| # taz.de -- Verschärfte Asylpolitik: Eine Show an der Grenze | |
| > Die Union will ihre Wahlkampfversprechen wahr machen und Asylsuchende in | |
| > großem Stil zurückweisen. Rechtsbrüche sind eingepreist. | |
| Bild: Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze im Kreis Vorpommern-Greifswald | |
| Berlin taz | So sieht also die sogenannte Asylwende aus. In der Woche nach | |
| dem Amtsantritt von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) baten 51 Flüchtlinge | |
| [1][an der deutschen Grenze] um Asyl, 31 von ihnen wurden zurückgewiesen. | |
| In der Woche davor waren 44 Asylsuchende an die Grenze gekommen, damals | |
| durften alle einreisen. Die Aufnahme von Asylsuchenden wurde also deutlich | |
| gesenkt – aber auf extrem niedrigem Niveau. Zur Erinnerung: Im Jahr 2015, | |
| als die Diskussion über eine Zurückweisung an der Grenze begann, kamen | |
| 890.000 Asylsuchende nach Deutschland. | |
| Aber Merz hat geliefert. Er versprach im Wahlkampf, es werde an seinem | |
| ersten Tag im Amt Zurückweisungen von Asylsuchenden geben. Und so hat es | |
| vor einer Woche nun auch der neue Bundesinnenminister Alexander Dobrindt | |
| (CSU) angeordnet. Nur besonders vulnerable Asylsuchende – insbesondere | |
| Frauen und Kinder – dürfen noch einreisen. | |
| [2][Diese Zurückweisungen sind vor allem Show], nicht nur wegen der | |
| niedrigen Zahlen. Denn wer als Flüchtling ins Nachbarland, etwa nach | |
| Österreich, zurückgewiesen wird, probiert es bald erneut, insbesondere an | |
| den kaum bewachten grünen Grenzen. Auf die Frage, wie viele Zurückgewiesene | |
| später doch noch nach Deutschland einreisen und Asyl beantragen, geben | |
| Innenministerium und Bundespolizei seit Tagen keine Auskunft. Das spricht | |
| für sich. | |
| ## Experten einig, dass gegen EU-Recht verstoßen wird | |
| Aus dem gleichen Grund ist es auch schwierig, zurückgewiesene Flüchtlinge | |
| zu finden, die gegen die Verweigerung der Einreise klagen wollen. Warum | |
| soll jemand in Polen oder Österreich auf eine deutsche Gerichtsentscheidung | |
| warten, wenn er auch über die grüne Grenze einreisen kann? Kläger kann wohl | |
| nur jemand sein, dem dieser Weg zu beschwerlich ist, etwa eine Person mit | |
| Fußverletzung. | |
| Inzwischen hat Pro Asyl tatsächlich einen Kläger gefunden: „Es gibt bereits | |
| ein Eilverfahren, das wir unterstützen“, sagte ein Sprecher der | |
| Organisation der taz. Näheres zur Person und zur Klage werde man aber erst | |
| mitteilen, wenn der Kläger sicher in Deutschland sei. Das kann noch einige | |
| Wochen dauern. Die Eilverfahren an deutschen Verwaltungsgerichten sind | |
| schwerfällig. | |
| Grüne, Linke und [3][viele Asylexperten] sind sich einig, dass die | |
| Zurückweisungen gegen EU-Recht verstoßen. Dobrindt und Merz halten die | |
| Maßnahmen jedoch für rechtlich unbedenklich. Die neue SPD-Justizministerin | |
| Stefanie Hubig wartet erst einmal ab. Da hier kein Gesetz geändert werden | |
| muss, hat sie keinen Hebel für ein Veto. | |
| Juristisch beruft sich Innenminister Dobrindt auf Paragraf 18 des deutschen | |
| Asylgesetzes, der Zurückweisungen bei der Einreise aus einem sicheren | |
| Drittstaat ausdrücklich vorsieht. | |
| ## Bizarrer Streit um Rechtsauslegung | |
| Diese deutsche Norm wird allerdings schon lange durch EU-Recht überlagert, | |
| das Vorrang hat. In der Dublin-III-Verordnung ist geregelt, welcher Staat | |
| für Asylverfahren in der EU zuständig ist. Meist ist es der Staat in der | |
| Europäischen Union, den der Flüchtling zuerst betreten hat. Um den | |
| zuständigen EU-Staat herauszufinden, dürfen Flüchtlinge erst einmal nach | |
| Deutschland einreisen. Oft scheitert später jedoch die Überstellung an den | |
| zuständigen Staat. Dann findet das Asylverfahren in Deutschland statt. | |
| Nach Auffassung Dobrindts kann er jedoch auf diese EU-rechtlich vorgesehene | |
| Zuständigkeitsfeststellung verzichten, wenn er sich auf Artikel 72 des | |
| EU-Rechts beruft. Nach dieser Klausel kann von EU-Recht abgewichen werden, | |
| sofern es die öffentliche Sicherheit erfordert. | |
| Genau über diese Anwendung von Artikel 72 gab es im Vorfeld einen bizarren | |
| Streit zwischen konservativen Medien wie der Welt und der Bundesregierung. | |
| So schrieb der Vizechefredakteur der Welt, Robin Alexander, einen Text mit | |
| dem Titel [4][„Merz lässt ‚nationale Notlage‘ bei Migration ausrufen“]. | |
| Kanzler Merz ließ das sofort dementieren: „Der Bundeskanzler wird keinen | |
| nationalen Notstand ausrufen.“ | |
| Recht hatten allerdings beide. Artikel 72 wird gemeinhin „Notlagenklausel“ | |
| genannt, auch wenn das Wort Notlage in der Norm gar nicht vorkommt. | |
| Allerdings muss eine solche Notlage nicht „ausgerufen“, sondern nur einfach | |
| vor Gericht nachgewiesen werden. Weil diesen feinen semantischen | |
| Unterschied aber kaum jemand verstand, wirkte die Regierung plötzlich | |
| ziemlich konfus. | |
| ## Wartet Dobrindt auf Intervention der Gerichte? | |
| Viel wichtiger ist aber die Frage, ob die Berufung auf Artikel 72 denn | |
| tatsächlich trägt. Das letzte Wort hat hier der Europäische Gerichtshof | |
| (EuGH) in Luxemburg. Bisher hat er alle Versuche, sich auf die | |
| „Notlagenklausel“ zu berufen, abgelehnt. Insbesondere Ungarn hatte dies im | |
| Asylrecht bereits mehrfach versucht. | |
| Angesichts der aktuell nur noch geringen Asylzugangszahlen ist ein | |
| deutscher Erfolg beim EuGH so gut wie ausgeschlossen. Vielleicht wartet | |
| Dobrindt auch schon klammheimlich darauf, dass die Gerichte endlich | |
| intervenieren. Denn für die Bundespolizist:innen ist Dobrindts | |
| Grenzshow ein aufwendiges Manöver. Zusätzlich zu den 11.000 bereits an den | |
| deutschen Grenzen eingesetzten Beamt:innen kamen noch einmal 3.000 | |
| Polizist:innen hinzu. Gearbeitet wird nun in Zwölfstundenschichten. | |
| Auch die außenpolitische Belastung ist größer als gedacht. Die | |
| Nachbarstaaten folgten nämlich nicht dem deutschen Beispiel, wie manche in | |
| der Union erwarteten, sondern protestierten dagegen, insbesondere Polen | |
| und Österreich. Das beunruhigt auch die SPD, die ja im Koalitionsvertrag | |
| darauf bestanden hatte, dass die Zurückweisungen nur „in Abstimmung mit | |
| unseren europäischen Nachbarn“ erfolgen. Zwar ist keine Zustimmung der | |
| Nachbarn erforderlich, aber dass man Proteste einfach ignoriert, dürfte | |
| auch nicht gemeint gewesen sein. | |
| Was Merz im Eifer des Wahlkampfs wohl übersehen hat: Am ersten Tag seiner | |
| Amtszeit kann er nicht nur Spektakel für die Wählerschaft veranstalten, | |
| sondern repräsentiert Deutschland auf europäischer Bühne. Es war wenig | |
| hilfreich, dass Berlin als erste Amtshandlung erklärt, man wolle sich nicht | |
| mehr an EU-Recht halten. | |
| 16 May 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Deutsch-polnische-Grenze/!6083325 | |
| [2] /Schwarz-rote-Asylwende/!6084847 | |
| [3] /Appell-an-neue-Bundesregierung/!6086502 | |
| [4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article256088982/Friedrich-Merz-ruf… | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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