# taz.de -- Paradoxien des Bremer Wahlsystems: Mehr oder weniger Demokratie | |
> Die Wähler von Thomas vom Bruchs (CDU) haben ihn aus dem Bremer Parlament | |
> gevotet: Für Wahlrechtsforscher ein verfassungswidriger Systemfehler. | |
Bild: Wurde in Bremen durch die eigenen Anhänger abgewählt: Thomas vom Bruch … | |
Bremen taz | Vier Tage nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses steht | |
nun auch der Verlierer der Bürgerschaftswahl fest. Es ist: Dr. Thomas vom | |
Bruch. Im Herbst noch als Spitzenkandidat der CDU gehandelt zieht der, | |
trotz guten Listenplatzes neun, nicht wieder ins Parlament ein, außer wenn | |
Elisabeth Motschmann ihr Mandat nicht annimmt. Und zwar hat das drei | |
Gründe: erstens das schlechte Abschneiden der CDU insgesamt, zweitens, dass | |
vom Bruch nur so wenige Personenstimmen erhielt. Und drittens: dass ihn | |
überhaupt Leute gewählt haben. | |
Vom Bruch wusste davon nach CDU-Angaben nichts, bis ihn die taz die | |
Diagnose auf den Anrufbeantworter sprach. Reagieren könne man darauf aber | |
erst, wenn man die zugrunde liegenden Berechnungen kenne, hieß es aus dem | |
Haus am Wall. Die aber hatte, in Abwesenheit von CDU-VertreterInnen, am | |
Freitagmittag in der Bürgerschaft [1][Valentin Schröder] vorgestellt: „Vom | |
Bruch hat nicht nur zu wenig, sondern gleichzeitig zu viel Stimmen | |
bekommen“, erklärte der Wirtschaftswissenschaftler, der an der Uni zu | |
Parteienproporz forscht. Egal ob die Personen, die für ihn stimmten, | |
stattdessen die CDU, eine andere Partei oder gar nicht gewählt hätten - „er | |
hätte ein Mandat erhalten“. Sprich: Die rund 300 Leute, die Dr. Thomas vom | |
Bruch angekreuzt haben, haben ihn aus der Bürgerschaft gevotet. Derartiges | |
bringe „die Demokratie ins Trudeln“, so Schröder. Poltikwissenschaftler | |
[2][Lothar Probst], mit dem er die Wahl untersucht hat, resümierte: „Wir | |
halten das Wahlsystem in seiner jetzigen Form deshalb für | |
verfassungswidrig.“ Entscheiden könne das aber nur der Staatsgerichtshof. | |
Das habe der doch, wandte Grünen-Nestor Hermann Kuhn ein. Schon 2010 habe | |
Bremens höchstes Gericht die Verfassungsmäßigkeit des komplexeren | |
Wahlrechts bestätigt, und dabei genau auch diese Fragen erörtert: „Das ist | |
keine neue Debatte“, so Kuhn. Allerdings hält das damalige Urteil zwar | |
fest, dass auch in einem Wahlsystem, das Personen- und Listenstimmrecht | |
kombiniert, die Wählenden keinen Anspruch darauf haben, dass sich exakt die | |
von ihnen beabsichtigte Wirkung entfalte - „einen willkürlichen oder nicht | |
erkennbaren Effekt darf die Stimmabgabe aber nicht haben“ schränkt das | |
Urteil jedoch ein. Und der, den Probst und Schröder nachweisen, dürfte das | |
Kriterium erfüllen. Er tritt zudem fast zwangsläufig ein: Auch bei den | |
Beiratswahlen 2011 hat es laut Probst drei oder vier einschlägige Fälle | |
gegeben. | |
„Das ist ein Mangel“, räumte denn auch Tim Weber, Landesgeschäftsführer … | |
[3][Vereins Mehr Demokratie], ein, der die Wahlrechtsreform seinerzeit | |
angestoßen hatte. „Er wäre allerdings ausgeschlossen, wenn man, wie wir | |
zunächst vorgeschlagen hatten, ganz auf Listen verzichten würde - zugunsten | |
eines reinen Personenwahlrechts.“ Eine Idee, vor der den Parteien schon | |
damals gruselte. | |
Auch aktuell klagen sie darüber, dass ihre Wahlvorschläge | |
durcheinandergebracht werden, chaotisiert oder „zerschossen“, wie sich | |
Probst durchaus mitfühlend ausdrückt: „Wir haben nun mal eine | |
Parteiendemokratie“, gibt er zu bedenken. „In der sind Parteien das | |
zentrale Element politischer Willensbildung.“ | |
Folgerichtig beinhalten seine und Schröders Heilungsvorschläge eine | |
neuerliche Stärkung der Parteien. Neben einer Rückkehr zum reinen | |
Listenwahlrecht halten sie für denkbar, das aktuelle Wahlrecht mit einer | |
„iterativen Mandatszuteilung“ zu versehen - also zu prüfen, ob beim ersten | |
erfolglosen Listenkandidaten das Vom-Bruch-Phänomen auftritt - und | |
gegebenenfalls die persönlichen zu Parteivoten umzudeuten. Auch denkbar sei | |
es, die Personen- vor den Listenmandaten zu vergeben - und nur an | |
BewerberInnen, die die „natürliche Mandatshürde“ gemeistert haben. Am 10. | |
Mai gelang das Jens Böhrnsen, Karoline Linnert, Elisabeth Motschmann, | |
Lencke Steiner und sonst niemand. Dieser Vergabemodus würde nur den | |
Listenwahlvorschlag stärken, hatte auch seinerzeit der Staatsgerichtshof | |
geurteilt, während doch die Gesetzesinitiative von Mehr Demokratie das | |
Gegenteil wollte. „Über Reformvorschläge reden wir gerne“, so Weber daher | |
auf Nachfrage, „aber wenns zurück zur reinen Parteienherrschaft geht, | |
werden wir uns wehren.“ | |
taz Salon am 9. 6. in Bremen: „Viele Kreuze - wenig Wähler. Die Bremer | |
Bürgerschaftswahl und die Zukunft der Demokratie“, Lagerhaus, Schildstraße | |
12, 28203 Bremen, 19 Uhr | |
29 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.zes.uni-bremen.de/das-zentrum/organisation/mitglieder/valentin-s… | |
[2] http://www.lotharprobst.de/ | |
[3] http://bremen-nds.mehr-demokratie.de/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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