# taz.de -- Streit um Renaturierung: Kann die EU ihre Natur heilen? | |
> Europas Wälder, Flüsse und Parks müssen sich erholen. Ob es konkrete | |
> Ziele und Maßnahmen geben wird, liegt nun an Rat und Kommission. | |
Bild: Auch Bienen würden vom neuen Gesetz profitieren | |
1 Wieso ist es für die Natur in Europa wichtig, dass sie ein eigenes | |
„Wiederherstellungsgesetz“ bekommt? | |
Weil sie stark geschädigt ist. Die Populationen von über der Hälfte aller | |
Vogelarten in der EU sind in einem schlechten, unzureichenden oder | |
unbekannten Zustand. [1][Die Tendenz ist laut einem Bericht der | |
EU-Kommission von 2020] negativ, immer mehr Vogelarten sind betroffen. Nur | |
15 Prozent der Lebensräume in der EU befinden sich in einem guten | |
Erhaltungszustand; gut geht es vor allem „felsigen Lebensräumen“, besonders | |
schlecht geht es Mooren und Lebensräumen an Küsten. Zwar ist die Landes- | |
und Seefläche der EU mit Schutzgebieten überzogen, aber häufig schützen sie | |
Pflanzen, Tiere, Böden und Gewässer nicht richtig. Beispiel Deutschland: | |
9,3 Prozent der Landesfläche sind über Naturschutzgebiete nach der | |
europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) geschützt. Doch gut zwei | |
Drittel dieser Lebensräume sind in einem ungünstigen oder schlechten | |
Zustand, auf Grünland sind es sogar 90 Prozent. | |
2 Wenn die Naturschutzgesetze bisher wenig nützen – was brächte dann die | |
neue Verordnung? | |
Der Vorschlag der Kommission für die Verordnung sieht vor, dass die | |
Mitgliedstaaten konkrete Wiederherstellungspläne für Ökosysteme in Meeren, | |
Agrarlandschaften, Städten, Flüssen, Wäldern und für die Population von | |
Bestäuberinsekten vorlegen, aus denen ihre Ziele und Maßnahmen | |
hervorgehen. Das wäre neu. Außerdem sind Indikatoren vorgesehen, zum | |
Beispiel die Zahl von Schmetterlingen auf Grünland oder die im Ackerboden | |
gespeicherte Menge an organischem Kohlenstoff, über die die Mitgliedstaaten | |
berichten müssten. Auch das wäre neu. | |
Allerdings: „Das Parlament hat in seiner Entscheidung am vergangenen | |
Mittwoch genau diese konkreten Vorgaben herausgestrichen“, kritisiert der | |
Biologe Guy Pe’er, der am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig | |
und am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Jena | |
arbeitet. Bislang vertrat das EU-Parlament in den sogenannten | |
Trilog-Verhandlungen mit EU-Kommission und Rat über Umweltthemen in der | |
Regel progressive Positionen. | |
Das ist diesmal anders. In der Parlamentsversion fehlt nun unter anderem | |
Artikel 9, der die Wiederherstellung von Agrarökosystemen vorsieht. „Das | |
wäre katastrophal“, sagt Raphael Weyland vom Brüsseler Nabu-Büro, „damit | |
würden verbindliche Vorgaben zum Bodenschutz, zum Anlegen von | |
Streuobstwiesen und Hecken oder zur Wiedervernässsung von Mooren und | |
Feuchtgebieten wegfallen.“ Sowohl Weyland als auch Pe’er halten es bei | |
aller Kritik allerdings für eine sehr gute Nachricht, dass die Verordnung | |
vom Parlament angenommen wurde und nun mit dem Trilog begonnen werden kann. | |
Auf dessen Ergebnis komme es jetzt an. | |
3 Wenn sich die Kommission durchsetzt, ist dann die Ernährungssicherheit in | |
Europa gefährdet? | |
Experten sehen als Haupttreiber von Knappheiten auf dem globalen | |
Lebensmittelmarkt nicht den Naturschutz. Sebastian Lakner, Agrarökonom der | |
Uni Rostock, nennt vor allem den Hunger nach Fleisch in den | |
Industrienationen und den Anbau von Biokraftstoffen als Ursachen. Für die | |
Fleischproduktion werden große Mengen Soja importiert sowie Mais und | |
Futtergetreide in der EU angebaut. Die Vereinten Nationen führen in ihrem | |
aktuellen Welternährungsbericht folgende Gründe für die rund 735 Millionen | |
hungernden Menschen auf: die Pandemie, Extremwetter und Folgen der | |
Klimakrise sowie bewaffnete Konflikte einschließlich des russischen Kriegs | |
gegen die Ukraine. Übermäßigen Naturschutz in Europa führen die UN nicht | |
an. | |
4 Welche Rolle spielt die Stadtnatur in der Verordnung? | |
Weil über die Hälfte der Menschheit inzwischen in Städten lebt, nimmt die | |
EU-Kommission auch urbane Ökosysteme ins Visier. Bis 2040 sollen die | |
Grünflächen in den Städten wachsen, bis 2030 immerhin nicht weiter | |
abnehmen. „Die Natur übernimmt in Städten verschiedene Funktionen“, sagt | |
Guy Pe’er, „sie bietet Erholung, kühlt, reinigt Wasser und Luft und bietet | |
Lebensräume für Pflanzen und Tiere.“ Studien zeigten: „Wo es Bäume gibt, | |
brauchen die Menschen weniger Antidepressiva“, so der Biologe. | |
Normalerweise hätten sozialökonomisch benachteiligte Gruppen weniger Zugang | |
zur Natur, und in Stadtteile mit ärmerer Bevölkerung werde häufig weniger | |
investiert. Für sie sei dieser Teil des Gesetzes besonders wichtig. | |
5 Warum ist der Waldbesitzerverband gegen das Gesetz? | |
Der Verband AGDW – Die Waldeigentümer e. V. hat die Zustimmung der | |
EU-Parlamentarier im Anschluss heftig kritisiert: „Das Parlament hätte den | |
Gesetzentwurf in dieser Form nicht billigen dürfen“, sagte AGDW-Präsident | |
Andreas Bitter. Ganz im Sinne der konservativen Kritiker sieht er in dem | |
Vorschlag der Kommission den Ansatz „Zurück zur guten alten Zeit“ – und … | |
sei falsch. Die Umweltlobby wolle die Zeit zurückdrehen und die Natur im | |
Zustand von vor 50 oder 100 Jahren wiederherstellen. | |
Doch das funktioniere nicht, da sich die Umweltbedingungen allein in den | |
vergangenen beiden Jahrzehnten stark verändert hätten. Beim Wald komme | |
hinzu: Die Verordnung lege als eine quasi vorbildliche, wieder zu | |
erreichende „Referenz“ die Zeit vor 70 Jahren fest. Für den Wald | |
hierzulande sei dies völlig ungeeignet, da Deutschland wegen des Zweiten | |
Weltkriegs vor 70 Jahren weniger bewaldet war als heute. | |
Allerdings hat etwa das Bundesamt für Naturschutz in einem Faktencheck zur | |
Verordnung klargestellt: Die Referenzzeiträume für einen guten Zustand von | |
Lebensräumen können durch die Mitgliedstaaten flexibel festgelegt werden. | |
Die Orientierung am Zustand vor 70 Jahren ist nicht verpflichtend. Die | |
Verordnung fordert nicht, Wälder in einen Zustand von vor 70 Jahren zu | |
versetzen – Hauptsache, sie erfüllen wieder ihre Aufgabe als | |
Kohlenstoffspeicher und intakter, gesunder Lebensraum. | |
6 Das Nature Restoration Law ist ein wichtiger Teil des European Green | |
Deal. Wie geht es jetzt mit dem Paket weiter? | |
Bis 2050 soll Europa klimaneutral und das Artensterben gestoppt sein. | |
Regeln für Kraftstoffe in der Seeschifffahrt oder der Ausbau der | |
Ladeinfrastruktur für E-Autos sollen Emissionen verringern; die Verordnung | |
zur Wiederherstellung der Natur soll Böden, Wälder und Meere in die Lage | |
versetzen, CO2 zu speichern. Als Nächstes stehen auf der Brüsseler Agenda | |
Gesetzesvorhaben zur Bodengesundheit und zur Energieeffizienz von Gebäuden. | |
14 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX%3A52020DC0635… | |
## AUTOREN | |
Heike Holdinghausen | |
## TAGS | |
Renaturierung | |
EU-Kommission | |
Ernährung | |
Umweltschutz | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Artenschutz | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Artensterben | |
Waldschäden | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Zukunft | |
Wohnungsbau | |
Renaturierung | |
Europaparlament | |
Moor | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Hochwasserschutz in Deutschland: Die Flut aussperren | |
Durch den Klimawandel nimmt Extremwetter zu, die Sorge vor dem nächsten | |
Hochwasser ist groß. Doch es gibt Ideen, wie wir uns künftig schützen | |
können. | |
Gesetz zur Wiederherstellung der Natur: Brüssels leere Versprechungen | |
Das Gesetz war praktisch beschlossen und steht doch wieder auf der Kippe. | |
Fest steht: Auf dem Weg zum Green Deal ist die Renaturierung alternativlos. | |
EU-Einigung bei Land- und Meeresschutz: Mehr Natur wagen | |
EU-Verhandler vereinbaren, die Natur bis 2030 auf 20 Prozent der Fläche | |
wiederherzustellen. Umweltschützer loben das, kritisieren aber Ausnahmen. | |
Neue Studie zum Artensterben: Ohne Moos nix los | |
Eine neue Studie schlägt Alarm: Mehr als doppelt so viele Tier- und | |
Pflanzenarten als bekannt sind bedroht, unter anderem wichtige Moose. | |
Waldumbau in Deutschland: Auf dem Holzweg | |
In Jena stirbt gerade ein Stück Wald, das besonders ökologisch | |
bewirtschaftet wurde. Muss der Waldumbau neu gedacht werden? | |
Der Wert von Streuobstwiesen: Wer holt die Äpfel runter? | |
Eigentlich würde Bruno Reuer seine Streuobstwiese gern loswerden. Er findet | |
nur keinen Käufer. Streuobstwiesen lohnen sich nicht. | |
Die egalitäre Kraft der Stadtnatur: Freiheit, Gleichheit, Löwenzahn | |
Ein neues EU-Gesetz könnte verbieten, dass mehr Flächen in Städten | |
zubetoniert werden. Denn urbanes Grün ist kein Bullerbü-Projekt. Es rettet | |
Leben. | |
Naturschutz oder Wohnungsbau: Die Moorlinsen sind in Bedrängnis | |
In Berlin gibt es noch zwei intakte Moore in Buch. Ein Rahmenplan des | |
Senats sieht vor, direkt daneben 2.700 Wohnungen zu bauen. | |
Schutz der Natur in Europa: Noch einmal davon gekommen | |
Es wird oft Unsinn verzapft, wenn die Rede auf die Renaturierung kommt. Im | |
Kampf um das Für und Wider sind die Kräfte recht gleichmäßig verteilt. | |
Abstimmung im EU-Parlament: Knappe Mehrheit für Naturschutz | |
Sehr knapp geht die Abstimmung für das viel diskutierte | |
Renaturierungsgesetz aus. Änderungsanträge sorgten noch für Verwirrung. | |
Biologin über Renaturierung: „Gefährden nicht die Versorgung“ | |
Für die Trockenlegung von Mooren gab es gute Gründe, sagt Ökologin | |
Franziska Tanneberger. Sie erklärt, warum eine Vernässung trotzdem richtig | |
ist. |