# taz.de -- Interview mit Christina Tillmann: „Bremen sticht heraus“ | |
> Sozial nicht repräsentativ war die Bürgerschaftswahl laut | |
> Bertelsmann-Stiftung: Christina Tillmann erklärt, warum | |
> Wahlrechtsreformen allein da nicht helfen. | |
Bild: Wahlkampf? Wahlkrampf? Die WählerInnen jedenfalls bleiben zunehmend aus. | |
taz: Frau Tillmann, die Studie zur Bremer Wahl ist die vierte einer Reihe | |
von Untersuchungen zur sinkenden Wahlbeteiligung: Warum haben Sie 2013 | |
begonnen, die zu beobachten? | |
Christina Tillmann: Vor der Bundestagswahl 2013 hatte es eine ganze Reihe | |
von Statements Prominenter gegeben, die offensiv ihre Wahlenthaltung | |
begründet haben: Das reichte vom Schauspieler Moritz Bleibtreu bis zum | |
Philosophen Peter Sloterdijk … | |
… ich erinnere mich an den Soziologen [1][Harald Welzer] … | |
Die Debatte hat damals in den Medien sehr großen Raum eingenommen. Für uns | |
ergab sich daraus die Frage: Sind das wirklich die typischen | |
NichtwählerInnen? Denn erst, wenn man weiß wer die Nichtwähler sind und | |
warum sie nicht mehr wählen, kann man sich Gedanken machen, ob und welche | |
Hebel es gibt, Menschen wieder für die Stimmabgabe zu motivieren. | |
Aber das sind nicht die typischen NichtwählerInnen? | |
Nein, das Profil trifft auf die allermeisten NichtwählerInnen nicht zu. | |
Unsere Analysen setzen die Wahlbeteiligung eines Ortsteils in Bezug zu | |
[2][sozialen Indikatoren], wie z.B. Arbeitslosenquote und Bildungsniveau. | |
Durchweg zeigt sich dabei sehr deutlich: Je prekärer die Lebensverhältnisse | |
in einem Ortsteil, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung. Die | |
Wahlbeteiligung sinkt also nicht gleichmäßig über alle Schichten der | |
Gesellschaft, sondern ist sozial gespalten: Es sind vor allem die sozial | |
benachteiligten Milieus, die sich zunehmend aus der demokratischen Teilhabe | |
verabschieden. | |
Der Befund hat sich in Bremen auch bestätigt? | |
[3][Bremen sticht heraus] - weil sich das Bild dort zuspitzt: Die | |
Wahlbeteiligung war extrem niedrig, der Unterschied zwischen den Ortsteilen | |
mit niedriger und hoher Beteiligung ist mit 35 Prozentpunkten hoch und | |
weist auf eine deutliche soziale Spaltung hin. Zugleich war der Anteil der | |
ungültigen Stimmen erhöht - und auch hier wieder besonders in den sozial | |
benachteiligten, bildungsferneren Ortsteilen … | |
Der Anteil lag bei etwas über drei Prozent? | |
Ja, das ist dreimal so hoch, wie im Durchschnitt bei der Bundestagswahl, | |
vergleichbar mit Hamburg, das ein ähnlich komplexes Wahlrecht hat … | |
… dabei ist das bisschen Kumulieren und Panaschieren doch harmlos | |
verglichen mit dem, was es anderswo auf kommunaler Ebene gibt? | |
Das stimmt, in Baden-Württemberg kann man teilweise über 40 Kreuzchen auf | |
die Wahlvorschläge verteilen. | |
Die Idee des neuen Wahlrechts war ja auch eine Reaktion auf die Kritik, | |
dass die Repräsentation durch ein Kreuzchen an einer Liste nicht | |
ausreichend, nicht mehr zeitgemäß sei. Hat man da in genau die falsche | |
Richtung reformiert? | |
Das kann man so nicht sagen: Was sich feststellen lässt, ist, dass das neue | |
Wahlrecht bis jetzt nicht dazu beiträgt, die soziale Selektivität zu | |
verringern, sondern sie eher verschärft. | |
Aber es hat sie nicht verursacht: Wäre eine neue Reform des Wahlrechts dann | |
die richtige Antwort - oder verdeckt die Diskussion darum nur die | |
wirklichen Probleme? | |
Um die Wahlbeteiligung nachhaltig zu steigern, braucht es sicher ein Bündel | |
an Maßnahmen,, die die unterschiedlichen Nichtwählertypen wieder für eine | |
Stimmabgabe bei der Wahl motivieren. Änderungen im Wahlrecht oder Kampagnen | |
in NichtwählerInnenhochburgen sind Optionen, die zurzeit öffentlich und | |
politisch diskutiert werden. | |
Wobei in Bremen ja der Zorn groß war, als der Landeswahlleiter die | |
Wahlunterlagen in leichter Sprache vorgestellt hat, als eine Maßnahme, um | |
die Teilnahme bildungsfernen WählerInnen zu erleichtern: Hat wirklich | |
niemand ein Interesse daran? | |
Alle etablierten Parteien leiden unter der niedrigen Wahlbeteiligung und | |
erreichen in den Nichtwählerhochburgen deutlich weniger WählerInnen als im | |
Landesschnitt. Das zeigt: Die Verankerung der Parteien in diesen Ortsteilen | |
erodiert. Einzige Ausnahme sind die Bürger in Wut, auf allerdings sehr | |
niedrigem Niveau. | |
Die Frage bleibt: Wie das Nichtwählen deuten, ohne die AbstinentInnen zu | |
entmündigen, indem man ihnen Absichten unterstellt, die man dann verstanden | |
zu haben behauptet … | |
Wenn Bundestagspräsident Lammert die Nichtwählenden als „die bräsig | |
Zufriedenen“ bezeichnet, mag das für einen geringen Teil der | |
NichtwählerInnen zutreffen. Aber der typische NichtwählerIn ist damit nicht | |
erfasst. | |
Allerdings hat ja gerade Bremen viele Maßnahmen längst ergriffen, von denen | |
man sich erhofft, dass sie aktivieren, angefangen von der Erleichterung | |
direktdemokratischer Prozesse - macht das nicht etwas ratlos? | |
Manche Maßnahmen brauchen Zeit zur Entfaltung, weil es ein Lernprozess ist, | |
zu bemerken, dass man etwas ausrichten kann, wenn man sich beteiligt - sei | |
es bei Wahlen, bei Bürgerentscheiden oder in Dialogverfahren mit der | |
Politik. | |
taz Salon am 9. 6.: Viele Kreuze - wenig Wähler, Bremens Wahl und die | |
Zukunft der Demokratie, Lagerhaus, 19 Uhr. | |
27 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.bpb.de/apuz/180362/warum-ich-dieses-mal-waehlen-gehe?p=all | |
[2] http://www.statistik-bremen.de/Tabellen/Wahlen/WahlatlasBuergerschaft2015_S… | |
[3] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/prekae… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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