# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie setzt die Welt ins Bild | |
> In der Fotografie geht es nicht nur ums Sehen, es geht auch ums | |
> Gesehenwerden. Anna Spindelndreier weiß, was gemeint ist. | |
Bild: Sie zeigt ihre Liebe zur Fotografie | |
Leute wie Anna Spindelndreier erweitern den Blick. Mit ihrer Arbeit als | |
Fotografin und als Bildredakteurin versucht sie, aufzuklären und auf | |
Missstände aufmerksam zu machen. | |
Draußen: Im Dortmunder Stadtteil Kreuzviertel sehe es ein bisschen wie in | |
Frankreich oder wie in Berlin-Prenzlauer Berg aus, sagt Anna | |
Spindelndreier: viel Grün, Villen, Altbauten, kleine Cafés, Familien mit | |
Kindern, Künstler*innen, Vinotheken und kleine Restaurants. Die Straße vor | |
dem Altbau, in dem sie wohnt, ist von Bäumen gesäumt. An diesem | |
Samstagnachmittag regnet es, die Autos rauschen auf der nassen Straße | |
vorbei. Als die Sonne wieder rauskommt, werden die Pfützen zu | |
Scheinwerfern, die weißen Hortensien glänzen. „Es ist wie eine Bubble“, | |
sagt Anna Spindelndreier. „Ich habe hier alles und brauche den Kiez gar | |
nicht zu verlassen.“ Unweit und das Altstadtflair kontrastierend ist das | |
Westfalenstadion des BVB. „Tempel“ nennen es viele Fans. „Amor“ – „… | |
liest man auf einer Wand als Graffiti. | |
Drinnen: „Willkommen in meinem kleinen Reich“, sagt Spindelndreier und | |
schaltet die Kaffeemaschine an. Alle Fenster der Küche und des Wohnzimmers | |
gehen zur Straße. Im Sommer hat sie Vormittagssonne. Sie scheine zwischen | |
den Bäumen, das sei schön. Die Wohnung ist schlicht, es hängen kaum Bilder | |
an den Wänden. „Ich mag es, auf die weißen leeren Wände zu schauen.“ | |
Spindelndreier ist Fotografin. Würde sie Landschaften fotografieren, würde | |
sie vielleicht mehr aufhängen. So gibt es nur ein Foto von Palmen, das in | |
San Diego, USA, entstanden ist, als Spindelndreier für ihr Buch „Sit ‚N‘ | |
Skate“ einen der besten Rollstuhl-Skater fotografierte. Außerdem stehen | |
einige Bücher von Annie Leibovitz, ihrer Lieblingsfotografin, in einem | |
Regal. Dazu einige Zimmerpflanzen und auf der Kommode als Deko ein | |
Blumenkranz und alte Kameras, eine Polaroid, eine Mamiya. | |
Anfänge: An ihr allererstes Bild erinnert sich die 36-Jährige nicht. „Es | |
muss eines von diesen gewesen sein.“ Sie kramt in einer kleine Kiste und | |
zeigt ein Foto ihrer Kommunion, auf dem ihr Bruder und ihre Cousins und | |
Cousinen ernst in die Kamera schauen. Sie machte das Foto mit ihrer ersten | |
Kamera, einem Geschenk des Patenonkels. Sie war damals neun, die Kamera | |
funktioniert heute noch. Fotos von Klassenfahrten, Ferienlager und | |
Skiausflügen liegen auch in der kleinen Kiste. Dann zeigt Anna | |
Spindelndreier andere Bilder: Kirchen und Museen, Landschaften und | |
Sonnenuntergänge. „Ganz viele Sonnenuntergänge“, sagt sie. Es war ihr | |
Vater, der das Interesse an der Fotografie bei ihr weckte. Er war Verleger, | |
hatte einen Leuchttisch, wo er sich durch eine Lupe Dias anschaute, die er | |
für die Bücher bekam. Es seien wunderschöne Abbildungen der Natur gewesen. | |
„Das war für mich wie die Tür zur anderen Welt.“ | |
Kindheit: 1987 ist Anna Spindelndreier in Hamm (Nordrhein-Westfalen) auf | |
die Welt gekommen. Mit Achondroplasie, der häufigsten Kleinwuchsform. Diese | |
körperliche Eigenschaft sei indirekt ihr Markenzeichen als Fotografin | |
geworden, sagt sie. Und: Sie könne behaupten, dass sie eine schöne Kindheit | |
hatte. Ihre Eltern haben versucht, ihr und den Brüdern alles zu | |
ermöglichen. Sie war die erste in der Familie mit Abitur. „Dennoch war | |
meine Kindheit auch geprägt von Körperakzeptanz, von Arzt- und | |
Logopädie-Besuchen.“ Ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie 14 Jahre alt | |
war. Dass sie Hamm verlassen würde, war Spindelndreier lange vor ihrem | |
Wegzug klar. Das Beste in ihrer westfälischen Heimatstadt war die gute | |
Zuganbindung, sagt sie. „So bin ich schon als Teenagerin viel mit dem Zug | |
in andere Städte gefahren.“ | |
Wege: Als Anna Spindelndreier nach dem Abitur Fotografin werden wollte, | |
riet ihr ihre Mutter davon ab. „Sie meinte, ich solle etwas,Vernünftiges' | |
lernen, aber ich wusste, dass sie mich vor Ablehnung schützen wollte.“ Nach | |
80 Bewerbungen bekam sie doch einen Ausbildungsplatz und entschied, in | |
Dortmund Fotografie zu studieren. Dort arbeitet sie heute als freie | |
Fotografin, vor allem bei inklusiven Veranstaltungen. „Für die | |
Veranstalter*innen ist es ein Plus, eine Fotografin wie mich | |
dabeizuhaben.“ Außerdem ist sie vertretende Bildredakteurin bei der | |
WirtschaftsWoche und war bis vor Kurzem auch Teil einer kreativen Agentur. | |
Doch die Werbebranche sei nichts für sie, sagt sie, sie möchte zurück zum | |
Fotojournalismus – und vor allem zum Aktivismus. | |
Engagement: Ob sie sich als Aktivistin bezeichne? Das könne sie nicht | |
beantworten, sagt Spindelndreier, auch wenn andere sie als solche sehen – | |
2019 gewann sie den Edition F Award „25 Frauen, die mit ihrer Stimme unsere | |
Gesellschaft bewegen“. Von 2007 bis 2017 setzte sie sich als Vorstand des | |
Bundesverbands „Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e. V.“ für die | |
Interessen kleinwüchsiger Menschen ein. Außerdem unterstützt sie mit ihrer | |
Fotografie ehrenamtlich das Modelabel „Auf Augenhöhe“, das Kleidung für | |
kleinwüchsige Menschen entwirft. | |
Perspektivwechsel: „Die Bilderwelt, die wir in den Medien sehen, ist | |
begrenzt“, sagt sie. „Es werden immer die gleichen Fotos benutzt, wenn es | |
um Menschen mit Behinderung geht: jemand im Rollstuhl, weil der | |
Zusammenhang klar sein soll, und Kinder mit Down-Syndrom, wegen des | |
Niedlichkeitsfaktors“, sagt Spindelndreier. Das sei okay, doch es gehe auch | |
anders. „Kleinwüchsige Menschen kommen zum Beispiel kaum vor.“ Deshalb | |
porträtiert sie seit 2017 in einem langfristigen Projekt erfolgreiche | |
kleinwüchsige Frauen deutschlandweit, etwa eine Beamtin oder eine | |
Staatsanwältin, die dazu in kurzen Videoaufnahmen über ihre Berufe, ihre | |
Laufbahn und ihren Alltag berichten. | |
Sichtbarkeit: Immer wenn Spindelndreier als Bildredakteurin die Möglichkeit | |
hat, Fotos von Menschen mit Behinderung zu verwenden, um andere Themen zu | |
illustrieren, tut sie das. „Ich würde mir wünschen, Models mit Behinderung | |
bei einem Artikel über Mutterschaft zu entdecken. Auch wenn selbst ich | |
zuerst über diese Bildsprache stolpern würde“, sagt sie. Sehgewohnheiten zu | |
ändern sei ein Prozess. Außerdem ist Sichtbarkeit wichtig. „Wenn ich auf | |
Veranstaltungen bin ohne Menschen mit Behinderung, ändert vielleicht | |
alleine die Tatsache, dass ich da bin, etwas.“ | |
Kein Hobby: Auf solchen Events wird die Fotografin mit Fragen wie „Ist das | |
Ihr Hobby?“ oder „Ach so, Sie können das wirklich?“ konfrontiert. „Als | |
würde ich gerne acht Stunden einfach so mit meiner Kamera rumlaufen.“ Diese | |
Art von Kommentaren kommen vor allem von Männern, erzählt sie, die | |
Fotografie sei immer noch ein männerdominierter Bereich. „Also schon mal | |
Frau mit Technik ist schlimm; behinderte Frau mit Technik, um so | |
schlimmer“, sagt Spindelndreier und lacht. Die Behinderung sei bei ihr | |
natürlich da, aber als Hintergrund, nicht als Vordergrund. „Es geht um | |
meine Leistung. Sie buchen mich nicht, weil ich kleinwüchsig bin, sondern | |
weil ich gute Arbeit leiste.“ | |
Dankbarkeit: „Ich fotografiere aus meiner Perspektive und Höhe“, sagt sie. | |
Sie versuche, deshalb die Leiter, die sie immer bei sich hat, wenig zu | |
benutzen. Auch weil damit alles länger dauert. „Ich bewundere Kolleg:innen, | |
die in fünfzehn Minuten jemanden porträtieren können“, sagt sie. Bei | |
Politiker:innen beispielsweise müsse alles „zack, zack, zack“ gehen. | |
Sie arbeite deswegen lieber an eigenen Projekten, mit viel Zeit. Es mache | |
auch einen Unterschied, ob sie Models mit oder ohne Behinderung | |
fotografiere. „Ich kann mich in Models mit Behinderung hineinversetzen und | |
habe durch meine ähnliche Biografie einen ganz anderen Zugang“, sagt sie. | |
„Es ist ein bisschen, wie wenn eine Frau eine Frau fotografiert, nicht wenn | |
ein Mann das tut.“ Ein weiterer wichtiger Aspekt sei für sie die | |
Dankbarkeit, die Menschen mit Behinderungen, die sie fotografiert, zeigen. | |
„Sie fühlen sich gesehen“, sagt Anna Spindelndreier. „Das hat für mich … | |
Wert, weil Dankbarkeit etwas ist, das immer mehr verloren geht.“ | |
19 Nov 2023 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
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