(Hayiti, Mia Morgan) und Songwriter (Thees Uhlmann). | |
Die Besucher:innen kämen trotzdem wegen ihrer Haltung nach Jamel, nicht | |
wegen der Bands, sagt Horst Lohmeyer. Der 65-Jährige mit langem, grauem | |
Pferdeschwanz ist für die Logistik und Technik verantwortlich, man sieht | |
ihn immer wieder übers Festivalgelände streifen. Anfangs ist er selbst mit | |
seinen Bands beim Festival aufgetreten, heute spielt er in keinen Gruppen | |
mehr – irgendwann wurde er auf den Bühnen in Mecklenburg-Vorpommern so sehr | |
angefeindet und von Nazis beschimpft, dass er die Lust verlor. | |
Dass Politik mindestens genauso im Zentrum steht wie Musik, ist bei dem | |
Festival nicht zu übersehen. Amnesty und die „Omas gegen Rechts“ haben ihre | |
Stände aufgebaut, am Samstagmittag hören sich etwa 50 Menschen einen | |
Vortrag über die rechtsesoterische Anastasia-Bewegung an. Auffällig viele | |
Familien sind unter den Besucher:innen, oft Väter und Mütter mit Kindern im | |
Teenageralter. | |
Deichkind schicken gegen Ende ihres Sets weiterhin dichte Bässe und | |
nochmals klare Botschaften an die Nachbarschaft: „Keine Chance den Nazis, | |
keine Diskussion, keine Diskriminierung, kein Rassismus.“ Auch für die | |
nachwachsenden Jungnazis im Dorf haben sie ein paar Sätze übrig: „Wenn du | |
Zweifel hast und aussteigen willst: Wir sind hier.“ Ihre Worte klingen nur | |
vage hoffnungsvoll. | |
48 Stunden lang kehren sich die Verhältnisse um, doch für die restlichen | |
363 Tage besteht laut Birgit Lohmeyer wenig Anlass für Optimismus: | |
„Demografisch ändert sich hier gar nichts. Nur durch Zuzug wäre es möglich, | |
dass die Nazis im Dorf mehr Gegenwind bekommen. Es gibt aber keine freien | |
Immobilien hier, und auch Baugrundstücke werden nicht mehr veräußert.“ | |
So muss das Paar auch in Zukunft mit der Angst leben, dass sich Vorfälle | |
wie der mutmaßliche Anschlag von 2015 wiederholen. „Natürlich tritt auch | |
ein Gewöhnungseffekt ein, wenn man ständig mit Nazis konfrontiert ist. Aber | |
es wäre unklug, keine Angst mehr zu haben, wenn man es mit gewaltbereiten | |
Rechtsextremen zu tun hat.“ | |
Lohmeyer freut sich gegen Ende des Festivals trotzdem über die „schöne, | |
bunte Szenerie“ vom Wochenende. Nun werden die Zelte wieder abgebaut, die | |
Bullis fahren ab, der Zirkus zieht weiter. Bis zum nächsten Jahr. | |
19 Aug 2022 | |
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[1] /Neues-Album-von-Deichkind/!5629993 | |
[2] /Anti-Rechts-Festival-in-Jamel/!5228093 | |
[3] /Kommunalwahlkandidaten-aus-Jamel/!5599720 | |
[4] /Nazi-Dorf-Jamel/!5516761 | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=6Q4i2S4Z720 | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=l_jnZCsriQA | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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